Hamburg. Ian Bostridge und ein handverlesener Kreis von Mitstreitern führen in der Elbphilharmonie Benjamin Brittens „Curlew River“ auf.

Es geht mal wieder ­etwas zu spät los, wie so oft in der Elbphilharmonie. Auch als das Licht endlich heruntergedimmt ist, bimmelt noch ein Handy, eine Tür schlägt, Füße trappeln. Erst allmählich wird klar, dass es Choristen sind, die über die Ränge auf die Bühne kommen, sie singen dabei einstimmig einen gregorianischen Choral. Die Trommel übernimmt, dann setzt der Organist ein – aber man hört nichts. Martin Fitzpatrick macht eine entschuldigende Geste und verlässt die Bühne. Die vage Stille im Raum verheißt nichts Gutes. An solchen Momenten kann das Gelingen eines ganzen Konzerts hängen. Zu unruhig war dieser Beginn, Gelächter hängt in der Luft.

Ende des Festivals „Lux aeterna“

Und das ausgerechnet bei „Curlew River“. Mit Benjamin Brittens Werk, manche nennen es Oper, andere eine Kirchenparabel, geht das Festival „Lux aeterna“ zu Ende. Dessen Programm steht für Innerlichkeit und Spiritualität, weshalb die Atmosphäre für Störungen besonders anfällig ist. An diesem Abend hält das seidene Fädchen. Nach dem verstolperten Start erklingt die Orgel anstandslos, und nicht nur das: Die Beteiligten bringen das gut einstündige Werk auf eine Spannung, die ihresgleichen sucht.

Gegen „Curlew River“ wirken Opern von Mozart oder Verdi mit ihren definierten Handlungsabläufen, ihren Ouvertüren, Arien und Chören so hemdsärmelig, als wären sie Zirkusschwänke. Britten erzählt von einem Seelendrama. Er kehrt nichts nach außen. Ganz einfach ist das Stück ­gebaut, angefangen bei der Rahmenhandlung: Priester und Mönche ziehen in eine Kirche ein und führen vor der ­Gemeinde ein Laienspiel auf, das sich am Ufer des titelgebenden Flusses Curlew zuträgt.

Wer Ian Bostridge in der Rolle einer verzweifelten Mutter in die feinen Verzweigungen seiner Tenorpartie folgt, der weiß schon alles vom Schmerz seiner Figur. Vor Jahresfrist ist ihr Sohn entführt worden, sie hat vor Kummer den Verstand verloren. Auf der ­Suche nach dem Kind gelangt sie an den Fluss Curlew. Während der Überfahrt erzählt ihr der Fährmann von einem Kind, das vor einem Jahr mit einem ­gewalttätigen Fremden den Fluss überquerte und auf der anderen Seite starb.

Einzigartiges Stück Musiktheater

Dem Hamburger Publikum könnte die Erzählung bekannt vorkommen. „Sumidagawa“ heißt sie im Original und taucht auch in der Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa auf, die vor einem Jahr an der Staatsoper uraufgeführt wurde. In Japan ist „Sumidagawa“ kulturelles Allgemeingut. Britten arbeitet das Universelle daran heraus, doch auch in Gestalt einer Parabel ist es noch ein Hinweis auf die Genese dieses einzigartigen Stücks Musiktheater.

Der Komponist brachte von einem Aufenthalt in Japan so intensive Eindrücke vom Nô-Theater und seiner Musik mit, dass er partout selbst so etwas schreiben wollte. Um im Laufe des langwierigen Kompositionsprozesses unter Qualen nach und nach alle Elemente von Folklore wieder zu eliminieren.

Übrig blieb reiner, britischer Britten, eine Tonsprache wie Essenz. Selbst die japanischen Klänge – die raffinierten Beschleunigungen und Verzögerungen im Schlagwerk, die dem Gesang oft auf die Silbe genau folgen, die Harfe, die sich in Tönen so schwer wie Gewitter­regentropfen der Klangfarbe fernöst­licher Zupfins­trumente anverwandelt – haben nichts Dekoratives. Sie sind schlicht notwendig, wie überhaupt jedes einzelne Motiv und jede Wendung in diesem stillen Drama.

Seelenverwandter des Komponisten

Die Hörer, sie sind so spürbar dabei wie selten, erleben ein Sängerfest der besonderen Art, von den fabelhaften Männern der Britten Sinfonia Voices bis zum Tölzer Knabensolisten als Geist des Jungen. Es muss eben nicht immer schneller, weiter, höher sein. Wie sich stattdessen der Bariton Marcus Farnsworth als Reisender, der Bassbariton Ashley Riches als Fährmann und der Bass Jonathan Lemalu als Abt auf Brittens deklamatorischen Stil einlassen, das ist einfach großartig. Und die Intensität, mit der Ian Bostridge die Leiden der verwaisten Mutter durchmisst, lässt einmal mehr den Eindruck entstehen, dass der Tenor ein später Seelenverwandter des Komponisten ist.

Die Musiker der Britten Sinfonia sind nur zu sechst angereist. Sechs Virtuosen an Flöte, Bratsche, Kontrabass, Horn, Harfe und Schlagzeug hüllen die Erzählungen und Beschwörungen ein, mitfühlend zärtlich und im Ton so exquisit wie variabel. Selbst die Passagen, in denen mehrere Gruppen voneinander unabhängige Rhythmen spielen, wirken nicht chaotisch, sondern plastisch. So klein und kostbar „Curlew River“ gemacht ist, in ihrem schreitenden Duktus erinnert die Oper immer wieder an die unstillbare Wehmut und Friedenssehnsucht aus Brittens wuchtigem „War ­Requiem“.

Die wahre Botschaft aber steht zwischen den Notenzeilen. Man hört sie trotzdem. Was für ein Glück.