Letzter Teil der Serie: Die Reform der Pflegeversicherung wird die Branche verändern wie nie zuvor. Was Sie jetzt wissen müssen.

Für Pflege-Staatssekretär Karl-Josef Laumann (CDU) ist es nichts weniger als ein „Meilenstein“. Die Pflegereform, beschlossen im Pflegestärkungsgesetz II, werde endlich für mehr Gerechtigkeit sorgen. Aber gibt es wirklich nur Gewinner? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wieso brauchen wir eine Pflegereform?

Die Pflegeversicherung konzentriert sich bislang auf Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Pflegebedürftige mit kognitiven Einschränkungen, insbesondere Demenzerkrankte, erhalten oft keine oder nur geringere Leistungen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff bezieht alle Beeinträchtigungen – körperliche, kognitive und auch psychische – mit ein. Dies ist dringend notwendig, da vor allem die Zahl der Demenzerkrankten stark steigen wird. 2050 werden in Deutschland bis zu drei Millionen Menschen an Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz leiden.

Wie wird künftig der Grad der ­Pflegebedürftigkeit festgestellt?

Noch gilt das Prinzip „Pflege nach Zeit“; die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ermitteln den Pflegebedarf in Minuten, davon hängt die Pflegestufe ab. Von Januar 2017 an gelten Pflegegrade statt Pflegestufen. Maßgeblich ist dann allein die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Dafür werden sechs Bereiche begutachtet: die Mobilität (etwas das Fortbewegen in der Wohnung, Treppensteigen), die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (etwa verstehen und reden, Orientierung über Raum und Zeit), die Verhaltensweise und Psyche (etwa Unruhe in der Nacht, Aggressionen), die Selbstversorgung (etwa selbstständige Benutzung der Toilette), der Umgang mit krankheitsbedingten Belastungen (zum Beispiel Medikamente selbst einnehmen zu können) und die Gestaltung des Alltagslebens (etwa die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt treten zu können). Der MDK vergibt in jedem Bereich Punkte, diese werden unterschiedlich gewichtet. Dann erfolgt die Einstufung in einen von fünf Pflegegraden – von Pflegegrad 1 (geringe Beeinträchtigung der Selbständigkeit) bis Pflegegrad 5 (schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung).

Wie hoch sind künftig die Leistungen?
Diese haben wir in der Tabelle zusammengestellt. An der Systematik der Leistungen hat sich nichts geändert. Unterschieden wird in Pflegesachleistungen (ambulanter Pflegedienst), Pflegegeld (verwaltet der Pflegebedürftige für die häusliche Pflege selbst, etwa durch Zahlungen an pflegende Angehörige), Leistungen für Pflegevertretung (durch Angehörige oder Profis), Kurzzeit- sowie Tagespflege (Nachtpflege-Einrichtungen gibt es in Hamburg noch nicht). Möglich ist auch eine Kombination von Leistungen, dies erklären wir im „Großen Hamburger Pflegeratgeber“ (Kasten rechts) genau. Zudem zahlt die Pflegeversicherung für die vollstationäre Pflege, also für das Pflegeheim.

Was ist der Entlastungsbetrag? Warum wird der nicht in bar ausgezahlt?

Viele Pflegebedürftige, die zu Hause leben, haben niemanden mehr, der mit ihnen mal spazieren geht oder Karten spielt. Für sie sind solche sogenannten „niedrigschwelligen“ Betreuungen gedacht, auch in Hamburg machen viele Organisationen solche Angebote – unter anderem durch Ehrenamtler, die nur eine Aufwandsentschädigung bekommen. Der Entlastungsbetrag kann auch für Hilfe im Haushalt, für Leistungen der ambulanten Pflege oder von Kurzzeit- oder Tagespflegeeinrichtungen verwendet werden. Er soll aber nicht versickern, deshalb wird er nicht in bar ausgezahlt.

Muss ich als Pflegebedürftiger, der jetzt schon Leistungen bezieht, neu begutachtet werden?

Nein. Die Überleitung erfolgt automatisch; wie das funktioniert, sehen Sie in der Tabelle. In der Regel gibt es höhere Leistungen, das Pflegegeld in der Pflegestufe II steigt etwa durch die Überleitung in den Pflegegrad 3 von 458 Euro auf 545 Euro. Verschlechterungen bei schon jetzt Pflegebedürftigen sind durch den Bestandsschutz ausgeschlossen.

Ist die neue Bezeichnung Pflegegrad nicht einfach nur Wortklauberei?

