Hamburg. Konzernchef Alexander Birken über technische Innovationen, Wachstumsziele und eine mögliche Kooperation mit der Deutschen Post.

Es ist sein erstes großes Interview als neuer Chef der Otto Group. Alexander Birken (52) gibt sich während des Gesprächs mit dem Abendblatt entspannt und kämpferisch zugleich. Die Botschaft an die eigenen Beschäftigten und die Konkurrenz ist eindeutig: Der Konzern soll kräftig wachsen und sich dabei immer wieder neu erfinden. Kooperationen mit bisherigen Wettbewerbern und Geld von Finanzinvestoren sind für diesen Weg durchaus erwünscht. Und das Silicon Valley spielt bei den ehrgeizigen Plänen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Herr Birken, Sie sind nun seit gut 100 Tagen Chef der Otto Gruppe mit rund 50.000 Mitarbeitern. Allerdings arbeiten Sie für den Konzern bereits mehr als 25 Jahre. Was hat sich seit dem 1. Januar 2017 für Sie verändert?

Alexander Birken: Ich bin selbst darüber erstaunt, wie viel sich verändert hat. Die Aufgabenstellungen für mich als Otto-Group-Chef sind völlig andere geworden. Das fühlt sich deutlich anders, aber sehr, sehr gut an.

Was heißt das konkret?

Mein Arbeitsweg, mein Büro und auch meine Assistentin sind geblieben. Aber heute beschäftige ich mich sehr viel mehr als früher mit übergeordneten, strategischen Fragen: Wofür steht die Otto Gruppe in den Märkten? Was ist unsere langfristige Perspektive? Was müssen wir tun, um die Otto Gruppe in eine weiterhin gute Zukunft zu führen?

Hat sich das Verhältnis zum Eigentümer Michael Otto verändert?

Unser Verhältnis ist schon seit vielen Jahren sehr vertrauensvoll. Aber selbstverständlich habe ich jetzt noch mehr mit ihm zu tun. Wir haben feste monat­liche Treffen, sehen uns aber auch zwischendurch. Wir tauschen uns intensiv und offen aus. Michael Otto kennt das Geschäft exzellent, ist ein guter Zuhörer und Sparringspartner. Das ist für mich äußerst wertvoll.

Wie ist der Kontakt zu Michael Ottos Sohn Benjamin, der auch im Aufsichtsrat sitzt und als sogenannter gestaltender Gesellschafter im Konzern agiert?

Auch hier ist das Verhältnis intensiv. Mit Benjamin bespreche ich vor allem digitale Themen, die für unsere Gruppe immens wichtig sind. Das findet auf eine ausgesprochen kooperative und befruchtende Art und Weise statt:

Was passiert, wenn Sie mal nicht einer Meinung sind?

Dann streiten wir uns.

Und am Ende entscheiden dann Michael oder Benjamin Otto?

Wir diskutieren und streiten sachlich und stets auf Augenhöhe. Der Konzernvorstand ist ja von den Gesellschaftern berufen, um für das strategische und operative Geschäft verantwortlich zu sein. Lediglich bei sehr grundsätzlichen Entscheidungen haben die Eigentümer das letzte Wort.

Sie haben vor wenigen Monaten gesagt: Kulturwandel bedeutet Revolution, nämlich gewohnte Verhaltensmuster zu stören und im Zweifelsfall zu zerstören, um Raum für Neues zu schaffen. Müssen sich die Beschäftigten auf radikale Veränderungen mit ihrem neuen Chef einstellen?

Ich verwende persönlich ungern den Begriff radikal. Aber Fakt ist: Veränderungen werden künftig immer mehr zur Normalität. Technologische Prozesse sind in unserer Branche in einem ständigen Wandel, der Wettbewerb wird vielfältiger und härter. Wir müssen im Konzern ständig offen für Neues sein. Unsere Mitarbeiter müssen Chancen erkennen und Wandel zulassen. Wo allerdings noch beharrlich an Altem festgehalten wird, müssen wir diese Denkweise bekämpfen. Und in diesem Punkt bin ich sehr konsequent.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Geschäftsjahr 2016/17?

Ich bin außerordentlich zufrieden. Wir haben es geschafft, alle unsere Planziele mit Blick auf Umsatz und Gewinn zu erreichen. Wir sind auf vergleichbarer Basis beim Umsatz um fünf Prozent gewachsen. Im Onlinehandel haben wir sogar einen Sprung um zehn Prozent auf rund sieben Milliarden Euro gemacht. Auch bei den wichtigen Gewinnkenn­ziffern konnten wir deutlich zulegen. Diese Zahlen sind für uns eine exzellente Basis für das Wachstum in den nächsten Jahren. Denn wir wollen bis 2022 den Umsatz der Gruppe von heute 12,5 Milliarden auf 17 Milliarden Euro steigern.

