Hamburg. Die Erkenntnisse der Rechtsmedizin sind kostbar. Deshalb kämpft der Hamburger Institutschef Klaus Püschel gegen den Spardruck.

Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Gutachten und Bücher, auf dem Tisch liegen Utensilien für Alkoholtests. „Da geht es um ein wissenschaftliches Besäufnis“, sagt Prof. Klaus Püschel (65) und lacht. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin will Richtern in einem Praxistest demonstrieren, wie sich übermäßiger Alkoholkonsum auswirken kann. Seinen Humor hat Püschel, einer der bekanntesten und renommiertesten Rechtsmediziner, trotz der täglichen Konfrontation mit dem Thema Tod jedenfalls nicht verloren.

Herr Professor Püschel, am 4. Juni ermittelt wieder der Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boer­ne im Münsteraner Tatort. Schauen Sie sich das an? So von Kollege zu Kollege.

Klaus Püschel: Wenn ich Zeit haben sollte, bestimmt. Ich sehe das ganz gern, obwohl viele Dinge schief oder sogar extrem schief dargestellt werden. Beispielsweise trinkt Prof. Boerne schon mal einen Rotwein im Sektionssaal, der Kommissar kommt zur Obduktion in Zivilkleidung und telefoniert mit seinem Handy neben der Leiche. Das geht gar nicht, der Sektionsraum ist ein infektiöser Bereich. Wir trinken und essen da nichts und tragen selbstverständlich Schutzkleidung. Und natürlich sind wir auch nicht bei Verhören dabei oder stellen Tätern gar ein Bein, wie Boerne das mal gemacht hat.

Ärgert Sie so etwas?

Nein, wirklich aufgeregt habe ich mich nur mal bei einem Tatort mit Lena Odenthal. Nach einem Handgemenge mit einem HIV-infizierten Boxer fürchtete sie den ganzen Film, dass sie sich angesteckt hat. Das Fernsehen hätte stattdessen Aufklärungsarbeit leisten müssen. Zumindest in Hamburg weiß jeder Polizist, dass man in solchen Fällen binnen weniger Stunden eine HIV-Prophylaxe machen muss, dann ist die Gefahr praktisch gebannt.

Boerne und auch andere TV-Rechtsmediziner haben immerhin für die Bekanntheit Ihres Berufsstandes gesorgt.

Das stimmt. Viele Tatort-Zuschauer ahnen jetzt, wie wichtig Rechtsmediziner sind. Allerdings wird im Fernsehen oft suggeriert, dass Rechtsmediziner unendlich viel Zeit für ihre Fälle haben und nebenbei noch ihre Vorliebe für guten Wein und Opern ausleben können. In Wahrheit wurde inzwischen ein Drittel aller deutschen rechtsmedizinischen Institute geschlossen. Uns in Hamburg geht es noch vergleichsweise gut. Wir arbeiten auf einem sehr hohen Niveau, sehen rund 70 Prozent der Hamburger Toten entweder hier oder im Krematorium. Aber bundesweit gesehen bearbeiten zu wenige Kollegen zu viele Fälle mit zu schlechter Technik.

Woran liegt das?

Eine Kollegin von Ihnen hat mal das Buch geschrieben „Tote haben keine Lobby“. Das war überspitzt, aber der Kern stimmt. Viele denken, tot ist tot, da kann man doch eh nichts mehr machen. Dabei können wir von den Toten für die Lebenden ganz viel lernen. Tote sagen uns die Wahrheit. Unsere Arbeit ist eine ganz wichtige Methode der Qualitätssicherung in der Medizin, die leider immer weniger genutzt wird.

Wie meinen Sie das konkret?

Nehmen Sie in der Altenpflege das Thema Vernachlässigung. Vor zwanzig Jahren haben wir viele Fälle von schlimmen Durchliegestellen bei der Leichenschau im Krematorium gesehen …

Es gab den sogenannten Hamburger Dekubitus-Skandal …

Die Wunden waren zum Teil riesig, einige alte Menschen sind durch diese Durchliegestellen gestorben. Das war eine Form der Gewalteinwirkung, die ich völlig inakzeptabel fand. Wir haben Fotos gemacht, sie auch politischen Entscheidungsträgern gezeigt. Das Umdenken begann schnell, ich habe viele entsprechende Vorträge in Pflegeheimen gehalten. Jetzt dokumentieren wir nur noch bei 0,5 Prozent der Toten ein solches Druckgeschwür. Und davon sind viele auch nicht wirklich vermeidbar, weil Sterbende in der letzten Phase ihres Lebens oft nicht mehr umgelagert werden möchten. Sie leiden auch nicht mehr, weil sie entsprechend mit Schmerzmitteln versorgt werden. Ohne die Rechtsmedizin hätte es diese Entwicklung nicht gegeben. Das Gleiche gilt für den plötzlichen Kindstod.

