Hamburg. 2011 wurde bei ihm Krebs entdeckt. Gespräch über Trauerfeiern, Lebensmut und Rudern als Hoffnungsspender.

Die Sonne glitzert auf der Alster, der Kellner des Restaurants Alstercliff am Fährdamm serviert Croissants und Milchcafé. Ein Achter mit Senioren gleitet über das Wasser, Thomas Beyer (63) schaut begeistert zu: „Schöner kann Hamburg nicht sein.“ Sport war schon immer sein Ding. Über Jahrzehnte galt Beyer als Sportamtschef, Leiter des Hochschulsports, Sprecher der Spitzensportvereine, Macher der Universiade-Bewerbung und Miterfinder der Dekadenstrategie als wichtigster Taktgeber für den Sport der Metropolregion. Im Dezember 2011 stoppte ihn ein Bauchtumor – und lange schien offen, ob der Marathonläufer den Kampf gegen den Krebs gewinnen würde. Nach zahlreichen Rückschlägen entschied sich Beyer für eine Stammzellentransplantation im UKE als letzte Therapiechance. Drei Jahre danach hat sich Beyer zurück ins Leben gekämpft.

Die Therapie

Herr Beyer, als wir uns im Juni 2015 drüben auf der anderen Alsterseite trafen, lag Ihre Stammzellentransplantation erst drei Monate zurück. Mit welchen Gefühlen schauen Sie nun auf die Alster?

Thomas Beyer: Mit einem Gefühl des tief empfundenen Glücks. Nach der Transplantation lag mein Bewegungsradius bei 100 Metern, dann ging mir die Puste aus. Jetzt kann ich wieder zwei Stunden spazieren gehen, ich kann Fahrrad fahren. Ich habe immerhin wieder auf 70 Kilo zugelegt, mit meinen 57 Kilo von damals sah ich ja bei meiner Größe von 1,90 Meter eher aus wie ein Skelett. Jetzt geht es mir wieder richtig, richtig gut. In der Spitzenzeit der Therapie habe ich 58 Tabletten jeden Tag nehmen müssen. Jetzt keine einzige mehr. Ich genieße das Leben.

Haben Sie sich den Weg zurück ins Leben so schwer vorgestellt?

Beyer: Nein. Die Ärzte hatte mich zwar gewarnt, mir gesagt, Herr Beyer, Sie werden ein bis eineinhalb Jahre brauchen, um sich wieder ganz zu erholen. Damals habe ich gedacht, das geht bei mir schneller, ich bin ja Sportler. Aber die Ärzte hatten recht. Bevor die Stammzellen des Spenders transplantiert werden können, muss das körpereigene Immunsystem mit Bestrahlungen komplett plattgemacht werden. Mir sind sogar die Wimpern ausgefallen, die Zeh- und Fußnägel gingen kaputt. Und ich fühlte mich total schlapp. Wenn meine Tochter mich im UKE besucht hat, haben wir oft Mühle gespielt. Aber ich war intellektuell nicht mehr in der Lage, dieses Spiel mit drei Steinen zu begreifen. Oft hat sie gesagt: Papa, da kannst du doch eine Mühle machen. Zum Glück hat sich mich ab und an gewinnen lassen.

Wer hat Sie sonst noch besucht?

Beyer: Meine Frau, meine Schwester und ein sehr guter Freund. In dieser Phase ist das Infektionsrisiko für das ausgeschaltete Immunsystem einfach zu groß. Aber diese Besuche haben mich getragen. Es gibt Phasen, da hängt man durch, hat schlechte Laune, das steht man alleine ganz schlecht durch. Ich habe einen Patienten erlebt, der so unzufrieden war, dass er seine Frau, die sich ganz lieb um ihn gekümmert hat, ganz schlecht behandelte. Das habe ich nicht verstanden: Wieso beißt er ständig die Hand, die sich um ihn kümmert?

Zu den häufigsten Nebenwirkungen einer Stammzellentransplantation zählt völlige Appetitlosigkeit.

Beyer: Das stimmt. Du verlierst jedes Geschmacksempfinden. Selbst das beste Filetsteak fühlt sich an, als ob man auf einem nassen Handtuch herumkaut. Ich musste phasenweise auch künstlich ernährt werden. Ich hatte zumeist weder Kraft zu lesen noch Fernsehen zu gucken. Ich war nicht an der Grenze, ich war auf der Grenze. Ich hatte auch so etwas wie Nahtod-Erlebnisse. Ich sah ein helles Licht, es fühlte sich ganz warm und leicht an. Als ich wieder zu mir gekommen bin, weil die Pfleger riefen: „Herr Beyer, Herr Beyer, machen Sie die Augen auf“, fand ich das fast schade. Doch diese Erfahrungen waren auch tröstlich. Ich wusste, es tut nicht weh, wenn man einfach hinüberdämmert.

