Hamburg. Ärzte, Kliniken und Verbände wollen Reformen, damit nur noch echte Notfälle behandelt werden. Was sich in Zukunft ändern könnte.
Die medizinische Versorgung in Hamburg steht vor einer Revolution. Wegen der hoffnungslos überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser und wegen vieler Patienten, die mit Bagatell-Erkrankungen kommen, soll das gesamte Notfallsystem auf neue Pfeiler gestellt werden.
Geplant ist eine Konzentration von Notfallambulanzen an einer Handvoll Standorten, an denen gleichzeitig niedergelassene Ärzte die Patientenströme lenken sollen. Dort entscheiden dann erfahrene Ärzte über die Laufkundschaft: Dieser Patient kommt in die Krankenhaus-Notaufnahme, jener zum Hausarzt, der sich im Nachbargebäude befindet. Für diese Neuordnung soll 2017 in Harburg ein Pilotprojekt starten. Es gilt als Blaupause für ganz Hamburg. Dadurch müssen Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte eng zusammenarbeiten, was sie derzeit nicht tun. Die Vision: Am Ende gibt es nur vier Zentren im Norden, Süden, Osten und Westen Hamburgs.
Diese Zahl wird sicher größer sein – momentan gibt es 21 Notfallambulanzen – und Details der Zusammenarbeit müssen noch ausgearbeitet werden. Aber nach Abendblatt-Informationen sind die Gespräche zwischen den Krankenhäusern und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) fortgeschritten. Die Gesundheitsbehörde von Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) ist eingebunden.
75.000 Patienten jährlich im UKE
Und die Krankenkassen machen Druck wegen der enorm steigenden Kosten: Mit einem neuen Gutachten im Rücken fordert der Verband der Ersatzkassen (Vdek) an den Kliniken Anlaufstellen „für eine rasche Erstbegutachtung“. Die Hamburger Vdek-Chefin Kathrin Herbst sagte: „Damit helfen wir den Patienten, schnell den für sie richtigen Behandlungspfad zu finden. Gleichzeitig entlastet ein solches Angebot die Notaufnahmen.“ Diese neue ambulante Notfallversorgung solle „transparent, gut erreichbar und zu jeder Zeit verfügbar sein“. Fachgesellschaften gehen davon aus, dass jeder zweite Patient nicht in die Notaufnahme gehört.
Der Leiter der Notfallaufnahme im UKE, Dr. Ulrich Mayer-Runge, muss pro Jahr 75.000 Patienten begutachten lassen. 22.000 davon kommen liegend, das Gros zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Bus. Einige dann, wenn sie fertig gefrühstückt haben oder ihnen ihr Schmerz eingefallen ist.
Manche Patienten kommen mit Kopfschmerzen
Auch wenn Mayer-Runge Erkrankungen nicht bagatellisieren möchte, sagt er doch: Viele Patienten gehörten in die normale Sprechstunde. Sie blockierten die Notaufnahme für die akuten, besonders ernsten Fälle. „Die Patienten fühlen sich von der Symptomatik bedroht. Solange wir keinen Hausarzt hinzuziehen können, müssen wir untersuchen. Wir wollen die Patienten überzeugen, aber das gelingt uns selten.“ Der Vizevorsitzende der KV, Stephan Hofmeister, sagte: „Wer sich für einen Notfall hält, geht irgendwo hin. Der verhält sich nicht sozialversicherungstechnisch korrekt.“ Die Kosten seien aber im Krankenhaus deutlich höher als bei niedergelassenen Ärzten. Manche Patienten kommen mit Kopfschmerzen, Durchfall und entzündeten Insektenstichen in die Notaufnahme, klagen Experten.
Die KV macht derzeit eine Studie über Notfälle. Erstes Ergebnis: Der Patient will sofort eine umfassende Diagnostik. Vor allem Heranwachsende drängen in die Notaufnahmen. Experten machen ein verändertes Körpergefühl dafür verantwortlich – und Dr. Google. Da bilden sich manche bei Bauchweh einen Tumor ein.
