Berlin/Hamburg. Hamburgs Erster Bürgermeister und SPD-Vize Olaf Scholz über den Bundestagswahlkampf, Steuersenkungen und das Gipfeltreffen G20.

Immer wieder wird er selbst als Kandidat für das Kanzleramt gehandelt: Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Beim Besuch in unserer Berliner Redaktion stellt er sich hinter den Gerechtigkeitswahlkampf des aktuellen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Ein Bündnis mit der Linkspartei kann er sich aber kaum vorstellen.

Sie haben für die SPD in Hamburg 45,6 Prozent geholt – und regieren mit den Grünen. Kanzlerkandidat ist aber Martin Schulz geworden. Was trauen Sie ihm bei der Bundestagswahl zu?

Scholz: Die SPD hat jetzt die Stärke, die sie benötigt, um bei der Bundestagswahl erfolgreich zu sein. Unser gemeinsames Ziel ist es, die stärkste Partei zu werden. Wir wollen den Auftrag bekommen, die Regierung zu führen.

Bei der ersten Testwahl im Saarland ist der Schulz-Effekt verpufft ...

Scholz: Natürlich hat es auch dort einen solchen Effekt gegeben, die Saar-SPD hat viel besser abgeschnitten, als im Januar vorhergesagt worden war.

Haben die Wähler an der Saar gegen Rot-Rot gestimmt?

Scholz: Sicherlich hat die Sorge, welchen Einfluss der frühere Ministerpräsident Lafontaine auf das Landesgeschehen haben könnte, bei vielen Wählern eine Rolle gespielt.

Was bedeutet das für den Bund?

Scholz: Nicht viel, Landtagswahlen sind Landtagswahlen. Für mich ist aber eines ganz klar: Wer in Deutschland regieren will, muss vorher beweisen, dass er dazu in der Lage ist. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas, wir haben eine erhebliche Verantwortung für die Europäische Union und für die Nato. Nur wer ein klares Bekenntnis zur weiteren Integration Europas und zu unserem gemeinsamen Verteidigungsbündnis abgibt, kann Teil einer Bundesregierung werden.

Damit wäre die Linkspartei aus dem Rennen.

Scholz: Das hat die Partei Die Linke selbst in der Hand. Lassen Sie mich mit einem Gerücht aufräumen: Häufig höre ich, die Grünen seien 1998 in der Regierung mit der SPD unter dem Kanzler Schröder doch auch vernünftig geworden. Das stimmt nicht: Die Grünen haben vor 1998 massive innerparteiliche Klärungsprozesse durchlaufen. Diese Prozesse waren wichtig, denn eine der ersten Aufgaben der neuen Regierung war der Bundeswehreinsatz im ehemaligen Jugoslawien. Bei der Partei Die Linke hat eine solche Klärung noch nicht stattgefunden.

Der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer hat die Linkspartei als „Nationalisten von Links“ beschrieben, die nicht in die Bundesregierung gehörten. Hat er Ihnen damit aus der Seele gesprochen?

Scholz: Es gibt ein vielsagendes gemeinsames Interview der Spitzenkandidatinnen der Partei Die Linke und der AfD, Sahra Wagenknecht und Frauke Petry, aus dem letzten Herbst. Was dort an antieuropäischer Haltung zutage tritt, kann niemand in der sozialdemokratischen Partei akzeptieren.

Überrascht Sie die neue Schwäche der Grünen?

Scholz: Ich bin nicht sehr überrascht, denn es hat sich abgezeichnet. Aber erfreut bin darüber nicht.

Freuen Sie sich, wenn die FDP wieder in den Bundestag einzieht?

Scholz: Ich bin mir gar nicht sicher, ob die FDP im nächsten Bundestag vertreten sein wird. Im Übrigen hat die sozialdemokratische Partei selber eine sozialliberale Tradition.

Martin Schulz setzt auf einen Wahlkampf um Gerechtigkeit. Geht es in Deutschland wirklich so ungerecht zu?

