Altstadt/Eppendorf. Nach dem Sensationsfund in der City vom vergangenen Sommer steht jetzt fest: Die historischen Knochen stammen aus dem 15. Jahrhundert

Wie ein gefräßiges Mundwerk gräbt sich die Baggerschaufel ins Erdreich. Immer weiter dringt sie an der Baustelle am Rathausmarkt vor, häuft Schutt und Steine zur Seite. Plötzlich ein Knirschen, ein Knacken, ein Geräusch, das aufhorchen lässt. Das schwere Gerät ist auf einen Fremdkörper gestoßen, der nun vorsichtig freigelegt wird und eine Sensation verspricht: Hier, direkt im Stadtzen­trum, liegt unter der Erde ein menschlicher Schädel. In nächster Nähe werden weitere Knochen gefunden, alle dem ersten Anschein nach sehr alt. Wie alt und wie bedeutend dieser Fund ist, wird jetzt, mehrere Monate nach den Grabungsarbeiten am Rathausmarkt vom Juli vergangenen Jahres bekannt: Der Schädel stammt aus dem 15. Jahrhundert und damit aus der Zeit der Klöster.

Am Dienstag wurden Details über den historischen Fund im Institut für Rechtsmedizin am UKE vorgestellt, wo sich unter anderem Rechtsmediziner, Anthropologen, Archäologen und Kriminalpolizisten zusammengefunden haben, um der Frage nachzugehen: Wie kann die Vorgehensweise bei archäologischen Funden in Hamburg optimiert werden? „Wir finden, dass alte Knochen in angemessener Art und Weise geborgen, untersucht und asserviert werden sollten“, sagte Prof. Dr. Klaus Püschel, Direktor am Institut für Rechtsmedizin. „Man weiß ja anfangs nicht, wie alt die Knochen sind.“

Doch mit dem Fundort am Rathausmarkt „drängte sich von Anfang auf, dass es etwas Historisches sein könnte“, sagte Eilin Jopp-van Well, forensische Anthropologin am Institut für Rechtsmedizin. Leider war der Schädel, bevor er entdeckt wurde, offenbar von einer Baggerschaufel zerbrochen worden. Das machte den Fund jedoch nicht weniger spektakulär. Die Polizei wurde kontaktiert, die wiederum das Institut für Rechtsmedizin hinzuzog. „Wir haben uns Fotos schicken lassen vom Fundort, von den Schädelfragmenten und vom Gebiss“, so Jopp-van Well. Ein erster Eindruck insbesondere vom Zahnstatus bestätigte, dass es sich vermutlich um einen sehr alten Fund handelt. In der Nähe des Schädels wurden auch Langknochen sowie Tierknochen entdeckt.

Das größte Interesse galt dem Schädel. „Nach der Zerstörung durch die Baggerschaufel gab es drei größere Scherben, die wir untersuchen konnten. Ich habe sie zunächst zusammengeklebt“, erklärte die Anthropologin. Die Untersuchung ergab, dass es sich bei dem Toten um einen Mann von über 60 handelt. „Das konnten wir unter anderem anhand des Zahnstatus und der Verknöcherung des Schädelnähte feststellen.“

Das faszinierendste Ergebnis brachte allerdings die zeitliche Einordnung des Funds, nach der der Schädel aus dem 15. Jahrhundert stammt. Dies festzustellen gelang mithilfe der Radiocarbon­methode. Sie basiert darauf, dass Kohlenstoff in der Natur in zwei Varianten, als sogenannte Isotope, vorkommt. Alle lebenden Organismen nehmen Kohlenstoff auf. Verstirbt nun ein Lebewesen, wandelt sich das Isotop C14 zu C12 um. Die Halbwertszeit dieses Umwandlungsprozesses beträgt 5730 Jahre. So lässt sich anhand des vorhandenen Kohlenstoffs im Knochen errechnen, wann ein Lebewesen gestorben ist. „Im Fall des Schädels hatten wir im Ergebnis zwei Werte, die herausstachen“, sagte An­thropologin Jopp-van Well. „Einer lag bei 1448 bis 1477, der andere beschrieb einen Zeitraum von 1443 bis 1615. Doch der besonders herausschlagende Peak liegt im frühen 15. Jahrhundert.“