Wie soll das funktionieren?

Wir konzentrieren uns auf zukunftsträchtige Geschäftsmodelle im digitalisierten Handel und setzen auf fokussiertes Wachstum ausgewählter Konzerngesellschaften. So werden wir die Einzelgesellschaft Otto zu einer Plattform auch für andere Händler und Marken ausbauen. Wir wollen die Anzahl unserer vertriebenen Artikel von derzeit 2,1 Millionen in den nächsten Jahren vervielfachen. Zudem investieren wir kräftig in das Wachstum unserer starken Marken wie Witt und Bonprix oder unserer Servicegesellschaften wie Hermes oder EOS. Und wir werden uns noch stärker nach außen öffnen und mit Partnern intensiv zusammenarbeiten. Wir können uns in diesem Zusammenhang auch gut vorstellen, dass strategische oder Finanzinvestoren bei uns einsteigen.

Finanzinvestoren sollen Anteile an der Otto Gruppe kaufen?

Nein, nicht an der gesamten Otto Gruppe, aber für wachstumsstarke, einzelne Konzerngesellschaften können wir uns das gut vorstellen.

Also zum Beispiel für Ihren Paketdienst Hermes oder den Modeanbieter Bonprix?

Das will ich nicht ausschließen. Es wird aber immer eine Einzelfallentscheidung sein. Bei unserem Mode-Start-up Collins haben wir ja schon strategische Finanzpartner mit im Boot.

Gerade bei Collins mit dem Portal About you steigt der Umsatz rasant. Er hat sich 2016 auf rund 135 Millionen Euro verdoppelt. Was sind Ihre Ziele mit Collins?

Wir möchten aus Collins ein Milliardenunternehmen machen. Und dafür nehmen wir noch mal einen hohen dreistelligen Millionenbetrag für Investitionen in die Hand.

Wann wollen Sie erstmals Gewinn mit Collins erwirtschaften?

Das kann man heute noch nicht sagen. Noch befinden wir uns in einer extremen Wachstumsphase, in der aus unserer Sicht hohe Investitionen Sinn machen. Die Profitabilität steht bei einem Start-up wie Collins nicht im Zentrum des Handelns.

Wie sieht es mit der Rendite für den Konzern aus, was sind Ihre Pläne bis 2022?

Wir wollen 2022 eine ordentliche Rendite erwirtschaften. Es ist allerdings schwierig, eine konkrete Zahl zu nennen. Denn der Gewinn ist immer sehr stark von der wirtschaftlichen Phase, in der wir uns dann befinden, abhängig. Sollten wir gerade dann kräftig investieren müssen, wird die Rendite zwangsläufig etwas geringer ausfallen. Allerdings denke ich schon, dass wir das Ergebnisniveau von heute noch verbessern können.

Würden Sie denn die heutige Rendite als ordentlich bezeichnen?

Wenn man bedenkt, wie stark wir gerade im vergangenen Jahr durch den Verkauf vieler französischer Handelsaktivitäten belastet waren, dann ist das eine sehr, sehr ordentliche Rendite.

Stichwort Frankreich: Eine politische Frage an den Chef eines international tätigen Handelskonzerns: Wie ordnen Sie den Wahlsieg des Europa-Freundes Emmanuel Macron ein?

Ein starkes und offenes Europa ist selbstverständlich gut für ein internationales Handelsunternehmen wie die Otto Gruppe. Mögliche Handelsbarrieren, die mit einer Präsidentin Marine Le Pen gedroht hätten, wären dagegen schlecht für uns gewesen. Deswegen sind wir über den Wahlsieg Macrons sehr erfreut.

Bereiten Ihnen die zunehmenden nationalistischen Tendenzen in Europa Sorgen?

Nationalistische Tendenzen führen oft zu Abschottung und Handelsbarrieren – und das schadet uns als Unternehmen und den Verbrauchern, weil sie höhere Preise zu zahlen haben.

Gibt es denn weltweit ein Land, in dem Sie sich derzeit nicht engagieren würden aufgrund der politischen Lage?

(Lacht) Nordkorea würde uns schon sehr schwerfallen.

Ein großes Thema beim Onlinehandel sind Retouren. Wie entwickeln sich diese?

Große Schwankungen hat es hier über die Jahre nicht gegeben. Die Retourenquoten sind abhängig vom Sortiment und dem Markt, in dem unsere Konzernfirmen tätig sind. Bei junger Mode oder Schuhen kommen wir schnell auf einen Wert von mehr als 50 Prozent.