Scholz: Das Thema Gerechtigkeit wird immer mit der SPD verbunden sein. Ja, wir haben ein gutes wirtschaftliches Wachstum. Ja, wir haben den höchsten Beschäftigungsstand seit vielen Jahren. Aber gleichzeitig heißt das ja nicht, dass es in dieser gesamtwirtschaftlich erfreulichen Situation auch allen gutgeht. Ich empfehle, vorsichtig zu sein mit dem Urteil, alles sei gerecht. Man darf den Sorgen der Leute nicht mit Statistiken begegnen. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung haben wir in allen Industrieländern enorme Herausforderungen zu bewältigen. Darüber darf man nicht hinwegreden, sondern muss konkrete Lösungen vorschlagen.

Ihr Kanzlerkandidat verheißt als Lösung eine Ausweitung der Sozialleistungen und weitere Korrekturen an der Agenda 2010. Dabei hatte selbst Arbeitsministerin Nahles ihren Frieden mit den Reformen von Kanzler Schröder gemacht …

Scholz: Wir haben mit der Reformpolitik des Kanzlers Schröder die Grundlagen für den gegenwärtigen wirtschaftlichen Wohlstand gelegt. Heute, fast 15 Jahre später, geht es darum, unsere Politik an den aktuellen Fragen auszurichten. Es geht zum Beispiel um Qualifizierung. Deshalb ist es vernünftig, wenn Arbeitssuchende, die sich weiterbilden, während dieser Zeit finanziell unterstützt werden.

Was muss passieren, bevor die SPD mit Steuersenkungen in den Wahlkampf zieht?

Scholz: Wir sollten mit Versprechungen vorsichtig sein. Die Lage der öffentlichen Haushalte ist nicht so günstig, wie sie gegenwärtig oft empfunden wird. Und die Bürgerinnen und Bürger ahnen, dass diejenigen, die Steuersenkungen in großem Umfang ankündigen, ihre Versprechen nicht einlösen können.

Die Steuereinnahmen sind auf Rekordniveau …

Scholz: Wir erzielen Haushaltsüberschüsse, aber investieren noch zu wenig, um unsere Infrastruktur in Schuss zu halten. Mit Blick auf mögliche Steuersenkungen denke ich, man sollte bei den unteren und mittleren Einkommen über Erleichterungen nachdenken.

Was ist mit dem Solidaritätszuschlag für den Aufbau Ost? Wollen Sie ihn so lange erheben, bis das Bundesverfassungsgericht einschreitet?

Scholz: Auf Dauer wird der Solidaritätszuschlag nicht zu halten sein, das lässt die Verfassung nicht zu. In der nächsten Legislaturperiode muss daher ein Konzept zum schrittweisen Abbau des Soli entwickelt werden. Der Solidarpakt endet 2019. Danach wird diese Frage mit jedem Jahr dringender.

Es gibt Politiker, die an eine neue Steuer denken: eine Europasteuer.

Scholz: Ich halte nicht viel davon. Aber es gehört zur Ehrlichkeit demokratischer Politik, klar zu sagen, dass sich der deutsche Beitrag für Europa erhöhen wird, wenn die Briten die EU verlassen.

Auch die Franzosen könnten austreten – wenn die Rechtsextremistin Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnt.

Scholz: Nein, das wird nicht geschehen. Emmanuel Macron hat beste Aussichten auf einen Wahlsieg. Das Negative, das gerade vielerorts auf der Welt geschieht, kann sogar eine gute Entwicklung in Europa beschleunigen: Brexit, Trump, Putin, Erdogan – um es kurz zusammenzufassen – führen eher dazu, dass die proeuropäischen Kräfte in den Mitgliedstaaten Aufwind erhalten, wie die Wahl in den Niederlanden zuletzt gezeigt hat.

Bleibt die Türkei ernsthaft Kandidat für einen Beitritt zur EU?

