Berlin/Hamburg. Dr. Dirk Heinrich vertritt 5000 Ärzte und Psychotherapeuten. Der HNO-Arzt über Fehler der Politik, Notfälle und Patienten-Ansprüche.
Der HNO-Spezialist Dr. Dirk Heinrich (59) ist erneut zum Vorsitzenden der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gewählt worden. Damit ist er der „Ober-Arzt“ von Hamburgs rund 5000 niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten. So sieht er sich aber nicht. Heinrich, der in seiner schmalen Freizeit Ärzte in Ruanda weiterbildet, beklagt, dass die Politik immer mehr in die KV hineinregieren wolle. Dabei könne nur die KV die medizinische Versorgung der Patienten sichern.
Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Heinrich, wenn ich mit einer Erkältung und offenbar schlimmen Hals-Nasen-Ohren-Geschichte zu Ihnen komme, verschreiben Sie mir Antibiotika, wenn ich danach frage?
Dirk Heinrich: Erkältungen werden durch Viren verursacht. Da helfen Antibiotika nicht. Für ein Antibiotikum müsste eine bakterielle Infektion vorlegen, das richtet sich nach klinischen Gesichtspunkten. Man kann auch mal einen Abstrich machen. Aber bei Beschwerden, die erfahrungsgemäß zwischen sieben und zehn Tagen dauern, ist es fraglich, ob das was bringt. Bis das Ergebnis da ist, vergehen weitere Tage. Man kann auch einen Schnelltest machen, der ergibt aber auch nur eine Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent.
Fragen Ihre Patienten gezielt nach Antibiotika?
Heinrich: Es gibt Patienten, die glauben: Nur ein Antibiotikum hilft mir. Da braucht es etwas mehr Überzeugungsarbeit. Manche kommen, weil sie schon ein Antibiotikum hatten und sich fragen, warum es nicht hilft.
Dr. Google und Ärzte-Hopping
Warum wir das fragen: Patienten googeln sich im Internet Diagnosen und Therapien zusammen und betreiben Doktor-Hopping. Wie gehen Hamburgs Ärzte damit um?
Heinrich: Das erfordert häufig einen deutlich erhöhten Aufklärungsaufwand. Übrigens bevor man ein Antibiotikum gibt, sollte man ein Antibiogramm erstellen. Das fällt aber in den budgetierten Bereich, es erhöht die Laborkosten. Die Krankenkassen übernehmen das nicht zu einhundert Prozent, Und Schnelltests werden gar nicht übernommen. Es wird uns nicht bezahlt. Diese Tests muss ich den Patienten als Igel-Leistung anbieten…
… eine individuelle Gesundheitsleitung, die der Patient selbst zahlt.
Heinrich: Die Kassen sehen Igel-Leistungen ja als Teufelswerk. Es sind aber viele sinnvolle Leistung dabei. In diesem Fall würden wir also dem Patienten eine Igel-Leistung verkaufen, damit die Kassen die Laborkosten sparen. Wir kommen aus einer Zwickmühle nicht heraus: Der Kassenarzt ist bereit, sich auf eigenes wirtschaftliches Risiko niederzulassen und den Patienten zu dienen. Die Politik hat aber die Bezahlung der Kassenärzte begrenzt. Im Hinterkopf müssen wir uns immer fragen, was eine Behandlung kostet. Die Politik spricht zwar von optimaler Versorgung, will sie aber nicht bezahlen. Wir kämpfen dafür, dass wir genügend Ressourcen für unsere Patienten haben. Aber 25 Prozent meiner Arbeit wird mir in Hamburg nicht bezahlt.
Woher kommt das und was sind die Folgen?
Heinrich: Wir haben Politiker am Werke, die glauben, man könne alles planen.
Namen bitte!
Heinrich: Karl Lauterbach und andere.
Gesundheitsexperte der SPD.
"Dann gehen die Ärzte auf die Straße"
Heinrich: Man hat jetzt die Selbstverwaltung der Ärzte eingeschränkt, es gibt eine Verschiebung von der Rechtsaufsicht zu einer Fachaufsicht. Die Behörden und das Bundesgesundheitsministerium regieren in unsere Arbeit hinein. Wir kommen immer mehr in ein staatliches, geplantes System, dabei waren es die Selbstverwaltung, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die diesen weltweit einmalig guten und einfachen Zugang zu Haus-und Fachärzten organisiert haben. Wenn man uns das wegnimmt, gehen die Ärzte wieder auf die Straße.
