Hockeyspielerin Silja Paul hat ihre Leukämie überstanden. Am Sonnabend feiert sie ihren Abiball nach – und will anderen Mut machen.

Diese Geschichte hat noch kein Ende, und das ist gut so. Hätte sie eins, dann würde Silja Paul an diesem Sonnabend nicht in ihr Ballkleid schlüpfen. Sie würde kein Dreigängemenü genießen und anschließend mit 300 Freunden auf ihrem ganz persönlichen Abiball tanzen können. Hätte diese Geschichte ein Ende, dann wäre Silja Paul gar nicht mehr da, weil sie den Kampf gegen den Blutkrebs verloren hätte, der über viele Monate in ihrem Körper wütete. Aber das hat sie nicht, und weil das so ist, muss ihre Geschichte trotz offenen Ausgangs unbedingt erzählt werden.

Angefangen hatte alles im Dezember 2015. Silja, die damals 17 Jahre alt war, fühlte sich ungewöhnlich häufig krank und müde. Das Hockeytraining mit den Bundesligadamen des Großflottbeker THGC, das die talentierte U-18-Nationaltorhüterin mehrmals wöchentlich von ihrem Wohnort Itzehoe per Bahn nach Hamburg pendeln ließ, fiel ihr zunehmend schwer. Silja schob das auf den Schulstress, immerhin stand im Sommer 2016 das Abitur auf der Kaiser-Karl-Schule an, und als Absolventin des Physikprofils mit den schriftlichen Prüfungsfächern Physik, Mathe und Deutsch würde die Reifeprüfung kein Geschenk werden.

Also schleppte sie sich durch das Frühjahr, bis im April der Körper endgültig streikte. Weil die Immunabwehr am Boden war, fing sie sich auf einer Barcelona-Reise einen Darmkeim ein. Mit schlimmen Bauchschmerzen, Übelkeit und dem Verdacht auf Blinddarmentzündung wurde sie ins Krankenhaus Itzehoe eingeliefert, wo die Ärzte keine Ursache fanden – bis ein Hämatologe Auffälligkeiten im Blutbild entdeckte und die Überweisung an die Onkologie für den nächsten Tag anordnete. Dort wurde am 14. April die Diagnose gestellt: akute myeloische Leukämie (AML).

Diagnose war „wie ein K.-o.-Schlag“

An den Moment, der ihr Leben durchschüttelte, kann Silja Paul sich nur lückenhaft erinnern. „Man sitzt da auf der Station und sieht die Leute mit ihren Braunülen im Arm und Infusionsständer vor sich herschiebend auf und ab gehen. Da beginnt im Kopf die Karussellfahrt“, sagt sie. Sie solle sich bloß keine Sorgen machen, hatten die Ärzte ihr am Vortag noch gesagt, aber das ist wie mit dem rosa Elefanten, an den man nicht denken darf – und im nächsten Moment nur noch rosa Elefanten sieht. „Als der Arzt sagte, dass ich Leukämie hätte, war das wie ein K.-o.-Schlag. Ich habe 45 Minuten nur dagesessen, ohne zuhören zu können. Ich wollte nur wegrennen. Zum Glück war meine Mutter dabei, die sich bemühte, dem Arzt zu folgen.“

Silja Paul war immer ein Mensch, der positiv dachte, der Lebensfreude ausstrahlte und mit Spaß und Neugier an Aufgaben heranging. Dass der Blutkrebs ihr den Tod bringen könnte, war deshalb ein Gedanke, den sie schnell beiseite schob. Vielmehr war da die Angst, ihren geliebten Sport nicht mehr ausüben zu können. „Hockey ist mein Leben“, sagt sie, „und der Gedanke, dass das vorbei sein sollte, war unerträglich. Davor hatte ich mehr Sorge als vor dem Tod oder dem, was in den folgenden Monaten auf mich zukommen würde. Ich war sicher, dass ich noch zu jung war, um sterben zu müssen. Ich habe doch noch so viel vor!“

Es waren dieser Lebenswille und die unerschütterliche Überzeugung, irgendwann doch wieder zwischen den Pfosten, die ihr die Welt bedeuten, stehen zu können, die Silja Paul durch die folgenden Monate halfen. Und sie brauchte all ihre Kraftreserven, um die Chemotherapie durchzustehen, die vier Tage nach der Diagnose im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) begann.