Retouren sind ja nahezu überall kostenlos für den Kunden, aber ein großer Aufwand für die Unternehmen – wird sich an der Kostenloskultur aus Ihrer Sicht mittelfristig etwas ändern?

Der Aufwand ist ja im Geschäftsmodell eingepreist. Statt Läden und Personal vorzuhalten, gehört es zu einem guten Service, dass der Kunde bei Nichtgefallen seine Ware problem- und kostenlos zurücksenden kann. Wir werden auf jeden Fall nichts daran ändern.

Umweltfreundlich ist dieses Hin- und Zurücksenden von Waren aber nicht gerade …

Der Versandhandel ist jedenfalls ökologischer als die Einkaufsfahrten von Millionen von Kunden in die Innenstädte. Das belegen Studien. Allerdings gebe ich Ihnen recht, dass wir gerade auf der sogenannten letzten Meile zum Kunden umweltfreundlicher werden müssen. Dazu schafft unser Logistikunternehmen Hermes gerade 1500 neue Elektrotransporter an. Zudem testen wir die Zustellung mit Robotern. Und ich könnte mir auch Kooperationen mit anderen Logistikunternehmen vorstellen, damit freie Kapazitäten in Lieferfahrzeugen besser genutzt werden.

Also werden Pakete von Otto künftig womöglich auch von Hermes-Konkurrenten wie der Deutschen Post DHL ausgeliefert?

Wir beschäftigen uns mit diesem Thema auf jeden Fall sehr offen, zumal Hermes wie DHL ja gemeinsam für Kunden wie Amazon ausliefert.

Die Otto Gruppe wird immer aktiver als Kapitalgeber für junge, innovative Unternehmen. Welche Idee steckt dahinter?

Wir haben in weltweit über 130 junge Firmen investiert. Dadurch bekommen wir eine ganz andere Vernetzung mit innovativen, kreativen Start-ups. Das zeigt sich besonders gut an unserem Engagement im Silicon Valley. Die Zusammenarbeit mit den Firmen dort hat einen ganz entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass wir den digitalen Wandel in der Otto Group in den vergangenen Jahren so gut gemeistert haben.

Was machen Sie konkret im Silicon Valley?

Wir haben dort wie auch in Asien und Europa Fonds aufgelegt, über die wir uns an jungen Unternehmen beteiligen.

Wie viel Otto-Geld steckt im Silicon Valley?

Ein höherer dreistelliger Millionen­betrag.

Sind Sie dort persönlich häufig vor Ort?

Schon seit vielen Jahren, mindestens zweimal im Jahr. Meine Kollegen und ich setzen uns im Silicon Valley regelmäßig mit Gründern zusammen und diskutieren deren Geschäftsmodelle. Da sind wirklich sehr viele spannende Firmen dabei. Wir sind vor allem an allen Ideen interessiert, die dazu beitragen, unser Onlinegeschäft technologisch oder im Service besser zu machen. Unser Joint Venture Blue Yonder ist dafür ein gutes Beispiel. Das Unternehmen beschäftigt sich mit Prognostik, sammelt Unmengen von Daten und leitet daraus Handlungsempfehlungen ab. Zum Beispiel: Welche Mengen von welchem Produkt sollen wir bevorraten? Zu welchem Preis sollen wir die Ware anbieten? Welche Retourenquoten werden wir haben? Aber auch die Frage: Welches Produkt könnte Kunde X, der bereits verschiedene Dinge bei uns gekauft hat, noch interessieren? Wissen wir das, können wir unsere Sortimente und Kaufempfehlungen viel zielgerichteter anbieten.

Was ist für Sie die Faszination am Silicon Valley, und warum gibt es so etwas nicht in Deutschland?

Ich treffe dort immer wieder auf Menschen, die chancenorientiert sind, die nach der nächsten großen Idee suchen und sich antreiben lassen von dem Gedanken: Wir können etwas. Dort steht nicht das Denken „Wir haben ein Pro­blem“ im Zentrum des Handelns. Das ist eine deutlich andere Mentalität als in Deutschland. Das liegt an der Einstellung der Menschen dort, aber auch an der extrem hohen Dichte an exzellenten Universitäten und der engen Vernetzung von Wissenschaft, Wirtschaft und Finanzinvestoren. Wir sollten das Silicon Valley nicht eins zu eins kopieren wollen. Unternehmen wie die Otto Gruppe müssen das Wissen und Können im Silicon Valley aber nutzen, um auf ihrem eigenen Weg noch erfolgreicher zu werden.