Wenn ein scheinbar gesundes Baby unter einem Jahr ohne Vorwarnung stirbt …

In den Achtzigern hatten wir jedes Jahr 30 bis 35 Fälle in Hamburg. Wir haben damals festgestellt, dass die Todesumstände überall fast gleich waren. Die Babys schliefen auf dem Bauch in weichen Körbchen unter dicken Kissen. Sie wurden früh abgestillt und in den Wohnungen wurde massiv geraucht, teilweise waren die Buden total verräuchert. Daraus entstanden gemeinsam mit den Kinderärzten Empfehlungen, wie der plötzliche Kindstod zu vermeiden ist. 2016 hatten wir nur noch einen Fall. Die Rechtsmediziner haben also rund 30 Babys jedes Jahr vor dem Tod bewahrt.

Wie kann Rechtsmedizin gestärkt werden?

Für die Leichenschau kann ein Arzt inklusive Fahrtkosten 70 bis 100 Euro abrechnen. Dafür soll er den unbekleideten Toten von allen Seiten komplett untersuchen, sich jede Körperöffnung genau anschauen. Das geht nicht für dieses Honorar. Entsprechend hoch ist die Zahl der Nachlässigkeiten und Fehler. Jede zweite dokumentierte Todesursache ist falsch. Da wird aus einem Herzinfarkt eine Lungenembolie. Und umgekehrt. Deshalb fordere ich, dass der Hausarzt nicht mehr zur Leichenschau hinzugezogen werden soll. Das ist einer der Kardinalfehler im System. Das muss die Arbeit von speziell ausgebildeten Ärzten werden, von echten Profis.

Zyniker könnten einwenden, dass es letztlich egal ist, was auf dem Totenschein ist.

Ist es eben nicht. Die Pathologen und Rechtsmediziner können feststellen, ob es Behandlungsfehler gab, ob die Krebstherapie richtig war, ob die Medikamente richtig dosiert wurden. Die Ärzte können aus unseren Untersuchungen wertvolle Erkenntnisse ziehen, auch damit dieselben Fehler nicht wieder passieren. Deshalb sollte jeder Tote genau untersucht werden. Mit Computer-Tomografie, mit Magnetresonanztomo­grafie, mit Angiografie (radiologische Darstellung von Gefäßen, die Red.) und Endoskopie – alle modernen Techniken sind einzusetzen. Ein Rechtsmediziner, der sich zugleich in bildgebenden Verfahren sehr gut auskennt, würde den Prozess steuern. Und die Untersuchungsergebnisse würden über Jahre festgehalten.

Da dürfte es viele gruseln.

Das kann ich verstehen. Der Tod ist ein Tabuthema. Würdevolles Sterben heißt bei uns eine oberflächliche Leichenschau durch den Hausarzt, dann die Totenruhe im Kerzenschein in einer Friedhofskapelle. Für mich heißt würdevolles Sterben, dass man weiß, warum der Tod eingetreten ist. Jeder Tote muss das Recht haben, seine Todesursache zu kennen. Da kann es auch darum gehen, dass seine Mörder verfolgt werden können. Wir schätzen, dass ungefähr 1000 Tötungsdelikte in Deutschland pro Jahr nicht entdeckt werden, weil die Leichenschau so oberflächlich erfolgt.

Die Überzeugungsarbeit dürfte dennoch schwierig werden.

Das stimmt. Aber sie ist wichtig. Aids können wir inzwischen nur deshalb so gut bekämpfen, weil wir viele Infizierte sofort nach ihrem Tod gründlich untersuchen konnten. In den USA gibt es bereits Pflegeheime für Demenzkranke mit einem angeschlossenen Sektionssaal. Das Gehirn von verstorbenen Patienten mit einer Demenz kann dann sofort nach dem Tod von erfahrenen Neuro-Pathologen untersucht werden. Dies kann dazu beitragen, dass wir bessere Therapien gegen Krankheiten wie Alzheimer entwickeln können.

Mit der Abendblatt-Journalistin Bettina Mittelacher hat Püschel das Buch „Tote schweigen nicht“ geschrieben, erhältlich im Abendblatt-Shop für 14,95 Euro.