Silja konnte mehrere Tage nichts essen

In fünf Behandlungszyklen – der erste dauerte eine Woche, die anderen vier jeweils drei Tage – erhielt sie die bei AML bewährte Medikamentenkombination aus Cytarabin, Daunorubicin und Dasatinib. Doch während die meisten Patienten diese Behandlung gut vertragen, musste Silja gegen Dauerübelkeit, Erbrechen und eine hartnäckige Darmentzündung ankämpfen, die sogar die Gefahr eines Darmplatzens mit sich brachte. Sie wurde isoliert, durfte die Station nicht verlassen und aus Angst vor Infekten nicht einmal das Fenster zum Lüften öffnen.

Die aus der Darmentzündung resultierenden brutalen Schmerzen wurden mit Morphium beruhigt, was dazu führte, dass die Abiturientin, die dank einer Ausnahmeerlaubnis ihrer Schule die schriftlichen Prüfungen gestaffelt im Juni, Juli und August absolvieren durfte, keinerlei Kraft zum Lernen hatte. „Ich konnte während der Zyklen nicht denken und habe sehr viel geschlafen. Von Bewegung war nicht mal zu träumen“, sagt sie. Manchmal konnte sie mehrere Tage keine Nahrung aufnehmen.

Weil der Körper durch die zur Entzündungsbekämpfung nötigen Kortisonpräparate und von den Medikamenten verursachten Wassereinlagerungen zunimmt, verlor sie letztlich nur wenig Gewicht, hauptsächlich Muskelmasse. Auch die schulterlangen, lockigen Haare fielen ihr aus. Bevor es allerdings dazu kam, ließ sie sich den Schädel von einem Pfleger rasieren. „Am Anfang war es beim Duschen komisch, wenn ich zu meinem Zopf griff und der Griff ins Leere ging“, sagt sie, „aber gestört hat mich das nicht. Zum Glück bin ich uneitel, eine Perücke war für mich nie ein Thema.“

Arzt: Einstellung war ein wichtiger Faktor

Was sie nie verlor, war die Zuversicht. Mit einer Leidensgenossin, einer Mittvierzigerin, mit der sie während der Chemotherapie das Zimmer teilte, hatte Silja die Abmachung getroffen, niemals negative Gedanken oder Träume zuzulassen. „Ich wollte nicht so ernst sein, wie man es auf solchen Stationen erwartet. Deshalb haben wir so viel wie möglich gelacht und das Beste aus der Situation gemacht“, sagt sie. Auf ihrem Zimmer hatte sie einen kleinen Basketballkorb, den sie zu sportlichen Duellen mit den Pflegern nutzte. Mit der Bettnachbarin sang sie Kinderlieder aus dem Internet lauthals mit. Nach eineinhalb Monaten war sie auf der Station bekannt als Motivatorin, die anderen Patienten Mut machte. „Es gab viele, die mit der aufs Zimmer wollten, die immer lacht. Das war ich“, sagt sie.

Doktor Thomas Gaede ist überzeugt davon, dass diese Einstellung ein wichtiger Faktor dafür war, dass die 18-Jährige die Therapie erfolgreich meistern konnte. „Natürlich hat auch ihre Grundfitness als Leistungssportlerin geholfen. Aber positives Denken kann einen Heilungsprozess ungemein beeinflussen“, sagt der in Itzehoe niedergelassene Internist, der Silja als Hausarzt begleitete.