Gab es Phasen, wo Sie gedacht haben, wieso tue ich mir das eigentlich überhaupt noch an?

Beyer: Nein, da hat mir meine Zeit als Sportler sehr geholfen. Bei meinen Marathons früher machte es bei Kilometer 35 auch keinen Spaß mehr. Aber ich wusste immer, im Ziel ist es dann doppelt so schön, ich habe diese Mentalität des Nicht-aufgeben-wollens. Und ohnehin ist es gut, mit einer körperlich guten Verfassung diese Therapie anzutreten. Auch deshalb lautet mein Rat: macht unbedingt Sport. Es beschleunigt die Regeneration. Der Körper ist für mich ohnehin ein Wunder.

Wie meinen Sie das?

Beyer: Nach der Transplantation hatte ich kein Temperaturempfinden mehr in den Füßen. Ich musste sie anfassen, ob sie nun kalt oder warm sind. Neulich habe ich mich an der Badewanne gestoßen. Das tat weh, aber es war gut. Denn vor einem halben Jahr hätte ich das gar nicht gespürt. Es zeigt, dass die Nervenbahnen sich wieder regenerieren.

Ihr Leidensweg begann 2011 ausgerechnet an Heiligabend …

Beyer: Ja, ich fühlte mich unwohl, spürte eine harte Stelle in meinem Bauch, glaubte aber eher an eine Verstopfung. Mein Hausarzt hat mich dann am Tag nach Weihnachten abgetastet und mir gesagt: „Herr Beyer, da ist etwas, was Ihr Leben verändern wird.“ Besser kann man eine Krebserkrankung wie meinen bösartigen Bauchtumor nicht ausdrücken.

Wie oft haben Sie gedacht: Warum eigentlich ich, als nach der Operation, nach den Chemotherapien, nach den Bestrahlungen der Krebs immer wieder zurückkam?

Beyer: Eigentlich nie. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Laut Statistik erkrankt jeder Dritte irgendwann in seinem Leben an Krebs. Da ist ein „Warum eigentlich ich“-Denken müßig. Es hilft auch nicht. Du brauchst positive Gedanken. Deshalb habe ich auch nicht wie viele andere alles im Internet über die Krankheit gelesen. Das macht einen nur verrückt.

Haben Sie Ihr Testament gemacht?

Beyer: Ja, das gesamte Programm inklusive Patientenverfügung. Ich hatte sogar meine Trauerfeier geplant. Da war meine Frau ganz dankbar, für den Fall des Falles in meinem Sinne handeln zu können. Mir war es wichtig, dass auch die Trauerfeier nach meinen Vorstellungen abläuft. Keine getragene Musik, sondern guter Jazz, etwa von Gregory Porter. Die Leute sollten bei aller Trauer auch optimistisch und fröhlich sein. Beerdigungen in New Orleans gefallen mir, wo die Leute hinter einem Sarg lachen, tanzen und weinen.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Beyer: Ich habe immer Patienten beneidet, die aus dem Glauben ganz viel Kraft ziehen. So sehr konnte ich das nicht. Ich komme aus einem klassisch protestantischen Elternhaus, würde mich aber nicht als klassisch gläubig bezeichnen. Aber der Glaube hat mich immerhin gelehrt, dass man sich nicht alles rational erklären kann, dass man sein Schicksal auch akzeptieren muss.

Gab es Bücher, die Ihnen geholfen haben?

Beyer: Ja, ich habe intensiv „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf gelesen.

Aber das ist doch für jeden Krebspatienten ein deprimierendes Buch. Herrndorf hat seinen Leidensweg mit seinem unheilbaren Hirntumor beschrieben.

Beyer: Seine Konsequenz im Handeln hat mich fasziniert. Vor seiner Krankheit war er vor allem erfolglos und faul. Doch dann hat er sich total diszipliniert, eben Strukturen geschaffen, auch in den heftigen Phasen seiner Krankheit immer weitergeschrieben.

Am Ende beging er Selbstmord. Gab es auch bei Ihnen Gedanken, Ihrem Leben ein Ende zu setzen, wenn es keine Hoffnung mehr gibt?

