Hamburg. 270.000 Mädchen und Jungen leiden bundesweit an internet-abhängigen Störungen. Was Hamburger Mediziner und Pädagogen jetzt raten.

Die betagten Handys stecken in einem braunen Setzkasten, jedes Fach ist mit einem Vornamen beschriftet. Es sind allesamt Mobiltelefone aus einer Zeit, als das Verschicken einer SMS schon als revolutionär galt. Die Jugendlichen, die hier im Uniklinikum Eppendorf (UKE) therapiert werden, würden diese Handys normalerweise verachten. Ohne Spiele, ohne Internet, ohne Apps. Und doch gieren sie jeden Tag nach dieser halben Stunde von 18 bis 18.30 Uhr, in der sie sich an ihrem Fach bedienen dürfen. Es ist ein Handy, immerhin – auch wenn es als Nabelschnur in die virtuelle Welt nicht taugt. In die Welt, die sie abhängig gemacht hat. So sehr, dass ihnen alles andere egal war. Im Schnitt haben sie 18 Monate die Schule geschwänzt, gezockt statt gebüffelt. Jetzt tasten sie sich mühsam zurück in die echte Welt, lernen ein Musikinstrument, holen Schulstoff in kleinen Gruppen nach.

400 junge Patienten

Jährlich werden rund 400 Jugendliche wegen Internet-Abhängigkeit im Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters des UKE behandelt, stationär, in einer Tagesklinik oder ambulant. Leiter Prof. Rainer Thomasius, einer der renommiertesten deutschen Suchtforscher, hat in drei Jahrzehnten mehr jugendliche Abhängige therapiert, als ein Medizinerleben eigentlich verkraften kann – von jungen Mädchen, die sich auf dem Babystrich für den nächsten Schuss prostituieren, über zugedröhnte Ecstasy-Opfer bis zu Jungs, die sich regelmäßig ins Koma saufen. Jetzt kommt jeder vierte seiner jährlich 1600 Sucht-Patienten zu ihm, weil er nicht mehr lassen kann von Smartphone, ­Tablet oder PC. Thomasius nennt die Entwicklung dramatisch: „Die Zahl der Internetsüchtigen ist erschreckend hoch. Politik, Schulen, die gesamte Gesellschaft muss endlich handeln.“

Prof. Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters
Prof. Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters © UKE | C.D.Ketels

Die aktuelle Studie der Bundeszen­trale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unterstreicht seine Warnung. Demnach leiden 270.000 Kinder und Jugendliche an Computerspiel- oder Internet-bezogenen Störungen, mehr als doppelt so viele wie noch 2011. Jugendliche und junge Erwachsene sind im Schnitt 22 Stunden pro Woche online, nur zum Spielen, Kommunizieren oder zur Unterhaltung – also nicht für Schule, Studium oder Job. „Es besteht die Gefahr, dass für das reale Leben neben dem virtuellen kein Platz mehr bleibt“, sagt Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Als Zugangsweg ins Internet spielt das Smartphone mit weitem Abstand die größte Rolle.

Sind Smartphones die Fixernadeln des 21. Jahrhunderts? Sollten künftig Warnhinweise wie „Vorsicht, dieses Handy kann süchtig machen“ auf die Gehäuse gestanzt werden?

Nicht auf Dauer verbannen

Nein, sagt Thomasius, so etwas sei natürlich falsch. Denn im Gegensatz zu Drogen wie Kokain, Alkohol oder Cannabis mache ein Smartphone nicht körperlich abhängig – es gebe daher auch keine harten Entzugserscheinungen, wenn ein Internetsüchtiger sein Smartphone abgeben muss. Gleichwohl mache es die Therapie auch anspruchsvoll: „Anders als bei Substanzabhängigkeit können wir sie ja nicht auf Dauer vom Computer oder vom Smartphone verbannen.“ Deshalb müsse in der Therapie die verantwortungsvolle Rückkehr in das digitale Zeitalter vorbereitet werden.

Wie sehr die Eltern die Frage beschäftigt, ob das Kind nur gern daddelt oder schon internetabhängig ist, spürt Andrea Rodiek, Leiterin des Hamburger Suchtpräventionszentrums (SPZ) im Landesinstitut für Lehrerbildung (LI), in ihrer täglichen Arbeit. Viele Eltern, die zur Beratung oder zum Elterncoaching kommen, suchen Rat zum Thema Medienkonsum ihrer Kinder.

Patentrezepte gebe es nicht, dafür seien schon die familiären Konstellationen zu verschieden. Rodiek warnt jedoch, Smartphones als Werk des Bösen zu verteufeln, nur weil die Kinder von dem Ding einfach nicht lassen können. Auch der Einsatz als Druckmittel oder Strafe – „Wenn du jetzt nicht endlich die Vokabeln lernst, nehme ich dir das Handy weg“ – sei der falsche Weg. „Die Eltern sollten sich lieber damit beschäftigen, warum ihr Kind in die Online-Welt flieht“, sagt Rodiek. Gibt es zu wenig Impulse für gemeinsame familiäre Aktivitäten? Fehlen Anreize, sich musisch oder sportlich zu betätigen?