Auch Charlotte Breucker (19) und Amelie Brendel (22) waren tief beeindruckt vom Optimismus, den ihre Teamkollegin trotz ihres Leidens ausstrahlte. „Sie war schon immer die Gute-Laune-Garantie im Team. Dennoch hat es uns überrascht, wie unbeschwert sie mit ihrer Krankheit umgegangen ist“, sagen beide. Das Team hatte die Diagnose von Cheftrainer Michi Behrmann übermittelt bekommen. „Silja hatte sich vom Training mit der Begründung abgemeldet, sie sei wegen Blinddarmproblemen im Krankenhaus. Als wir die Diagnose hörten, waren alle tief betroffen, es flossen viele Tränen“, sagen sie.

Silja erhielt permanent familiären Besuch

Sofort waren auch die Gedanken an Maike Schrader präsent, die ebenfalls Torhüterin in Großflottbek war und im Juli 2004 im Alter von 23 Jahren an Leukämie starb. Mit ihrer Offenheit habe Silja es ihnen allerdings leicht gemacht, mit dem Schicksal der Freundin umzugehen. „Es gab nie Berührungsängste, weil Silja immer ehrlich gesagt hat, wie es um sie steht. Wir durften sie alles fragen, ohne Tabus. Das hat sehr geholfen!“

Die Hilfe, die Silja Paul von Familie und Freunden erhielt, empfindet sie rückblickend als ausschlaggebend dafür, dass sie die dunklen Phasen seelisch unbeschadet überstehen konnte. „Es war Wahnsinn, was für einen Zuspruch ich bekommen habe“, sagt sie. Ihre Eltern, die getrennt in Itzehoe leben, und Schwester Lara (17) teilten sich die täglichen Besuche untereinander. Auch Schulfreunde kamen regelmäßig nach Hamburg.

Die Großflottbeker Teamkolleginnen stellten einen Besuchsplan auf, der für jeden Tag zwei Personen vorsah. Außerdem schickten sie Fotos von allen Unternehmungen, um ihre Mitspielerin teilhaben zu lassen an dem Alltag, den sie selbst nicht erleben konnte. Täglich bekam sie Unmengen von Nachrichten aufs Handy. Die Screenshots davon hat sie in einem Album zusammengestellt. „All das hat mir unheimlich viel bedeutet, weil es mir gezeigt hat, wie viele Menschen Anteil an meinem Leben nehmen“, sagt sie.

Silja will zurück ins Hockeytor

Natürlich hat sich Silja Paul in gewissen Momenten die Frage gestellt, die sich viele stellen, die vom Schicksal hart getroffen werden: Warum ich? Ob die Krankheit als Strafe für irgendetwas gelten sollte, hat sie überlegt, aber den Gedanken schnell wieder verworfen. Und so ist sie bei anderen Fragen gelandet: Was zeigt es mir, dass ich diese Krankheit bekommen habe? Was kann ich daraus für die Zukunft mitnehmen?

Ihre Antwort darauf ist eine Entschleunigung des Lebens, ein Besinnen auf das, was sie als wirklich wichtig empfindet. „Durch die Erkrankung habe ich verstanden, dass ich mich nicht mehr stressen lassen darf. Materielles nehme ich nicht mehr wichtig, Familie und Freunde stehen im Mittelpunkt“, sagt sie. Die neue Gelassenheit tue ihr gut. „Früher hatte ich Angst vor dem Blutabnehmen. Heute weiß ich: So ein kleiner Piks ist gar nichts, wenn man erfahren hat, wie es sich anfühlt, wenn man eine Braunüle in der Halsvene stecken hat oder der Arzt zwölfmal stechen muss, weil die Venen einfach nichts mehr hergeben“, sagt sie in einem Tonfall, in dem andere über das Wetter reden.

