Hamburg. In Teil 2 unserer Serie „Handy – Sucht oder Segen?“ geht es um die Frage, wann das Mobiltelefon zur Seite gelegt werden sollte.
Wenn der Hamburger Unternehmer Alexander Bernhardt mit Geschäftsfreunden in ein Restaurant geht, wird ein bisschen gezockt. Die Gäste nehmen ihre Handys aus der Hand und legen sie in die Mitte des Tisches. Wer während des Essens zuerst nach seinem Smartphone greift, muss die Zeche für alle bezahlen. So bleibt Muße für eine gepflegte, weitgehend ungestörte Unterhaltung.
Laute Telefonate beschallen den Raum
Ein paar Plätze weiter im Lokal sit-zen nicht selten Besucher beisammen, die sich nichts zu sagen haben. Weil jeder mit sich und seinem Smartphone beschäftigt ist. Und kommt doch ein Gespräch in Gang, wird es immer wieder abrupt unterbrochen. Weil ein Anruf, eine SMS oder eine WhatsApp-Nachricht eintreffen. Mehr oder weni-ger interessante Klingeltöne und nicht selten lautstarke Telefonate beschallen den Raum. Jeder kennt das heutzutage – auch aus Büros, Cafés, Bussen oder Bahnen. Unfreiwilliges Mithören ist angesagt.
Alexander Bernhardt mag so etwas nicht. Zurückhaltung bei der Handynutzung sei besser, meint er. Er schätzt eine anständige Kommunikations-Hygiene. „Man muss den Umgang mit der modernen Technologie lernen“, sagt er, „wie früher den Umgang mit Messer und Gabel.“ Gute Manieren seien gefragt. Mehr denn je. Es müsse sich eine Kultur entwickeln, in der dem Gegenüber Aufmerksamkeit geschenkt werde. Der eine habe da mehr Gespür als der andere.
Der Mensch ist kein Sklave seines Geräts
Bernhardt ist Chef der Online-Agentur Hauptsache.net mit acht Mitarbeitern am Neuen Pferdemarkt. Der 46 Jahre alte Internet-Profi bezeichnet sich selbst als „Nerd“, also als Computer-Freak. Mit 17 Jahren besaß er seinen ersten Computer, einen Atari ST. Ende der 1980er-Jahre war das noch etwas Ungewöhnliches. Mit 21 finanzierte er mit Studentenjobs seinen ersten Mac, einen schwergewichtigen „Schlepptop“. Seit bald drei Jahrzehnten ist der Mann Mitglied im Chaos Computer Club. Ein Smartphone verschafft Freiheit und örtliche Unabhängigkeit. Es gehört für ihn zum Leben – ganz selbstverständlich. Der Mensch jedoch sei nicht Sklave dieses Hightech-Geräts, sondern umgekehrt.
Der inoffizielle Smartphone-Knigge
Was eigentlich im Alltag helfen soll, wird vielerorts zum Problem. Kaum ei-ne Konferenz vergeht, in der nicht einer oder mehrere mit ihrem Smartphone aktiv sind – mal halb heimlich unterm Tisch, mal aber auch absolut ungeniert. Oder es gibt Zeitgenossen, die in einem persönlichen Gespräch mit einem Auge unentwegt auf ihr Display schielen oder beim Reden plötzlich eine Mail schreiben.
Junge Leute sehen Handynutzung lockerer
Verabredete man sich einstmals präzise mit Ort und Zeit, heißt es neuerdings oft: „Wir telefonieren uns dann zusammen.“ Spontaneität und Unverbindlichkeit sind Trumpf. Zudem provozieren ständige Nachrichten Missverständnisse. Und per SMS übermittelte Trennungen von Lebenspartnern kommen nicht nur in Hollywood vor.
Was Ältere als unhöflich oder pein-lich empfinden, ist für den einen oder anderen Jüngeren völlig normal. In einer Umfrage der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen mit 2000 Teilnehmern erforschte Professor Ulrich Reinhardt sehr unterschiedliche Auffassungen von guten Umgangsformen.