Acht Stunden offline

Rodiek findet es wichtig, wenn sich Schulen intensiv mit dem Medienverhalten der Schüler beschäftigen, ihnen erklären, welche Chancen und Risiken soziale Netzwerke bieten. Wie man verhindert, dass intime Dinge sich rasend schnell im Netz verbreiten. Und wie man es schaffen kann, das Smartphone auch einfach mal auszustellen.

Wie schwer das ist, haben Schüler der Harburger Goethe-Schule über Wochen getestet. Beim Wettbewerb „Sendepause“ der AOK verpflichtete sich eine ganze Klasse, Handys für acht Stunden am Tag auszuschalten. Eine App registrierte Verstöße in der vereinbarten Zeit zwischen acht und 16 Uhr. Die Schüler fasteten digital so konsequent, dass sie als Gewinner zu einem Konzert eingeladen wurden. Wie schwer der Verzicht fällt, zeigt das Scheitern anderer Klassen, die sich früh verabschiedeten.

Ein Mittwochabend im Februar in der Internationalen Schule am Hemmingstedter Weg in Osdorf. Im Foyer hängen 50 Flaggen für die 50 Nationalitäten der insgesamt 765 Schüler. Die teuerste Schule der Hansestadt – die Eltern zahlen bis zu 20.000 Euro pro Schuljahr, es gibt allerdings auch viele Stipendien – geht seit Jahren konsequent den digitalen Weg. Die Lehrer können jede Hausaufgabe, jede Note in ein passwortgeschütztes System eingeben, auf das die Eltern Zugriff haben.

Doku gezeigt

Doch an diesem Abend geht es nicht um Zeugnisse oder Klausuren. Die Schule zeigt den Dokumentarfilm „Screenagers“, der derzeit in den USA für Furore sorgt, eingeladen sind Schüler und Eltern. „Screenagers“ – ein Wortspiel aus Teenagers und Screen (Bildschirm) – dokumentiert in 66 Minuten, wie das Smartphone unser Leben verändert hat. „Screenagers“ ist ein leiser Film, er klagt nicht an, er beobachtet nur. Die Filmemacherin, eine vielfach ausgezeichnete Ärztin, spricht mit Hirnforschern, Lehrern, Eltern und Kindern. Gezeigt werden auch die Dauerkonflikte in den Familien um die Handy-Nutzung und der Weg eines Jugendlichen in die Internetabhängigkeit. „Ich habe meinen Bruder nicht mehr erkannt“, sagt ein Schüler.

Ungefähr nach der Hälfte des Films verstummt jedes Popcorn-Geraschel, jedes Kichern in der Aula. Auf der Leinwand berichtet eine etwa 14-jährige Jugendliche, wie sie in eine Internetfalle tappte. Sie schickte ihrem Freund Nacktbilder von sich, nicht wissend, dass ein Mitschüler dessen Account gehackt hatte. Ein paar Stunden später kursierten die intimen Fotos im Netz, das Mädchen traute sich vor lauter Scham kaum noch in die Schule.

Die meisten Schüler sehen an diesem Abend „Screenagers“ bereits zum zweiten Mal, über Wochen haben sie mit ihren Lehrern diskutiert, wie man sicher durch die sozialen Netzwerke manö­vriert. „Gerade für eine Schule, die so sehr den digitalen Weg geht wie wir, ist das sehr wichtig“, sagt Schulleiter Andrew Cross. Zum gegenseitigen Respekt gehöre auch, dass Smartphones mit Ausnahme der Mittagspause nicht eingeschaltet werden dürfen.

Junge Frauen mit Smartphones bei der Fashion Week in Berlin
Junge Frauen mit Smartphones bei der Fashion Week in Berlin © dpa

Laut aktuellen Studien wurde schon jeder dritte Jugendliche im Internet verächtlich gemacht. Für die Opfer sind die Folgen des sogenannten Cyber-Mobbing, also des Mobbings im Netz, oft dramatisch. Sie reichen von Angst- und Essstörungen über Schulverweigerungen, Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken.

Kaum jemand beschäftigt sich in Hamburg so intensiv mit diesem Thema wie die Sozialpädagogin Nadine Wiese. Fast jeden Tag besucht sie im Auftrag des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (IKM) Schulklassen, leitet sie in zumeist zweitägigen Kursen an, wie man Streit besser löst. Und immer häufiger geht es dabei um das Thema Mobbing via Smartphone.