Nein, es ist das Signal für einen Systemwechsel. Deutlich wird dies etwa im Pflegegrad 1, der deutlich weniger Leistungen enthält als die noch geltende Pflegestufe I. Durch diesen Pflegegrad kommen aber bis zu 500.000 Menschen neu in den Kreis der Leistungsempfänger. Sie sind in der Regel noch relativ fit, keineswegs Kandidaten für ein Pflegeheim. Mit dem Entlastungsbetrag sollen sie vor allem Betreuungsangebote und Hilfen im Alltag finanzieren. Alles dient dem Ziel, dass sich ihr Zustand nicht weiter verschlechtert („vorbeugender Pflegegrad“). Wem es aber schon deutlich schlechter geht, der wird direkt einen höheren Pflegegrad erhalten.

Was ändert sich für Heimbewohner?

Die Pflegereform schafft eine große Ungerechtigkeit ab. Noch ist so, dass mit einer höheren Pflegestufe die Pflegeversicherung zwar mehr zahlt, der Eigenanteil der Heimbewohner aber dennoch steigt. Dies führt regelmäßig zu Konflikten zwischen Heimleitungen und Angehörigen von Pflegebedürftigen. Während das Heim für eine Höherstufung plädiert, da der Aufwand der Pflege gestiegen sei, sprechen sich viele Angehörige dagegen aus, um zu verhindern, dass der Eigenanteil wächst. Die Pflegereform schließt dies künftig aus, ein höherer Pflegegrad darf nicht zu einem höheren Eigenanteil führen. Zudem hat jeder Heimbewohner künftig Anspruch auf zusätzliche Betreuungsangebote.

Wie verändert sich die Klientel in den Heimen?

Da lohnt ein detaillierter Vergleich der Leistungen. Im Pflegegrad 1 (125 Euro) sowie im Pflegegrad 2 (770 Euro) sind die Zuschüsse der Pflegekasse für die stationäre Pflege sehr niedrig. Das ist politisch gewollt, der Gesetzgeber möchte, dass Pflegebedürftige so lange wie möglich in ihrem eigenen Wohnumfeld bleiben und will keine Anreize für einen Umzug ins Heim schaffen – dies entspricht auch dem Wunsch der meisten Senioren. Im Umkehrschluss heißt das natürlich, dass in den Heimen der Anteil Schwerstpflegebedürftiger steigen wird – eine enorme Herausforderung für das Personal. Im Gegenzug wird es in Hamburg laut Rahmenvertrag zwischen Senat, Pflegekassen und Heimbetreibern 540 Pflegekräfte mehr geben; ein Heim mit 100 Bewohnern wird also drei Pflegekräfte zusätzlich einstellen können. Allerdings gibt es schon jetzt zu wenig Altenpfleger, die Hoffnungen ruhen auch darauf, dass Teilzeitkräfte ihre Stundenzahl aufstocken werden.

Wie profitieren pflegende Angehörige?

Die Pflege eines Familienmitglieds ist extrem belastend, viele pflegende Angehörige werden selbst krank. Ihre soziale Absicherung wird jetzt aufgestockt. Mehr pflegende Angehörige erwerben künftig Rentenansprüche, auch ihre Absicherung in der Arbeitslosen- und Unfallversicherung wird verbessert.

Was verändert sich bei der Beratung?

Ohne Information ist die beste Reform nichts wert. Künftig teilen die Pflegekassen jedem Anspruchsberechtigten mit, welcher Pflegeberater zuständig ist, bieten zudem von sich aus eine persönliche Pflegeberatung an. Auch Angehörige haben Anspruch auf kostenlose Beratung und Erstellen eines Pflegeplans.

Wie teuer wird die Reform?

Die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen um 0,2 Prozent, sollen dann aber bis 2022 stabil bleiben. Insgesamt stehen von 2017 an jährlich fünf Milliarden Euro zusätzlich für die Pflege zur Verfügung. Das Bundesgesundheitsministerium weist darauf hin, dass die Kommunen durch Einsparungen von Sozialhilfe um 500 Millionen Euro entlastet werden.

Was bedeutet die Reform für den ­Pflege-TÜV?

Noch vergeben die MDK-Gutachter die Pflegenoten für Pflegeeinrichtungen. Dieses System steht in der Kritik, da selbst Heime, die wegen eklatanter Mängel geschlossen werden mussten, gut oder sogar sehr gut abschnitten. Das Problem: Noch können schwerwiegende Mängel, etwa in der Medikamentenversorgung, durch eher unbedeutende Faktoren wie die Lesbarkeit der Speisekarte ausgeglichen werden. Zudem stützen sich Gutachter vor allem auf die Dokumentation der Pflege, nicht auf die Qualität. Wissenschaftler entwickeln ein neues System, das die Ergebnisqualität in den Vordergrund rücken soll. Mit einer Umsetzung wird 2018 gerechnet. Hamburg geht einen eigenen Weg. Experten prüfen, wie Heime dafür sorgen, dass die Bewohner so eigenständig wie möglich leben können. Die Ergebnisse werden ins Internet gestellt.