Gibt es diesen Glauben an den Plan in Hamburg auch?
Heinrich: Es gab den Glauben, man könne eine kleinräumige Bedarfsplanung für Ärzte machen: soundsoviele Hausärzte in Volksdorf, soundsoviele Chirurgen in Farmsen. Bei der Studie, die auf unseren Vorschlag vorher gemacht wurde, ist herausgekommen, dass sich das nicht nach politischen Grenzen richtet. Es sind schlicht gefühlte Probleme, wenn die Leute sagen, in Steilshoop gebe es zu wenige Ärzte. Ich bin ja auch bundespolitisch unterwegs. Und wenn die Brandenburger unsere Probleme hätten, wären sie glücklich. In Hamburg ist man selbst aus Bergedorf mit der S-Bahn innerhalb weniger Minuten bei jedem Facharzt. Da wären die Brandenburger aber froh.
Trotzdem will kaum ein Arzt sich in Billstedt oder Wilhelmsburg niederlassen oder dort eine bestehende Praxis übernehmen.
Heinrich: Wir haben eine Einnahmeschwäche, wenn man die Praxis nur mit Kassenpatienten bestreiten muss. Nochmal: Jede vierte Leistung wird von den Kassen nicht bezahlt. In einigen Stadtteilen gibt es kaum oder keine Privatpatienten und ohne die geht es kaum.
Ärzte brauchen Privatversicherte
Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks hält die privaten Krankenversicherungen für überflüssig. Im Bundestagswahlkampf will sich die SPD wieder für eine Bürgerversicherung einsetzen. Das wird den Ärzten nicht schmecken.
Heinrich: Die Einnahmen durch die PKV-Versicherten wie Lehrer und Beamte sind notwendig, damit das ganze System noch funktionieren kann. Wenn Sie in Horn, Billstedt, am Osdorfer Born oder in Jenfeld mit einer vollen Praxis nicht mehr verdienen als ein Oberarzt im Krankenhaus, gehen Sie dort nicht hin.
Nennen Sie doch mal Zahlen.
Heinrich: Mein Vorgänger in meiner Praxis hatte vor 21 Jahren einen Scheinschnitt von 55 Euro pro Patient und Quartal. Ich habe einen von 39 Euro. Warum soll ich als Oberarzt im Krankenhaus mit 120.000 Euro Gehalt pro Jahr mich niederlassen, um für 100.000 Euro im Jahr deutlich mehr zu arbeiten? Da bekomme ich auch keinen Kredit von der Bank, denn die fragen: In Jenfeld wollen sie eine Praxis aufmachen? Dann geben Sie mal ihr Häuschen als Sicherheit! Die Politik kann doch nicht eine Bedarfsplanung machen und sagen: Das flutscht schon. Flutscht nicht. Solange man nicht genug für die Kassenpatienten bezahlt, sollte kein Politiker eine Zweiklassenmedizin behaupten und auf Privatpatienten schimpfen.
Wie wirkt sich der Trend aus, dass immer mehr Patienten in die Notaufnahmen der Krankenhäuser gehen, anstatt in die Notfallambulanzen der Kassenärztlichen Vereinigung?
Den Patienten fällt ein, dass sie ein Notfall sind
Heinrich: Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass wir es nicht mit mehr Notfällen, sondern mit einem geänderten Inanspruchnahmeverhalten zu tun haben. Am Dienstagabend um 21 Uhr fällt mir plötzlich ein: Ich möchte zum Arzt und brauche eine Praxis, die die gesamte Medizin bietet, in bester Qualität, sofort. Dann muss ich los – und das Krankenhaus liegt am nächsten. Notfallpraxen gibt es nur zwei. In den Krankenhäusern werden die Patienten dann häufig von Assistenzärzten begutachtet, es wird eine große Diagnostik ausgelöst, die viel Geld kostet. Bei einem erfahrenen niedergelassenen Arzt würde man viele Fälle schneller und günstiger behandeln.
Aber es gibt doch jetzt die Überlegung und erste Projekte, an den Krankenhäusern sogenannte Portalpraxen einzurichten. Diese unterscheiden die Patienten in die, die sofort in eine Klinik müssen, und die, die zum Facharzt gehören.
