Hamburg. Fast 27.000 Hamburger werden von den Helfern unterstützt, die früher „Vormünder“ hießen – mehr als jemals zuvor.
Manchmal glaubt Herr A. plötzlich, er habe sein Leben vergeudet. Dann sinkt der 77-Jährige auf dem Sofa in der Sitzecke des Seniorenheims St. Markus an der Gärtnerstraße ein wenig zusammen. Schon einen Moment später aber findet er das Glück wieder und erzählt, wie sehr er sich freut, wenn er die Kinder auf dem Fußballplatz nebenan beim Kicken beobachtet. Das geht vom Balkon des Heims ganz gut.
Früher hat Herr A. selbst Fußball gespielt. Und zwar gar nicht schlecht. Heute geht das nicht mehr. Auch in seine Wohnung in Eimsbüttel kommt er nicht mehr allein. Sie liegt 82 Stufen über dem einst legendären, vor ein paar Jahren geschlossenen Fischladen Schlüter am Stellinger Weg, in dem Herr A. jahrzehntelang gearbeitet hat. Gearbeitet oder doch bloß sein Leben vergeudet, wie er es eben gesagt hat? Wie er das sieht, hängt immer ein wenig von seiner Tagesform ab. Ob er nun 50 oder 60 Jahre bei Schlüter war, das weiß Herr A. gerade nicht mehr so genau.
Verwaltungsdinge können überfordern
Was er aber weiß: Nach einem Sturz schafft er die Treppen in seine Wohnung nicht mehr. Und auch all diese Verwaltungsdinge, die ein Mensch unentwegt zu erledigen hat, überfordern ihn jetzt, nach der Operation mit Vollnarkose, noch mehr als vorher: Bankgeschäfte, Pflegeanträge, Rente und all diese Sachen. Deswegen hilft ihm Bärbel Will seit einer Weile bei dem Papierkram. Will ist seine vom Amtsgericht bestellte gesetzliche Betreuerin, und in diesem Moment legt die dynamische rothaarige Frau dem melancholischen alten Mann die Hand auf einen seiner noch immer kräftigen Unterarme. „Ich sorge dafür, dass Sie nun auch wirklich die Krankengymnastik bekommen“, sagt Will. „Sie sollen die Treppe ja bald wieder hochkommen.“
Herr A., der mit seinem echten Namen nicht in der Zeitung stehen will, ist einer von fast 27.000 Hamburgern, die zeitweise oder für immer nicht in der Lage sind, ihre Geschäfte selbst zu erledigen, und deswegen von laut Berufsverband rund 530 professionellen und laut Senat etwa 9600 ehrenamtlichen Betreuern unterstützt werden. Noch nie hat es in Hamburg so viele Betreuungen gegeben wie heute. Das hat kürzlich eine Senatsantwort auf eine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Richard Seelmaecker ergeben. Die Zunahme psychischer Erkrankungen und die Tatsache, dass die Menschen immer älter werden, lassen die Zahlen steigen.
Große Gesetzesreform von 1992
Seit 25 Jahren gibt es das System der Berufsbetreuung in Deutschland. Durch eine große Gesetzesreform von 1992 haben die gesetzlichen Betreuer die früheren „Vormünder“ abgelöst. Seither wird niemand mehr „entmündigt“, jetzt müssen die Menschen im Normalfall zustimmen, wenn sie betreut werden. „Wir benutzen den Begriff ‚unter Betreuung‘ oder ‚Betreute‘ bei uns nicht“, sagt Bärbel Will. „Wir sprechen von ‚Klienten‘. Es soll eine Beziehung sein, die so weit wie möglich auf Augenhöhe funktioniert.“
Zugewiesen werden Betreuer vom Amtsgericht. So war es auch bei Herrn B., einem intelligenten, gebildeten und im Alltag trotzdem hilfsbedürftigen 52-Jährigen, der ganz früher einmal ein paar Semester Psychologie studiert und Texte fürs Kabarett geschrieben und dann viele Jahre lang als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet hat. Als Herr B. Probleme mit der Schulter bekam, verlor er seinen Job. Damit wurde er nicht fertig und stellte sich quasi tot – wie manche Tiere im Alarmzustand.
Hohe Schulden angehäuft
Er meldete sich nicht arbeitslos, zog sich von Freunden zurück, zahlte keine Miete und keine Rechnung mehr und ließ seine Wohnung komplett vermüllen. Irgendwann riet ihm seine Schwester, sich Hilfe zu suchen. Seit Anfang Februar hat Bärbel Will nun seine Betreuung übernommen.
