Hamburg. Ausgerechnet in einem der ärmsten Stadtteile Hamburgs steht ein Gymnasium an der Spitze der virtuellen Klassenzimmer.
Wenn Christian Lenz (56) sich in seinem Büro im Erdgeschoss des Kurt-Körber-Gymnasiums in Billstedt etwas notieren muss, nutzt er weder Lehrerkalender noch Schreibblock. Stattdessen schreibt der Schulleiter mit einem digitalen Stift auf seinem Tablet-Computer.
In den Regalen stehen neben den üblichen Standardwerken über Didaktik auch Bücher über Religion und Naturwissenschaften – ein zweites Indiz, dass Lenz ein eher ungewöhnlicher Direktor ist. Mit der exotischen Fächer-Kombination Physik und Theologie startete Lenz vor fast 30 Jahren in den Schuldienst, engagierte sich später in der Lehrerfortbildung und leitete dort das Referat Medienpädagogik. Seit Mai 2010 ist er nun Chef des Kurt-Körber-Gymnasiums.
An der Spitze der digitalen Bewegung
Man sollte dies wissen, um zu begreifen, wieso sich ausgerechnet eine Schule in einem der ärmsten Stadtteile Hamburgs an die Spitze der digitalen Bewegung setzen konnte. Und eben nicht eines der Elite-Gymnasien in Winterhude oder Othmarschen.
Alles begann 2011 mit einer Vision inmitten des Hypes um das neue iPad aus der Apple-Schmiede. Lenz wollte genau diese Tablets für seine damals 86 Oberstufenschüler organisieren, wusste aber, dass die meisten Eltern seiner Schüler sich das niemals würden leisten können – in Billstedt lebt mehr als jeder Fünfte von Hartz IV. Also begeisterte Lenz die Körber-Stiftung für dieses Projekt, ein gemeinsamer Stifter verbindet eben. So mussten die Eltern im ersten Schritt nur die Versicherung zahlen. Und für die, die sich auch das nicht leisten konnten, übernahm das der Schulverein. Die Schulbehörde unterstützte Lenz ebenfalls, in Billstedt begann der Hamburger Schulversuch „Start in die nächste Generation“. Für insgesamt 900.000 Euro richtete die Behörde später für fünf weitere Schulen digitale Klassenzimmer ein.
Viele virtuelle Klassenzimmer
Seitdem ist im Kurt-Körber-Gymnasium nicht alles, aber doch vieles anders. Lenz erklärt: „Wenn ich als Lehrer früher eine Gruppenarbeit machen wollte, lief das in etwa so: Ich legte ein Thema fest, die Schüler entwickelten Fragen, recherchierten in Büchern und erstellten Papiervorlagen für ihren Vortrag. Heute nutzen wir eine Kommunikationsplattform im Internet. Hier kann ich beliebig viele virtuelle Klassenzimmer einrichten, wo ich Aufgaben stelle, Termine festlege und Material zum Downloaden bereitstelle. Die Schüler erarbeiten in Gruppen eine Präsentation, über die wir dann im Unterricht diskutieren.“
Funktionieren kann das digitale Klassenzimmer natürlich nur, wenn das Kollegium mitzieht. Ein Erdkundelehrer aus der Kreidezeit tut sich schwer, wenn er statt an der Tafel plötzlich mit einer App wie Google Earth die Alpen erklären soll. Deshalb schaffte Lenz auch für die Lehrer Tablets an und rief dazu auf, sie auch privat zu nutzen: „Macht damit im Urlaub Fotos, ladet euch Musik herunter.“
Kein Computer-Nerd
Doch bei aller Technik-Affinität ist Lenz mitnichten ein Computer-Nerd. Er sieht die Gefahren wie Internetsucht oder Mobbing in sozialen Netzwerken. Deshalb sind Smartphones nicht erlaubt.
Von einer Strategie, die allein auf Verbote setzt, hält Lenz jedoch nichts: „Wir haben eine Verantwortung, die Schüler für eine zunehmend digitale Gesellschaft fit zu machen.“ Dabei gehe es um Chancen wie die Informationsbeschaffung mit wenigen Klicks. Aber auch um Risiken: „Wir müssen den Schülern zeigen, wie sie mit der ständigen Erreichbarkeit umgehen können oder mit der Ablenkung durch E-Mails oder Nachrichten.“ Dazu zählen auch Selbstverständlichkeiten, die im digitalen Zeitalter längst nicht mehr selbstverständlich sind: Etwa, dass es respektlos ist, im Smartphone seine E-Mails zu checken, während ein Mitschüler gerade präsentiert.
Vor drei Monaten zog die Schulbehörde eine Bilanz des Projekts „Start in die nächste Generation“. Schulsenator Ties Rabe gab sich dabei kämpferisch: „Wenn wir es gut machen, gibt es hier Chancen, die kein Lehrer mit herkömmlichem Unterricht erreichen kann.“ Klar wurde indes auch: Das digitale Klassenzimmer verbessert zwar selbstständiges Lernen, aber nicht die Noten – da gab es weder positive noch negative Ausschläge. Die Wissenschaftler stellten zudem fest, dass Smartphones nur bedingt für den Unterricht taugen, die Displays seien im Vergleich zu Tablets zu klein für das Lesen von längeren Texten oder 3-D-Arbeiten.
Klausuren per Hand
Lenz will den digitalen Weg weiter beschreiten. Er deutet auf den Konferenztisch: „Wenn wir Prüfungen haben, reicht dieser Platz kaum aus für die elektronischen Geräte, die die Schüler vorher abliefern müssen.“ Der Direktor versteht zwar, dass Schulen sich gegen digitale Täuschungsmanöver wappnen müssen: „Aber auf der anderen Seite werden die Schüler im Berufsleben konsequent das Internet nutzen. Da ist es schon etwas absurd, dass sie hier ihre Klausuren per Hand schreiben, abgeschottet von der digitalen Welt.“
Lenz hält seine Vision, dass eines Tages wie in Skandinavien auch am Kurt-Körber-Gymnasium Gruppenprüfungen abgenommen werden, unterstützt von Tablets, keineswegs für Utopie. Neulich erst, sagt er, habe er einen befreundeten Diplom-Physiker getroffen: „Ihm hat die Firma teure Seminare finanziert, um die Arbeit in multikulturellen Teams zu lernen. Bei euch, hat er mir gesagt, gibt es das umsonst.“
Dieser Beitrag auf Abendblatt Online gehört zum Auftakt einer neuer Serie zum Thema Smartphone. Als nächstes lesen Sie: Benimmregeln für Handynutzer.