Hamburg. Initiative fordert 600 Lehrerstellen mehr für Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung sowie barrierefreie Schulen.

Die erste Hürde ist genommen: Die Volksinitiative„Gute Inklusion für Hamburgs Schüler“ hat innerhalb von nur sechs Wochen 10.386 Unterstützer-Unterschriften gesammelt. „So viele Unterschriften in so kurzer Zeit zeigen, wie wichtig insbesondere den Eltern die bessere personelle und räumliche Ausstattung der schulischen Inklusion ist“, sagt Sylvia Wehde, Mutter dreier Schulkinder und Vertrauensperson der Initiative.

600 zusätzliche Lehrer gefordert

Die Inklusion zählt zu den größten Herausforderungen des Schulunterrichts. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die früher auf eine Sonderschule angewiesen waren, haben seit 2010 das Recht auf den Besuch einer allgemeinbildenden Schule. Inzwischen lernen rund 70 Prozent der Jungen und Mädchen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen gemeinsam mit allen anderen Kindern an einer Grund-, einer Stadtteilschule oder – selten – an einem Gymnasium.

Die Volksinitiative fordert 600 bis 650 Lehrerstellen zusätzlich für den inklusiven Unterricht. „Die Bürgerschaft muss die seit 2012 erfolgten Kürzungen bei der Stundenzuweisung pro Schüler mit einer Behinderung oder anderem sonderpädagogischen Förderbedarf rückgängig machen“, sagt Pit Katzer, früherer Leiter der Erich-Kästner-Stadtteilschule in Farmsen-Berne.

Anpassung an die Realität

Den weitaus größten Teil der Inklusion machen die Kinder mit einem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache sowie soziale und emotionale Entwicklung (LSE) aus. Jede Schule erhält rechnerisch für jedes LSE-Kind drei Lehrer-Unterrichtsstunden pro Woche zusätzlich. Allerdings geht die Schulbehörde pauschal von einem Anteil von LSE-Kindern in Höhe von vier Prozent aus. Auch wenn mehr LSE-Kinder in den Klassen sitzen, gibt es nicht mehr Personal.

Die Initiative „Gute Inklusion“ hält dagegen acht Prozent zum Beispiel für die vierten Klassen für realistisch. „Wir wollen eine Anpassung an die Realität und fordern die Bemessung des Personals bezogen auf einen LSE-Anteil von sieben Prozent“, erläutert Katzer.

Laut Schulbehörde sind seit 2012 an den staatlichen allgemeinbildenden Schulen immerhin 1141 Vollzeitstellen von Lehrern und Sozialpädagogen zusätzlich für Aufgaben der Inklusion geschaffen worden – zu wenig aus Sicht der Volksinitiative. „Die Eltern, Pädagogen und Schüler erleben täglich die unzureichende Ausstattung und sind sehr verärgert über die Halbwahrheiten und die Schönfärberei der Bildungspolitiker von SPD und Grünen zu diesem Thema“, sagt Maik Findeisen, Elternvertreter und dritte Vertrauensperson der „Guten Inklusion“.

Mehr Quadratmeter für Rollstuhlfahrer

Die Initiative fordert außerdem mehr Personal auch für die Schüler mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Zehn Jahre lang sollen zudem zehn Millionen Euro in den barrierefreien Ausbau der Schulen investiert werden. Schließlich sollen Schüler mit Behinderungen an allgemeinbildenden Schulen genauso viel therapeutisches und pflegerisches Personal erhalten wie ihre Mitschüler an Sonderschulen.

Die Initiative fordert auch eine Berücksichtigung behinderter Schüler bei der Bemessung des Raumbedarfs. Für jeden von ihnen sollen rechnerisch acht Quadratmeter zusätzlich eingeplant werden. Bislang gibt es im Musterflächenprogramm für Schulen keine Trennung von Schülern mit und ohne Behinderung.

Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt, emeritierte Professorin für Rehabilitationspädagogik, hält die Forderungen der Initiative für gerechtfertigt. „Inklusion ist nicht nur eine Frage des Geldes, aber die materiellen Rahmenbedingungen müssen stimmen“, sagt die Hamburger Wissenschaftlerin. „Und die Ausstattung besonders in den Stadtteilschulen ist aus meiner Sicht nicht ausreichend.“

Hamburg in Inklusion Vorreiter

Ellger-Rüttgardt hat in ihrem Buch „Inklusion – Vision und Wirklichkeit“ (Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, 29 Euro) unter anderem die Umsetzung der Reform in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg verglichen. „Bislang spricht vieles dafür, dass es Hamburg besser als Berlin gelungen ist, die Spanne zwischen bildungspolitischer Rhetorik und pädagogischer Praxis zu verringern“, schreibt Ellger-Rüttgardt immerhin. Dennoch blieben Fragen offen.

Die Volksinitiative will noch weiter Unterschriften sammeln, um den Druck auf Senat und Bürgerschaft zu erhöhen. „Andererseits wollen wir, dass sich die Bürgerschaft noch vor den Sommerferien mit unseren Forderungen in öffentlicher Sitzung beschäftigt“, sagt Katzer. Deswegen werde die Initiative ihre Unterschriften bereits Anfang Mai in der Senatskanzlei abgeben und die gesetzlich mögliche Zeit bis zum 22. Juli nicht nutzen.