Über die Monate hat Herr B. Tausende von Euro Schulden angehäuft: bei der Vermieterin, beim Telefon- und Internetprovider und vielen anderen, vor allem aber bei der Krankenkasse. Denn weil er sich nicht arbeitslos gemeldet hatte, wurden auch keine Beiträge an die Pflichtversicherung abgeführt. „In Fällen wie diesem arbeiten wir eng mit der Schuldnerberatung zusammen“, sagt Will. „Oft kann man eine Privatinsolvenz erreichen, mit der sich vieles einfacher regeln lässt.“
Zurück in ein selbstständiges Leben
Langfristiges Ziel sei es, wo immer das möglich ist, die Klienten wieder so in ein selbstständiges Leben zurückzuführen, dass sie keine Unterstützung mehr brauchen. Umfassende Zahlen zu den Ursachen von Betreuung gibt es laut Senat nicht. Dass es aber keinesfalls vorrangig um Demenz geht, lässt eine Tabelle zur Altersstruktur der Betreuten aus dem Jahr 2014 vermuten. Demnach sind mit rund 37 Prozent lediglich etwa ein Drittel der Klienten älter als 70 Jahre. 20 Prozent sind jünger als 40. Den höchsten Anteil an Betreuungen im Erwerbsalter weist mit 16 Prozent die Altersgruppe von 46 bis 55 Jahren auf.
Zu dieser Gruppe zählt auch Frau C. Sie ist 53 Jahre alt und hat einen fast 21-jährigen Sohn. Vor langer Zeit einmal hat sie mit ihrem Mann versucht, eine Fußboden-Firma aufzubauen. Als das nicht klappte, war der Mann weg, und C. saß mit den Schulden und dem damals anderthalbjährigen Kind allein da, bei dem wenig später das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADS diagnostiziert wurde. C. selbst ging es über die Jahre immer schlechter. Sie leidet unter Depressionen und Diabetes, und vor einer Weile wurde auch noch Multiple Sklerose festgestellt. Auf einem Auge kann sie kaum noch sehen.
„Ich fühlte mich ständig überfordert“
„Ich fühlte mich ständig überfordert, ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte“, erzählt sie beim Hausbesuch von Bärbel Will in ihrer Eimsbüttler Wohnung. Dann erfuhr sie von der Möglichkeit gesetzlicher Betreuung. „Erst wollte ich das nicht, weil ich immer im Kopf hatte, dass ich dann entmündigt würde. Aber dann habe ich erfahren, dass ich alles selbst bestimmen und das auch jederzeit beenden kann“, sagt die zarte Frau.
„Und dann haben Sie ja gemerkt, dass ich als Betreuerin ein ganz normaler Mensch bin“, fügt Bärbel Will hinzu.
„Na ja“, sagt Frau C. trocken. „Normal eher nicht.“ Und Bärbel Will bricht in ein lautes Lachen aus.
Aber nein, eine Beleidigung sollte das nicht sein. Sie habe doch nur sagen wollen, so Frau C., wie energisch ihre Betreuerin sei und wie viel sie schon gemacht habe. Tatsächlich könnte die berufliche Laufbahn von Bärbel Will für mehrere Leben reichen. Die heute 54-Jährige hat Bankkauffrau gelernt, dann Managerin im Sozial und Gesundheitswesen, sie war Ausbilderin beim Berufsförderungswerk, Einsatzleiterin in der Ambulanten Pflege und Krankenpädagogin und machte dann auch noch an der Uni Hamburg ihren Master in „Health Management“.
Bezüge der Betreuer seit Jahren nicht erhöht
Mit 48 entschied sie: Ich will keine Vorgesetzten mehr haben. Also machte sie sich als Berufsbetreuerin selbstständig. Zusammen mit insgesamt neun Kollegen und Mitarbeitern arbeitet sie jetzt auf eigene Rechnung in ihrem Büro in einem Hinterhof an der Hoheluftchaussee. Seit einer Weile ist sie zudem Landessprecherin des Bundesverbands der Berufsbetreuer. In dieser Rolle kämpft sie derzeit für eine bessere Vergütung.
Denn die Bezüge der Betreuer seien seit zwölf Jahren nicht erhöht worden, und im Schnitt würden gerade einmal 3,2 Stunden pro Klienten und Monat bezahlt – was in der Regel nicht im Entferntesten ausreiche, um die oft sehr vielfältigen Probleme zu lösen. Der Stundenhöchstsatz von 44 Euro beinhalte sämtliche Nebenkosten der Betreuer für Bürounterhaltung, Fahrten, Mitarbeiter usw. So lasse sich auf Dauer keine gute Arbeit gewährleisten. Demnächst werden sich auch Bundestag und Bundesrat mit dem Thema befassen.