Weniger groß ist die Diskrepanz, wenn es um die Frage geht, ob man mit dem Handy telefonieren sollte, wenn es andere stört, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Kino. 75 Prozent der 14- bis 17-Jährigen und 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen finden dies unpassend, im Vergleich zu 88 Prozent der 50- bis 64-Jährigen. Lautes Musikhören in Bus und Bahn halten 71 Prozent der Jugendlichen und 90 Prozent der älteren Generation für unschicklich. Erheblich größer sind die Unterschiede beim Thema Handynutzung in Gesellschaft. Während rund 90 Prozent der über 50-Jährigen es für richtig halten, das Smartphone wegzulegen, sehen das nur 62 Prozent der Jugendlichen so.
„Virtuelle Nebenfelder gehören zum Leben dazu“, sagt Professor Rein-hardt, „und viele akzeptieren das in-zwischen.“ Auch wenn Unterhaltungen dadurch oberflächlicher werden, weil man eben nur halb dabei sei. Multitasking und eine Präsenz quasi „in Häppchen“ würde den meisten jungen Menschen ausreichen. Sie sind es gewohnt. Andererseits hatte er seinen Studenten bei einer USA-Reise das Mitführen von mobilen Geräten untersagt. Nach anfänglicher Irritation habe Zustimmung überwogen: „90 Prozent haben hinterher gesagt, das Beste an der Tour sei das Handyverbot gewesen.“
In Restaurants wird auf Rücksichtnahme gesetzt
Dennoch sind solche Verbote selten. In Zügen sind Waggons mit Ruhezonen und Handyverbot eingerichtet; in den Kundenzentren der Bezirksämter und in einigen Wartezimmern bei Ärzten hängen ebenfalls Verbotsschilder.
In den meisten Restaurants ist Taktgefühl gefragt. Auflagen sind selten. „Beschwerden sind mir nicht bekannt“, sagt Ulrike von Albedyll, die Geschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbandes in Hamburg, „auch wenn man manchmal den Eindruck haben kann, als sprächen einige lieber mit ihrem Handy als mit ihrem Gegenüber.“ Nach ihrer Einschätzung bestehen in maximal zehn der mehr als 2000 Hamburger Restaurants konkrete Verbote. „Die Leute sind inzwischen wieder rücksichtsvoller geworden“, meint sie – außer in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Das für seinen vornehmen Ton bekannte Hotel Vier Jahreszeiten hat die dezent platzierten und formulierten Hinweiskärtchen schon vor Jahren abgeschafft. Dem Sinn nach stand dort: Um die Privatsphäre der Tischnachbarn zu wahren und selbst die Ruhe genießen zu können, bitte kein Handy. „Wir freuen uns über jeden Gast, der die Zeit in unserem Haus in vollen Zügen genießt und den Alltagsstress, die sozialen Medien und die mobile Abhängigkeit ablegt“, heißt es dazu heute aus der Direktion. „Nichtsdestotrotz kann nicht jeder auf sein Smartphone verzichten, was man in der heutigen Zeit wohl einfach so hinnehmen muss.“
101 Regeln für das digitale Benehmen
Den Ratschlägen für gute Manieren des Freiherrn Adolph Knigge aus dem Jahr 1788 folgte in der Neuzeit eine Netiquette für den Umgang im Internet, in Foren und sozialen Netzwerken wie Facebook. 2010 präsentierte die Telekom eine E-Etiquette mit 101 Regeln für das digitale Benehmen. In Diskussionsforen wurde dieses Regelwerk erweitert. So wird geraten, beim Handy-Telefonat mindestens drei Meter Abstand zu anderen Menschen zu wahren und nicht „wie ein Tiger im Käfig umherzuschleichen“. In öffentlichen Toiletten zu telefonieren sei absolut tabu – „weil eine rauschende Spülung alles verrät“.