Belastung für Ärzte und Pfleger
Die 112 ist bekannt, die 22 80 22 schon weniger – und wer kennt eigentlich die 116 117? Mit diesen Telefonnummern erhalten die Hamburger im Notfall Hilfe. Die allgemeine Nummer (112) sichert den Zugang zu Feuerwehr und Krankenwagen. Die beiden anderen führen zum Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Die KV betreibt außerhalb der Öffnungszeiten der Haus- und Fachärzte in Hamburg zwei Notfallambulanzen in Farmsen und Altona und lässt zusätzlich jede Nacht in zwölf Autos Notärzte durch die Stadt zu Patienten brausen. Und doch strömen Notfallpatienten oder die, die sich dafür halten, ins UKE, in die Notaufnahmen der Asklepios-Krankenhäuser, ins Marienkrankenhaus und andere Häuser. Mehrfach hatte das Abendblatt über die Belastung der Kliniken sowie der Ärzte und Pfleger berichtet. Inzwischen ist die Situation so dramatisch, dass Krankenhäuser und KV nun Hamburg-weit die Akutversorgung auf neue Füße stellen wollen. Im kommenden Jahr soll in Harburg ein neues Notfallzentrum eingerichtet werden, als Pilotprojekt für Hamburg.
In keiner anderen Stadt werden zum Beispiel Schlaganfallpatienten so schnell und gut behandelt wie in Hamburg. Doch gehören Menschen mit anhaltenden Kopfschmerzen oder einer kleinen Wunde vom Fußballspielen wirklich neben schwere Fälle ins UKE? Nein, sagen Ärzte und Kassen-Experten unisono. Niedergelassene Ärzte erhalten 30 oder 40 Euro für einen behandelten Notfall, das Krankenhaus 120 – alles bezahlt von allen gesetzlich Versicherten. Immer wieder im Gespräch: eine Notfallgebühr. Manch Hausarzt würde sie begrüßen, der UKE-Notfallkoordinator Dr. Ulrich Mayer-Runge sagt: „Bringt nichts.“ KV-Vizechef Dr. Stephan Hofmeister verweist auf Frankreich und die Niederlande: Eine Art Eintrittsgebühr könnte die Überbelastung der Notaufnahmen mildern.
Neue Terminservicestellen sind bislang ein Flop
In England hat man jetzt ein modernes Mittel getestet: Medizinexperten haben eine Webseite eingerichtet, auf der man Beschwerden und Symptome eingeben kann – und die Postleitzahl. In den Suchergebnissen sind dann niedergelassene Ärzte oder ambulante Notfallpraxen verzeichnet. Das hilft offenbar, die Patientenströme zu lenken.
Doch lassen sich die Patienten umerziehen? Die neuen gemeinsamen Anlaufstellen von Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten sollten an den Kliniken sein, schlägt Kathrin Herbst vor, die Leiterin der Hamburg-Vertretung des Kassenverbandes Vdek. Man wolle die Patienten nicht bevormunden, sondern Transparenz herstellen. „Je nach Dringlichkeit sollen die Patienten dann entweder während der Sprechstundenzeit an eine niedergelassene Arztpraxis oder in die Notaufnahme der Klinik geleitet werden. Außerhalb der Sprechstundenzeit wird die niedergelassene Arztpraxis durch die ambulante Notdienstpraxis ersetzt, die am Krankenhaus angesiedelt ist.“
Notfallarzt Mayer-Runge hört immer wieder Ausreden, warum Patienten mit deutlich geringfügigen Erkrankungen ins UKE kommen. Manche haben keinen Hausarzt, arbeiten nur zeitweise in Hamburg, haben keinen Termin bekommen – oder sagen die Schlagwörter, bei denen auch erfahrene Mediziner aufhorchen und größere Untersuchungen einleiten. Aber, sagt Mayer-Runge: „Es kommt auch mal der Herzinfarkt mit dem Fahrrad ins UKE.“ Dann heiße es: Jetzt aber schnell handeln.
Und die neuen Terminservicestellen, die die KV auf politischen Druck einrichten musste, sind bislang ein Flop. Nur wenige Hamburger Patienten rufen hier an, um binnen vier Wochen einen Termin bei einem Orthopäden, Augenarzt, Neurologen oder anderen Facharzt zu vereinbaren. Und: KV-Vize Hofmeister sagte, fast jeder zweite Patient, der hier einen Termin erhält, erscheint dann gar nicht in der Praxis. Hofmeister appelliert an unsichere Patienten: „Der Hausarzt, der Sie zwei Jahre kennt, weiß es meist besser als der Notarzt, der Sie einmal sieht.“