„Hamburg hat eine städtische Entwicklung durchgemacht, die heute so im Stadtbild nicht mehr ablesbar ist“, sagte Elke Först, Leiterin der Bodendenkmalpflege in Hamburg. Fest steht: Sowohl dort, wo sich heute der Rathausmarkt befindet, als auch auf dem Areal der Handelskammer standen früher Klöster. Im Fall der Handelskammer handelte es sich um das St.-Maria-Magdalenen-Kloster, das zwischen 1227 und 1239 gegründet wurde. Beim Rathausmarkt war es das St.-Johannis-Kloster, das seinen Ursprung etwa um 1237 hat. „Beide Klöster wurden im 19. Jahrhundert für die großen Bauvorhaben Rathaus und Handelskammer abgebrochen“, erklärte Först. Beim St.-Johannis-Kloster fand der Abbruch zwischen 1829 und 1841 statt.

„Der Schädelfund ist so zu deuten, dass er vom Areal der früheren Klosterkirche St. Johannis stammt und ganz klar in die Klosterzeit fällt“, sagte die Archäologin. St. Johannis war ein Kloster der Dominikaner. „In der Kirche gab es zahlreiche gemauerte Grüfte, die jeweils mit Grabplatten abgeschlossen waren.“ Die Grüfte wurden im späten 14. Jahrhundert angelegt. In den Grüften fanden sich unter anderem Kirchen­gräber, Familiengräber und Gemeinschaftsgräber von Bruderschaften. „Dort hat man Bestattungen bis Anfang des 19. Jahrhunderts vorgenommen, dann wurden die Grüfte im Hinblick auf den geplanten Abbruch geräumt. Leider wissen wir so gut wie nichts über die Baugeschichte des Klosters und das damalige Klosterleben“, sagte Först. Allerdings ist sehr wohl bekannt, dass es in Hamburg an mehreren Stellen Friedhöfe gibt, die überirdisch nicht mehr sichtbar sind. „Man muss immer damit rechnen, dass etwas auftaucht.“

Im vergangenen Jahr gab es in Hamburg drei Knochenfunde

In jedem Fall eines Knochenfundes wird als Erstes die Polizei benachrichtigt, erklärte Uwe Chrobok, Sachgebietsleiter beim LKA 41 und damit zuständig für Tötungsdelikte. Als Nächstes werde das Institut für Rechtsmedizin kontaktiert, um herauszufinden, ob man es mit menschlichen oder tierischen Knochen zu tun hat, und weiter, ob es sich um ein Verbrechen handeln könnte. „Im vergangenen Jahr gab es drei Knochenfunde, unter anderem einen Schädel mit Einschussdefekten. Allerdings stellte sich heraus, dass er aus dem Zweiten Weltkrieg stammt.“ Die Zusammenarbeit mit der Rechtsmedizin funktioniere gut, so Chrobok, ebenso wie mit der Bodendenkmalpflege. „Wir sind interessiert zu erfahren: Ist ein Knochenfund deliktisch oder historisch beziehungsweise archäologisch?“

Der Schädelfund auf dem Rathausmarkt habe die Wissenschaftler „zum Grübeln gebracht“, sagte Rechtsmediziner Püschel. „Wir wollen wissen, was bei solchen Funden dahintersteckt.“ Es gelte­ herauszufinden, was man zu der Person sagen kann, ob es Spuren von Gewalteinwirkung gibt. Auch die Fundsituation sei entscheidend. Polizei, Bodendenkmalpflege und Rechtsmedizin müssten noch enger zusammenarbeiten. „Wir wollen am liebsten bei der Exhumierung beziehungsweise Bergung dabei sein.“