Neustadt . Prozessauftakt gegen einen 54-Jährigen, der einen Jungen schwer verletzte, weil der Fußball spielte. Neue Details zur Waffe.

Am Nachmittag des 23. Juli 2016 lädt Ralf W. sein Luftgewehr durch. Es verfügt über eine Durchschlagskraft von 7,2 Joule, hat ein Zielfernrohr und einen Schalldämpfer. Bestückt ist die Waffe mit spitzen, messing-ummantelten „Diabolo“-Projektilen. Solche Kugeln vom Typ „Hornet“ werden auf der Jagd nach kleinen Tieren eingesetzt.

Ralf W. ist mächtig aufgebracht, dabei ist es so ein schöner, sonniger Tag. Schon lange brodelt es in ihm. Überall dieser Lärm rund um die Wohnung seiner Freundin am Alsterberg. Auf dem angrenzenden Bolzplatz übt Tim J., 13 Jahre alt, gegen 16.30 Uhr Freistöße auf ein Tor. Manchmal klatscht der Ball gegen einen Zaun, was ein „richtig ätzendes Geräusch gab“, wie sich Ralf W. erinnert. Und laute Geräusche mag er gar nicht.

Der Junge bricht blutend zusammen

Auf dem Balkon legt er an, zielt, drückt ab. Der erste Schuss verfehlt Tim, der zweite erwischt ihn im Bereich der Rippen. Er schleppt sich noch ein paar Meter weit, dann bricht er blutend zusammen. Im Krankenhaus holen Ärzte das Projektil aus seinem Körper – es war dicht vor seiner Leber steckengeblieben.

Die Schüsse auf Tim J. haben hamburgweit für Entsetzen gesorgt. Der Schütze, Ralf W., steht seit Dienstag vor dem Schöffengericht. Ursprünglich war gegen den 54-Jährigen wegen Mordversuchs ermittelt worden. Weil die Staatsanwaltschaft jedoch keinen Tötungsvorsatz erkannte, stufte sie den Vorwurf zu einer gefährlichen Körperverletzung herab. Tim bleibt am Dienstag eine Konfrontation mit seinem Peiniger erspart – aus Rücksicht auf eine mögliche Retraumatisierung..

Der 13-Jährige spricht nicht über die Tat

Stattdessen berichtet seine Mutter, wie es dem Jungen seither ergangen ist. „Noch immer kann er über die Tat nicht reden, mit niemandem, weder uns, seinen Eltern, noch mit dem Psychologen“, sagt Katrin J., den Tränen nah. Inzwischen schlafe er aber besser. Seit kurzem trage er auch das HSV-Trikot, das ihm der Fußballverein auf Initiative der Hamburger Polizei geschenkt hatte. Sein eigenes war bei dem Attentat durchlöchert worden.

Ralf W. hatte dem Jungen auch einen Entschuldigungsbrief geschrieben, der auf Betreiben seines Verteidigers erst im Februar der Familie zugestellt worden war. Gelesen hat Tim ihn bis heute nicht. Als sich Ralf W. bei der Mutter vor Gericht entschuldigt, lässt sie ihn eiskalt abblitzen. Er schäme sich für die Tat, er bereue sie „zutiefst“, sagt er. 5000 Euro Schmerzensgeld hat er der Familie bereits zukommen lassen.

Bei der Bundeswehr das Schießen gelernt

Ralf W. ist Offizier der Reserve. Den Umgang mit Schusswaffen hat er bei der Bundeswehr gelernt – von Luftgewehren will er aber keine Ahnung haben. Im Juni 2016 bestellt er sich im Internet ein mit Kohlendioxid betriebenes Exemplar für 340 Euro. Bei der Recherche stößt er auch auf die passende Munition, es gibt Hunderte unterschiedliche Typen. Seine Wahl fällt auf die für den Jagdeinsatz entwickelten Hornet-Projektile. Weil sie spitz geformt sind und „aus meiner Sicht die stabilsten Flugeigenschaften besitzen.“.

Eigentlich habe er auf einem Schießstand üben wollen, er habe jedoch keinen geeigneten gefunden. Also habe er ab und an vom Balkon seiner Freundin aus auf Bäume und einmal auch auf eine Taube geschossen.

Äußerlich wirkt Ralf W. gelassen, fast emotionslos. Ein Eindruck, der wohl täuscht. Dass der Ingenieur eine kurze Lunte hat, bekamen auch die Anwohner am Alsterberg zu spüren. Nachbarn berichteten der Polizei, dass Herr W. Kinder und Bewohner immer wieder bepöbelt habe. Auch seine Freundin, die Zeugin Andrea H. (60), bestätigt das. Sie beobachtete, wie Ralf W. am 23. Juli die Balkontür öffnete und schoss. „Ich sagte: Mein Gott, hör auf. Dann hat er noch einmal geschossen.“ Aufgelöst und „voller Panik“ seien sie nach der Tat spazieren gegangen.

Der Angeklagte: Ich habe daneben gezielt

Er sei äußerst „geräuschempfindlich“, sagt Ralf W. Nach einem Hörsturz vor neun Jahren habe er einen Tinnitus. Im Umfeld der Wohnung sei es für ihn unerträglich gewesen. Ständig dieser Trubel auf dem Bolzplatz. „Das Spiel des Jungen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, sagt Ralf W. Er habe Tim an jenem Tag ermahnt, sich einen Spielkameraden zu suchen, damit er den Ball nicht fortlaufend gegen den Zaun drischt. Voller Wut habe er „halb am Zielfernrohr“ vorbei in seine Richtung geschossen, er habe lose auf ein Gestrüpp vor ihm gezielt, „dort, wo ich den Ball vermutete“. Den Jungen habe er nicht verletzen wollen.

Drei Tage später meldet sich Ralf W. bei der Polizei und gesteht. Da wird er bereits observiert. Kurz darauf wird er „hollywoodreif“ festgenommen, wie er sich erinnert. Polizisten erinnerten sich laut Gericht noch an etwas anderes. Dass Ralf W. sagte: „Der ganze Aufriss wegen so einem Scheiß!“ Heute bestreitet der Angeklagte eine derartige Aussage. Der Prozess wird fortgesetzt.