Scholz: Die Türkei entfernt sich jeden Tag ein Stück weiter von der Europäischen Union: Journalisten und politische Wettbewerber werden verhaftet, Richter, Polizisten und Verwaltungsbeamte einfach entlassen, über die Todesstrafe wird plötzlich diskutiert. Das sind alles Dinge, die einem Beitritt in die Europäische Union entgegenstehen. Ich bin überhaupt nicht optimistisch, was die weitere Entwicklung angeht.

Wo verläuft die rote Linie?

Scholz: Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei wäre eine rote Linie. Mein Eindruck ist, dass sich Präsident Erdogan gerade sehr bewusst von Europa wegbewegt. Es ist nicht auszuschließen, dass die türkische Regierung demnächst erklärt, dass sie ihr Land nicht mehr in die EU führen möchte.

In Hamburg wurde ein Wahlkampfauftritt des türkischen Außenministers Cavusoglu abgesagt – unter Berufung auf den Brandschutz. Besonders überzeugend war das nicht …

Scholz: Wenn die deutsche Verwaltung sagt, es gibt Probleme mit dem Brandschutz, können Sie sicher sein, dass es welche gibt. Wir sind ein weltoffenes Land, in dem ständig Politiker aus anderen Ländern auftreten und sogar Wahlkampf machen. Das Störgefühl, das wir gegenwärtig bei Wahlkampfauftritten türkischer Politiker haben, rührt daher, dass sie für ein nationalistisches, anti-demokratisches Konzept werben. Besser wäre es, solche Veranstaltungen fänden nicht statt.

Der türkische Geheimdienst späht in Deutschland vermeintliche Erdogan-Gegner aus – zu denen er auch die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering zählt …

Scholz: Das ist illegal – und kann unter keinen Umständen hingenommen werden.

Spitzeldienste haben auch Imame des Moscheeverbands Ditib geleistet. Kann Ditib ein Partner des deutschen Staates bleiben?

Scholz: Spitzeldienste von Imamen sind strafbare Handlungen. Einige Fälle in Deutschland sind bekannt geworden, und jetzt wird ermittelt, ob das in größerem Stil geschehen ist. Ditib muss sich von solchen Leuten trennen. Außerdem muss der Moscheeverband klarstellen, dass er Teil des demokratischen Deutschlands sein will – und nicht Teil der türkischen Politik.

Mit welchem Gefühl schauen Sie in dieser Lage auf den G20-Gipfel in Hamburg?

Scholz: Ich halte es für notwendig, dass sich die Staats- und Regierungschefs in diesem Rahmen treffen. Es geht darum, dass die Welt in stürmischen Zeiten zusammenhält. Und das Treffen ist gerade deshalb richtig, weil unter den Teilnehmern auch Politiker sind, deren Absichten uns Sorge bereiten. Das Schlimmste wäre doch, nicht miteinander zu reden.

Muss das Treffen ausgerechnet in einer Großstadt sein?

Scholz: Nur eine Großstadt wie Hamburg verfügt über die Infrastruktur und die Hotels, um einen G20-Gipfel auszurichten. In manchen Städten gibt es solche Veranstaltungen regelmäßig, etwa in New York, das übrigens viel dichter besiedelt ist als Hamburg, oder in Brüssel mit dem Nato-Hauptquartier. Die Treffen auf Ministerebene nimmt in diesen Städten kaum jemand mehr zur Kenntnis. Dort wundert sich niemand, wenn wegen einer Kolonne mal kurzfristig eine Straße gesperrt wird. Ich wünsche mir sehr, dass wir über die Themen diskutieren, die auf dem Gipfel verhandelt werden. Und ich wünsche mir auch, dass die Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen, zum Beispiel im Rahmen von friedlichen Kundgebungen oder auch an den Veranstaltungen der Zivilgesellschaft.

Würden Sie denn noch einmal den Finger heben, wenn quasi die heiße Kartoffel rumgeht, wo ein solcher Gipfel stattfinden kann?

Scholz: So habe ich das nicht wahrgenommen. Die Entscheidung der Kanzlerin für Hamburg ist für unsere weltoffene und kosmopolitische Stadt eine große Ehre.