Beyer: Ich hätte es nicht auf so eine unappetitliche Art und Weise wie Herrndorf gemacht (der Schriftsteller erschoss sich am 26. August 2013 in Berlin, die Red.). Aber ich habe mich schon darum gekümmert, wie ich es schaffen kann, dass mein Leben schnell und schmerzfrei zu Ende geht, wenn ich die Kurve nicht mehr kriegen sollte. Aber ein Gespräch mit Prof. Nicolaus Kröger, dem Chef der Klinik für Stammzellentransplantation beim UKE hat mir die Sorge genommen, falls es schiefgehen sollte.

Was hat er Ihnen genau gesagt?

Beyer: Er hat mir in einem langen Gespräch die Chancen exakt aufgezeigt. 50 Prozent gehen gut aus, 35 Prozent müssen später mit therapiebedingten Schädigungen leben, 15 Prozent enden negativ. Dazu müssen Sie wissen, dass ich noch nie Glück im Lotto hatte. Aber ich wusste nach dem Gespräch, dass ich nicht werde leiden müssen, dass mir die Schmerzen genommen werden, falls ich zu den 15 Prozent gehören sollte. Dieses Gespräch hat mir sehr geholfen. Ohnehin mache ich dieses Interview vor allem, weil ich dem UKE-Team danken möchte für seinen Einsatz. Auch den Pflegerinnen und Pfleger, die trotz schlechter Bezahlung unfassbar viel leisten im täglichen Umgang mit Leben und Tod. Eine große Hilfe war auch die onkopsychologische Betreuung, die Betroffene und Angehörige im UKE geboten bekommen.

Gab es einen Gedanken, eine Vision, die Sie durch die Therapie getragen hat?

Beyer: Ein paar Wochen vor der Transplantation bin ich mit meinem Freund und Trainer Christian Dahlke (von 1990 bis 2004 einer der besten deutschen Ruderer, die Red.) auf der Alster gerudert. Als wir nach einer Stunde wieder am Steg ankamen, sagte er mir: Thomas, genau dieses Bild musst du in deinem Kopf behalten. Und wenn das alles hinter dir liegt, werde ich wieder mit dir rudern. Genau das werden wir jetzt im April machen. Jeder Betroffene sollte so ein positives Bild in seinem Herzen haben. Das kann auch Briefmarkensammeln sein.

Wie sind Sie mit Mitleid umgegangen?

Beyer: Ich wusste, die Leute meinen es nur gut, aber Mitleid hilft nicht. Bei einer Party vor zwei Jahren, da sah ich wirklich sehr, sehr krank aus, sagte ein guter Freund zu einem Fotografen: Mach doch bitte noch mal ein Foto von uns beiden. Es klang wie der Wunsch nach einem Abschiedsbild. Das macht keinen Mut. Sie brauchen positive Gedanken.

Wie hat die Krankheit Sie verändert?

Beyer: Sehr. Ich fürchte, ich war früher ein ziemlich schlimmer Chef (lacht). Ungeduldig, immer fordernd, sehr gehetzt. Ich bin viel gelassener geworden, viel optimistischer. Als Rentner sage ich: Alles kann, nichts muss. Ich berate jetzt große Hamburger Sportvereine. Das macht mir Freude. Aber ich kann es mir auch leisten, mich zurückzuziehen, wenn mir jemand querkommt. Das konnte ich früher nicht.

Sterbebegleiter in Hospizen berichten oft, dass Todkranke in der letzten Phase ihres Lebens bedauern, dass sie zu viel gearbeitet und zu wenig gelebt haben.

Beyer: Das wäre für mich ein fürchterlicher Gedanke. Nein, ich habe sicher zu viel gearbeitet, aber diese Arbeit hat mir auch große Freude gemacht. Ich konnte Dinge im Hamburger Sport bewegen, habe durch meinen Beruf die Welt gesehen. Und ich habe eine glückliche Familie. Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Tochter. Allein der Gedanke, zu erleben, wie sie beruflich und privat ihren Weg gehen wird, motiviert mich, richtig alt zu werden.

Herr Beyer, wie groß ist Ihre Angst vor den halbjährlichen Kontrolluntersuchungen?

Beyer: Ich gehe damit relativ entspannt um. Bislang waren alle Checks positiv. Aber wenn ein Anruf kommen sollte, Herr Beyer, da ist etwas, was wir eingehender untersuchen müssen, weiß ich, dass es dann schwer wird. Medizinisch gesehen bin ich so gut wie austherapiert. Das wäre dann Schicksal. Aber selbst dann könnte mir niemand diese wunderbare Zeit, die ich jetzt habe, wieder nehmen.