Man könnte denken, dass Nadine Wiese bei ihren Erfahrungen am liebsten Störsender in allen Schulen installieren würde. Das Gegenteil ist der Fall, für die Mediatorin ist das Smartphone eine großartige Erfindung. Wiese verweist auf Schüleraustausch-Programme, die sie früher verantwortet hat: „Damals sind die entstandenen Kontakte oft schnell wieder versiegt. Dank der sozialen Netzwerke wie Facebook halten entstandene Freundschaften viel länger.“ Und überhaupt habe das Handy neue Wege der Kommunikation erschlossen, etwa über Klassenchats. Und wenn gerade Jungs stundenlang in Strategiespielen komplizierte Festungen bauen, sei das doch auch positiv: „Es zeigt, dass sie sich auf eine Sache konzentrieren können.“

Früher in den Copyshop

Vielleicht hören die Schüler jemandem wie ihr, der ihr liebstes Utensil nicht von vornherein verurteilt, besonders aufmerksam zu, wenn sie über die Risiken redet. Und dazu gehöre ohne Frage Cyber-Mobbing. Den Vergleich mit der Prä-Internet-Ära, wo auch in jeder Klasse ein oder zwei Schüler wechselweise als „Fettsack“ oder „Brillenschlange“ runtergemacht wurden, lässt Wiese nicht gelten: „Wer früher auf dem Schulhof gehänselt wurde, hatte in aller Regel zumindest in der Familie einen geschützten Raum. Wer im Internet gemobbt wird, muss die beleidigenden Sprüche, Fotos oder Videos 24 Stunden aushalten.“ Und die nächste Bloßstellung oder Bedrohung ist nur einen Klick entfernt, sekundenschnell verbreitet. „Früher musste man dafür in einen Copyshop“, sagt Wiese.

„Zivilcourage im Netz“ nennt das IKM ihr Präventionsprogramm gegen Cybermobbing. Zivilcourage zeigen, darauf komme es an. Sich mit den Betroffenen – Wiese meidet das Wort Opfer, da der Begriff in der Jugendsprache inzwischen als Beleidigung gelte – solidarisieren, nicht zum Täter werden. Und dass man eben keine Petze ist, wenn man dem Klassenlehrer sagt, wie sehr ein Mitschüler leidet.

Es kann abhängig machen

Gutes Handy, böses Handy? Letztlich, das wird nach Gesprächen mit Experten klar, gibt es darauf keine schlüssige Antwort. Ja, exzessive Smartphone-Nutzung kann abhängig machen, Kinder und Jugendliche vereinsamen lassen. Aber es eröffnet große Chancen. Das beginnt im Kleinen. Kein Fußballtrainer muss mehr eine umständliche Telefonkette starten, um mitzuteilen, dass das Spiel eine Stunde früher beginnt, eine Nachricht in die WhatsApp-Gruppe der Mannschaft reicht. Die Abfahrt des Hockey-Teams vom Turnier verzögert sich? Kein Problem, eine kurze Mail in den Verteiler der Eltern reicht, damit sich niemand mehr Sorgen macht. Längst gibt es Apps, die Eltern informieren, wenn das Handy ihr Kind in Gegenden ortet, die es besser meiden sollte – inklusive Panik-Knopf, mit dem die Kleinen Hilfe holen können. Und die Zukunft digitaler Klassenzimmer hat gerade erst begonnen (siehe Bericht rechts).

Nur: Wir brauchen klare Regeln, wie sie Prof. Thomasius einfordert, in den Schulen, aber auch in den Familien. Der Wissenschaftler kann nicht akzeptieren, dass 50 Prozent der Eltern die Internetzeit nicht limitieren, ja ein Drittel nicht einmal weiß, auf welchen Seiten die Kinder unterwegs sind. Seit Jahren fordert er strengere Altersvorgaben für Internetspiele. Viele hätten Glücksspielcharakter, animierten die Jugendlichen, ihr Taschengeld in virtuelle Währung zu investieren, um bessere Waffen für die Spiele zu kaufen. Und oft würden Teilnehmer, die kurz pausieren, mit Nachrichten wie „Deine Burg wird angegriffen“ unter Druck gesetzt, sofort wieder online zu gehen.

Auch solche Taktiken, sagt Thomasius, machen am Ende Jugendliche zu seinen Klienten. Die stationär behandelten Internetabhängigen wohnen Tür an Tür mit Drogensüchtigen. Kein Problem, sagt der Professor, im Gegenteil: „Internetabhängige sind in­trovertiert. Ihnen tut der Umgang mit den oft extrovertierten Cannabis-Konsumenten gut. Und umgekehrt auch.“

Dieser Beitrag auf Abendblatt Online ist der Auftakt einer neuer Serie zum Thema Smartphone. Als nächstes lesen Sie: Benimmregeln für Handynutzer.