Wenn es mit dem angestrebten Maschinenbaustudium nicht klappt, „dann gehe ich eben für eine Zeit ins Ausland, Kanada reizt mich“, sagt sie. Ein Ziel aus ihrem „alten“ Leben aber ist ihr nach wie vor wichtig: Sie will zurück ins Hockeytor. Der Traum von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio lebt, und wenn in einer Woche die Vorbereitung auf die Rückrunde der Feld-Bundesliga beginnt, will sie dabei sein. Natürlich fehlt es ihr an Muskelmasse, die schnellen Bewegungen, die Torhüter für ihre Paraden brauchen, sind noch nicht wieder möglich. Aber die Arbeit mit dem Athletiktrainer im Club hilft ihr, sich nach und nach auf das Level zurückzukämpfen, das ihr der Krebs streitig gemacht hat. „Sie darf es nicht übertreiben, aber aus ärztlicher Sicht ist sie wieder in der Lage, sich an die Belastungen des Leistungssports heranzutrauen“, sagt Hausarzt Gaede.

Abiball wird nachgefeiert

Mitte September war der letzte Behandlungszyklus abgeschlossen, Mitte November stieg sie nach Beendigung der Reha in der Nachsorgeklinik Tannheim im Schwarzwald wieder ins Training ein. Am 25. September beendete Silja Paul zudem mit der mündlichen Prüfung in Religion ihr Abitur mit einem Notenschnitt von 1,8. Das ist umso beachtlicher, wenn man weiß, dass sie die Klausuren schrieb, ohne dafür gelernt haben zu können.

Ihren Abiball im Sommer hatte sie allerdings verpasst, und genau deshalb wird er an diesem Sonnabend in der Gastronomie ihres Clubs nachgeholt. Charlotte und Amelie hatten die Idee dazu gemeinsam mit ihren Teamkolleginnen entwickelt. „Eine Woche vor der Diagnose hatte Silja sich ihr Ballkleid gekauft. Es wäre doch traurig, wenn sie es nicht tragen könnte. Deshalb haben wir als Team den Ball für sie organisiert“, sagen sie, „er ist auch eine Gelegenheit, ihre Genesung zu feiern und einen Schlussstrich zu ziehen unter das blöde Jahr 2016.“

Silja Paul weiß, dass sie auf den Schlussstrich unter ihrer Krankheitsbilanz noch wird warten müssen. Als geheilt gilt ein Leukämiepatient erst, wenn nach fünf Jahren keine Krebszellen mehr nachweisbar sind. Derzeit nimmt sie einmal wöchentlich ein Antibiotikum, dazu Präparate zum Aufbau des Immunsystems und zum Schutz der Organe. Einmal im Monat muss sie zur Blutuntersuchung, alle drei Monate zur Knochenmarkspunktion. Und natürlich bringt jeder Nachsorgetermin das Gedankenkarussell wieder in Schwung. Silja weiß, dass ihr Umfeld unter der Ungewissheit mehr leidet als sie selbst. „Ich konnte und kann wenigstens aktiv dagegen kämpfen, andere stehen hilflos daneben“, sagt sie. „Besonders schlimm war die Machtlosigkeit meiner Eltern.“

Silja will Menschen mit ihrer Geschichte Mut machen

Lange hat sie überlegt, ob es angebracht sei, mit den intimen Details ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Dass sie sich letztlich dafür entschieden hat, liegt darin begründet, dass sie Menschen Mut machen will, denen der Krebs jede Hoffnung zu rauben droht. Sie wirbt dafür, sich als Knochenmarkspender registrieren zu lassen. Und am Ende des Gesprächs sagt sie einen Satz, der in seiner Ehrlichkeit zunächst verblüfft – und dann mitten ins Herz trifft. „Ich möchte die Krankheit nicht missen“, sagt sie. „Nicht dass ich froh bin, Leukämie gehabt zu haben. Aber aus den Erfahrungen habe ich unheimlich viel gelernt.“

Das Ende ihrer Geschichte soll im Herbst 2021 geschrieben werden, wenn der Kampf gegen den Blutkrebs endgültig gewonnen ist. Und wer Silja Paul kennen gelernt hat, der kann nicht anders als fest daran zu glauben, dass es ein glückliches Ende werden wird.