Heinrich: Das könnte funktionieren, wenn man sagt, das macht man an vier Krankenhäusern über Hamburg verteilt und die 17 anderen Kliniken nehmen keine Notfallpatienten mehr auf, die zu Fuß kommen. Aber die Krankenhäuser brauchen diese Patienten auch, um ihre Betten zu füllen. Das gibt nur keiner zu. Es heißt doch immer: Wir können aus ethischen Gründen keinen abweisen. Dabei fahren Busse in Hamburg herum, auf denen steht: Kommen Sie bei medizinischen Beschwerden in unsere Krankenhausnotaufnahme.
Die Krankenhäuser sagen, die Werbung gibt’s schon lange nicht mehr.
Heinrich: Das haben sie wohl eingestellt, als es aufgefallen ist. Wir als Kassenärztliche Vereinigung müssen uns überlegen, wie wir den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden. Es kann dabei herauskommen, dass wir uns mit den Krankenhäusern an einen Tisch setzen. Aber für Portalpraxen brauchen wir Ärzte und Mitarbeiter. Das ist nicht mal eben schnell gemacht. Und in der Politik sehe ich wenig Bereitschaft zu sagen: Wir entziehen den 17 Krankenhäusern, die wir nicht mehr für die Notfallversorgung brauchen, die Erlaubnis, eine Notfallambulanz zu betreiben.
Nur noch vier Notaufnahmen in Hamburg?
Warum macht man das nicht?
Heinrich: Ich bitte Sie! Die Senatorin stellt sich doch im Jahr der Bundestagswahl nicht hin und sagt, Patienten können nur noch in vier Notaufnahmen gehen, die anderen sind geschlossen. Wir brauchen andere Lösungen für das Anspruchsverhalten der Patienten. Umerziehung funktioniert meistens nicht. Die Frage ist: Wie kann man den Patienten ressourcenschonend entgegenkommen?
Viele gehen in die Notaufnahmen, weil sie keinen Termin beim Facharzt bekommen haben.
Heinrich. Auch das ist meist ein gefühltes Problem. Und die Terminservicestellen(TSS) können das nicht lösen. Wenn es zu wenig Rheumatologen gibt, kann auch eine TSS keine zusätzlichen Termine vergeben. Die Hälfte der Patienten, die dort anrufen, und es sind wenige in Hamburg, legen noch während der 90-sekündigen Ansage auf. Viele waren noch gar nicht beim Hausarzt, erfüllen also nicht die Voraussetzungen für die Terminservicestelle. Und jeder Vierte, der da einen Termin bekommt, nimmt ihn gar nicht war.
Woran liegt das?
Heinrich: Nehmen Sie mal Gynäkologen oder Urologen. Wo es sehr persönlich zugeht, will man nicht irgendeinen Termin bei irgendeinem Arzt irgendwo in Hamburg. Bei mir in der Praxis kann es sein, dass ich am Dienstagvormittag um 10.23 Uhr keinen Termin freihabe, den der Patient aber unbedingt will. Der Patient muss sich dann entscheiden: Ist mir der Arztbesuch oder mein anderer Termin wichtiger? Deshalb sagen manche, beim Heinrich kriegst du keinen Termin. Das sind doch keine echten Probleme, nur weil man seinen Wunschtermin nicht bekommt.
Upcoding der Diagnosen ist unethisch
Der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter Krankenkasse, der Techniker-Chef Jens Baas, hat im Abendblatt-Interview gesagt, manche Kassen würden Ärzte dazu aufrufen, ihre Patienten kranker zu machen, als sie sind. Hintergrund: Dadurch erhalten die Krankenkassen im sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich aller Kassen mehr Geld. Das wäre Betrug und kann für die Patienten große Nachteile haben. Warum machen die Ärzte da mit?
Heinrich: Ich wüsste nicht, wo ein Arzt davon profitiert, dass er einen Patienten kranker macht, als er ist. Das finde ich unethisch.
Findet Baas auch.
Heinrich: Dann sind wir uns ja einig. Aber es gibt wohl Krankenkassen, die schicken Berater in die Praxis und fordern Ärzte auf, Diagnosen zu korrigieren. Wenn so einer zu mir käme, würde ich ihn rauswerfen.
Baas sagte, die Kassen hätten ein Interesse, für eine Diagnose ein „Upcoding“ zu bekommen, eine Höhereinstufung der Diagnose.
Heinrich: Was berechtigt ist, muss korrekt eingetragen werden. Wenn beispielsweise bei einer Verschreibung eines Medikaments die Diagnose Diabetes fehlt, muss die dokumentiert werden. Aber man darf nicht hingehen und dem Patienten noch eine Niereninsuffizienz andichten.