Hamburg. Vor 25 Jahren löste der Bau des Einkaufszentrums auf dem Gelände des jüdischen Friedhofes Proteste aus. Die Bilder gingen um die Welt.
Es waren unerfreuliche Bilder, die Hamburg international negative Schlagzeilen bescherten: Polizisten packte orthodoxe Juden und trugen sie von einem Baugelände in Richtung Straße. Die Männer mit langen Bärten und Schläfenlocken klammerten sich an Absperrgitter, schimpften laut und wehrten sich verbissen.
Die makabere Aktion war vor 25 Jahren der traurige Höhepunkt eines verbissen ausgetragenen Streits, der die Stadt monatelang in Atem hielt. Eine Lösung des Konflikts gab es erst nach aufwendigen Verhandlungen, aber bei vielen Zeitzeugen blieb noch lange die Erinnerung an unwürdige Szenen zurück, und viele fragten sich noch monatelang, ob das alles wirklich so nötig war.
Nach einem Abriss wurden die Reste des ehemaligen Friedhofes erst entdeckt
Angefangen hatte die Krise mit dem Versuch, ein großes Gelände zwischen der Ottenser Hauptstraße und der Großen Rainstraße neu zu bebauen. Die Firma Büll & Liedtke hatte das Grundstück 1988 vom Hertie Konzern erworben und wollte dort ein neues Einkaufszentrum und Wohnungen errichten. Das Investitionsvolumen lag bei rund 300 Millionen Euro. Nach der Abrissphase wurde festgestellt, dass sich im Boden die Reste des einstigen jüdischen Friedhofs von Ottensen befanden – und der Kampf um diese historische Stätte begann. Die Wenigsten dürften damals von der Existenz des einstigen Gräberfelds gewusst haben, dessen Geschichte nun plötzlich wieder lebendig wurde.
Der Friedhof war bereits im späten 17. Jahrhundert angelegt und im Laufe der Jahre laufend vergrößert worden. Die letzten Beisetzungen soll es 1934 gegeben haben. Die jüdische Gemeinde musste das Gelände 1942 an die Stadt abtreten, die dort kurze Zeit später zwei Bunker erbauen ließ. 1950 setzten die Gemeinde und die Jewish Trust Corporation (JTC) den Anspruch auf eine Rückerstattung durch, verkauften das Grundstück dann aber aus Geldmangel an den Hertie-Konzern, der dort ein Kaufhaus erbaute. Die wenige erhaltenen Gräber wurden nach Ohlsdorf versetzt, die unterirdischen Reste des Friedhofs gerieten in Vergessenheit.
Als dann im Spätsommer 1991 Bauarbeiter auf Gebeine und Teile ehemaliger Grabanlagen stoßen, melden sich internationale jüdische Gemeinden mit Protestnoten zu Wort. Tenor: Der Friedhof sei auf ewig geheiligter Boden und dürfe nicht veräußert, geschweige denn verkauft werden. Rückblickend bezeichnen Vertreter der Jüdischen Gemeinde Hamburg den Verkauf als Fehler, der aber nicht mehr revidiert werden könne. Fakt auch: Die Baugesellschaft ist rechtmäßige Eigentümerin, und für den Neubau wurde eine einwandfreie Genehmigung erteilt. Das Grundstück war als Baugrund, nicht als Grabstätte verkauft worden. Hier ist Konflikt programmiert, dessen Potenzial damals zunächst kaum jemand ahnen kann.
Rund 100 Orthodoxe Demonstranten aus dem Ausland reisten an
Im August beginnen Demonstrationen der ultraorthodoxen Gruppierung Athra Kadisha, die sich in unregelmäßigen Abständen fortsetzten – unter anderem mit einer mitternächtlichen Demo im Februar. Rund 100 Orthodoxe sind angereist, unter anderem kommen sie aus England, Frankreich, Belgien und Holland. Immer wieder stellen sich die Männer bei eisigen Temperaturen auf die Baustelle. Sie singen, beten, klagen oder ziehen protestierend durch den Stadtteil.