Kleine Erfolgsgeschichten
Frau C. aus Eimsbüttel zählt trotz ihrer vielen Krankheiten zu den kleinen Erfolgsgeschichten der gesetzlichen Betreuung. Früher hatte sie neben all ihren körperlichen Problemen ein gravierendes „Messi“-Problem. Sie konnte nichts wegwerfen und lag meist schlapp im Chaos auf dem Sofa. Will organisierte eine Entrümpelung, danach wurde die Wohnung renoviert, es wurden Bilder aufgehängt, und vom einstigen Durcheinander gibt es heute keine Spuren mehr. Auch der Schulden aus der alten Firmenpleite nahm sich Will an. „Mir hat die Betreuung sehr geholfen“, sagt Frau C. heute. „Ich war zwar nie suizidgefährdet, aber sehr lange lebensmüde. Das ist ganz anders geworden.“
Trotz solcher Geschichten: Es ist längst nicht alles gut in dieser Branche. Es gibt auch immer wieder Skandalgeschichten aus der gesetzlichen Betreuung – wie etwa den Fall einer alten Dame aus dem Kreis Pinneberg, die vor gut zehn Jahren unter Betreuung ihr Haus verlor (das Abendblatt deckte den Fall auf). Für Bärbel Will sind das Einzelfälle – und Belege dafür, dass die gesetzlich geregelte Kontrolle der Betreuer in solchen Fällen nicht funktioniert habe. Die sei nämlich sehr streng, jeder Betreuer müsse einmal im Jahr jeden Cent, den er von dem und für den Klienten ausgegeben habe, gegenüber dem zuständigen Gericht abrechnen.
Überforderung bei den Betreuern
Aber bisweilen geht es auch gar nicht um so große Vorwürfe, sondern um schlichte Überforderung bei den Betreuern selbst. Die seit 20 Jahren an einer chronischen Erkrankung leidende Silke H. (51) etwa, die Bärbel Will an diesem Tag in der Cafeteria der UKE-Psychiatrie trifft, hat so eine Erfahrung gemacht. Wegen privater Probleme verschwand ihre Betreuerin plötzlich aus der Stadt – inklusive aller Unterlagen.
Auch mit einer weiteren Betreuerin machte die frühere Krankenschwester schlechte Erfahrungen. Im Sommer übernahm Bärbel Will den Fall, und nun ist Silke H. weitgehend zufrieden. Weil sie unter Phasen schwerer Kaufsucht leidet, ist ihre Betreuung so eingerichtet worden, dass Bärbel Will über einen „Einwilligungsvorbehalt“ jeden Kauf rückgängig machen kann – H. ist also allein nicht voll geschäftsfähig. „Das ist schwierig, aber gut so“, sagt sie. „So kann ich mich nicht verschulden.“
Der Job macht Bärbel Will glücklich
Einer der medizinisch schwersten Fälle von Bärbel Will ist wohl Mustafa S. Schon als junger Mann erlitt er einen schweren Schlaganfall und kann sich nach Erzählungen Wills bis heute, mit jetzt Anfang 50, kaum noch bewegen und nicht mehr sprechen. Er kommuniziere allein mit den Augen. Aber auch in diesen so traurigen Schicksalen finden sich Momente des Glücks.
Zum einen sei sie beeindruckt, wie liebevoll sich die Familie um Mustafa kümmere, so Will. Und außerdem sei ihnen kürzlich gemeinsam etwas Tolles gelungen: Nach vielen Verhandlungen mit Behörden und Krankenkasse konnte der Deutschtürke einen Urlaub in der Türkei verbringen – mit Spezialrollstuhl, einem Großvorrat an Inkontinenzwindeln, Pfleger und allem, was für so eine Tour noch so nötig war. Am Ende sei Mustafa so glücklich gewesen, heißt es, dass er mit seinem Glück die ganze Familie und alle Betreuer angesteckt habe.
Arbeit von 60 Stunden pro Woche
Dass Bärbel Will trotz all der harten Schicksale mit ihrem Job zufrieden ist, hat auch mit solchen Geschichten zu tun. Ökonomisch über die Runden komme sie trotz der sparsamen Entlohnung vor allem deshalb, weil sie mehr Klienten als andere betreue und – unterstützt von ihrer Mitarbeiterin – kaum unter 60 Stunden pro Woche arbeite, sagt sie. Ausgelastet ist diese mit so viel Energie gesegnete Frau offenbar trotzdem noch nicht. Jetzt will sie auch noch eine Doktorarbeit schreiben. Nebenbei. Über eine Berufsausbildung für Betreuer.
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