Am zweiten März dann die Eskalation: Einige hundert Juden legen den Betrieb auf der Baustelle lahm und liefern sich handgreifliche Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einen Tag später verhängt das Bezirksamt Altona einen Baustopp. Es folgen hoch dramatische Wochen – einige Schlaglichter: Ein Schweizer Anwalt erstattet Strafanzeige wegen Grabschändung, Büll und Liedtke bieten das Gelände über einen Londoner Vermittler für 50 Millionen Mark zum Rückkauf an – erfolglos. Im Mai kommt es zu weltweiten Protesten in New York, Canberra, London und Antwerpen. Hamburg erlangt traurige Bekanntheit, die Baustelle wird mit einem hohen Zaun samt Sicherheitsschleusen abgeriegelt.
Ein Ober-Rabbiner schlug schließlich einen Kompromiss vor
Endlich trifft das lang erwartete Fax des Jerusalemer Ober-Rabbiners Yitzhak Kolitz ein, der als Vermittler angerufen worden war. Unter der wörtlichen Formulierung „Bauen ja, buddeln nein“ erlaubt er eine Überbauung ohne Ausschachtungsarbeiten, nennt allerdings jedes Gebäude, das auf dem Gelände entstehen sollte ein „Schandmal für Hamburg“.
Erst im Januar 1993 wird der neue Bauplan abgesegnet, auf dessen Grundlage unter anderem eine geplante Tiefgarage durch ein Parkdeck auf dem Dach ersetzt werden muss.
Schließlich beruhigte sich die aufgeheizte Stimmung wieder, alle Seiten zeigten sich mit der gefundenen Lösung einigermaßen einverstanden. Die Bauarbeiten für das heutige „Mercado“ beginnen schließlich erst im Oktober 1993 – anderthalb Jahre später als geplant. Die Fläche, auf der sich der Friedhof einest befand, wird mit einer Betondecke versiegelt, die nicht direkt bebaut werden darf. Heute ist dieses Konstrukt als großer Betonsockel im Tiefgeschoss des Einkaufszentrums auszumachen ist (siehe Beistück).
Der Investor erhielt später saftige Ausgleichszahlungen von der Stadt
Es ist ein Kompromiss, mit dem man in Hamburg leben konnte und kann – mit der Zeit wuchs Gras über die Angelegenheit. Doch ein schaler Nachgeschmack blieb noch lange. Zum einen war der Kompromiss teuer erkauft: Der Neubau konnte erst mit erheblicher Zeitverzögerung fertig gestellt werden – und nachdem die Stadt Büll und Liedtke Gebühren und Ausgleichszahlungen in Höhe von 16 Millionen Mark erlassen hatte.
Zum anderen war da der moralische Schaden, der letztlich schwerer wog als der finanzielle. Der Senat, der bei prestigeträchtigen Themen gerne Flagge zeigte, hatte die Dinge in Ottensen lange laufen lassen – zu lange, wie viele hinterher meinten.
Senat ließ Bauherren und Gläubige lange alleine bei den Verhandlungen
Investoren und Gläubige mussten phasenweise fast im Alleingang verhandeln, und beide Seiten sahen sich über Monate mit massiven Anfeindungen von außen konfrontiert. Auch Polizisten und Bauarbeiter hatten während dieser Monate einen schweren Stand, und es ist fraglich, ob eine Krise wie damals heute noch diese Dimension erreichen könnte.
Schließlich blieb auch noch der Schaden für HamburgsReputation.
„Die interessierte Öffentlichkeit in Amerika, Israel oder Australien bekam nicht die filigranen Spezialitäten und Schwierigkeiten des Falles Ottensen serviert, sondern meist die gröbere Version nach dem Klischee ,Seht her, die Deutschen haben nichts dazu gelernt’“, kommentierte das Abendblatt damals, „das hätte auf jeden Fall vermieden werden müssen."
Heute erinnern Gedenktafeln im Mercado an die Geschichte des Areals
Am Treppenabgang ins Untergeschoss des 1995 eingeweihten „Mercado“ sind seit 1996 mehrere Gedenktafeln angebracht. Sie informieren ausführlich über die Geschichte des Friedhofs und nennen auch die Namen der rund 4500 Toten, die dort einst bestattet wurden. „Für Namen, die durch Forschungen noch ermittelt werden könnten, ist zusätzlicher Platz gelassen. Unter den Tafeln steht ein Satz aus dem Alten Testament (Exodus 3,5): „Tritt nicht näher...denn die Stelle, auf der du stehst, ist heiliger Boden!“