Hamburg. Fast 50 Traditionsläden haben in den vergangenen zwei Jahren in Hamburg aufgegeben. Warum der Laden zumacht.
Neben der Kasse stehen ein Cowboy und ein Indianer. Lebensgroß aus Holz. Es ist High Noon an der Reeperbahn, möchte man eine Parallele zu einem Western-Klassiker bemühen. Mit dem stadtweit bekannten Western Store Hundertmark wird schon bald ein weiteres Hamburger Traditionsgeschäft den Kampf um Kunden aufgeben. Im Schaufenster verspricht ein Schild bereits „30 Prozent auf alles“. Fast 60 Jahre lang gehörte Hundertmark zu St. Pauli. „Spätestens Mitte April ist hier Schluss“, sagt Chefin Vanessa Kasselmann. Das soll womöglich resolut klingen, aber ein melancholischer Unterton schwingt dennoch mit.
Erst im Februar 2014 war Hundertmark in die ehemalige Spielhalle am Nobistor gezogen. Nicht freiwillig. Die angestammte Hauptfiliale in den Esso-Häusern hatte die Hamburgerin, die das Unternehmen gemeinsam mit ihrer Mutter Renate führt, wenige Wochen zuvor wegen Einsturzgefahr überstürzt räumen müssen. „Wir dachten, der neue Standort sei gut“, sagt die 37-Jährige. „Aber wir haben die Miete unter- und die Umsätze überschätzt.“ Rund 80.000 Euro Erlöse pro Monat wären notwendig gewesen, damit sich der Laden langfristig rechnet.
Kommentar: Wider das Ladensterben
Aber nach einen hoffnungsvollen Aufwärtstrend 2015 seien die Verkaufszahlen im vergangenen Jahr deutlich in den Keller gegangen. Bereits zuvor hatte das Mutter-Tochter-Gespann die Läden am Hans-Albers-Platz und in Altona schließen müssen. „Wir mussten die Reißleine ziehen“, sagt Vanessa Kasselmann. Mit dem Vermieter hat sie sich geeinigt, Ende April ist das Unternehmen aus dem Mietvertrag am Nobistor raus. Es handele sich nicht um eine Insolvenz, betont sie. Aber weit davon entfernt war Hundertmark nicht.
In einfachen Holzregalen stapeln sich Blue Jeans in vielen Größen und Farbnuancen. Hier ist nichts glatt und verkaufspsychologisch durchgestylt. Es gibt Gürtel mit großen Metallschnallen, Cowboyhüte, Westernhemden. Die Lederjacken sind klassisch, die Stiefel aufwendig verziert und laufen vorne spitz zu. Ein Damenkleid mit Rüschen in Rot und Schwarz, das jeder Saloon-Schönheit zur Ehre gereichen würde, hängt neben einer Umkleidekabine.
Angefangen hatte es in 1950er-Jahren
Es ist Mittag. Alle paar Minuten bimmelt die Glocke über der Ladentür. „Seit sich herumgesprochen hat, dass wir schließen, hat sich die Kundenfrequenz verdreifacht“, sagt die Junior-Chefin, die für die Abwicklung des Ladens das Auktionshaus Wilhelm Dechow mit ins Boot geholt hat. Die Reaktionen der Kunden reichen von Entsetzen bis Anteilnahme. „Hundertmark gehört zu Hamburg“, das hört sie häufig.
Angefangen hatte alles in den 1950er-Jahren. Paul Hundertmark hatte aus den USA Jeans, Cowboy-Stiefel und andere amerikanische Originalwaren ins Nachkriegsdeutschland gebracht. Zunächst verkaufte er diese auf dem Fischmarkt. Nachschub kam dank guter Kontakte direkt aus dem fernen Amerika. Hundertmark zog an den Hans-Albers-Platz, 1961 eröffnete er seinen Laden am Spielbudenplatz.
Die letzte Zeit war nicht einfach
Nach seinem Tod übernahm der Hamburger Unternehmer Kurt A. Uebel, Immobilienbesitzer und Inhaber des Teppichhandels Eichtal, die Western-Stores und baute das Filialnetz aus. In Kiel, Lübeck und Berlin gab es Hundertmark, außerdem standen Läden in Wandsbek und Eidelstedt sowie ein Sonderpostenmarkt in Glinde im Kreis Stormarn. Vor zwölf Jahren stiegen die Kasselmanns ein, nachdem Uebel gestorben war.
Vanessa Kasselmann steht zwischen den Jeans-Bergen. Die letzte Zeit war nicht einfach. An einer Schaufensterpuppe ist eine olivgrüne Jacke drapiert. Das Modell der Marke Alpha Industries ist derzeit besonders beliebt, auch weil Hollywood-Stil-Ikonen sich gerne damit zeigen. „Bei Hundertmark gibt es diese Jacke schon seit 50 Jahren“, sagt Kasselmann. Die gelernte sozialpädagogische Assistentin hatte als Verkäuferin in dem Jeansshop angefangen, ist dann über die Filialleitung bis zur Firmenchefin aufgestiegen.
Noch eine Hundertmark-Filiale in Lüneburg
Neben dem Laden an der Reeperbahn gibt es noch eine Hundertmark-Filiale in Lüneburg. Prominente wie Freddy Quinn haben hier eingekauft. Moderator Jörg Pilawa war unlängst bei Hundertmark – und auch „Tatort“-Kommissar Axel Prahl. Als Musiker Bela B (Die Ärzte) Country-Musik für sich entdeckte, suchte sogar er in einem der Shops nach einem passenden Outfit.
Hundertmark ist eine Institution. Den Hauptgrund für die fehlenden Einnahmen sieht Kasselmann in der fehlenden Laufkundschaft am Ende der Reeperbahn, aber auch das veränderte Kaufverhalten spiele eine Rolle. „Viele kaufen lieber häufiger ein, dann aber billigere Klamotten“, sagt die Mutter eines zwölfjährigen Sohnes. Jeans von Lee oder Levis seien heute für junge Menschen nicht mehr so wichtig. An die Stelle von Markenklamotten seien Marken-Smartphones getreten.
Immer weniger Einzelhändler an Reeperbahn
Dazu kommt, dass auf St. Pauli in den vergangenen Jahren gleich mehrere Textilgeschäfte schließen mussten. Die Kiez-Boutique Easy Rider etwa – oder zuletzt Spoc Fashion an der Hein-Hoyer-Straße. Auch über die Zukunft von Hamburgs ältestem Schuhgeschäft Messmer, seit mehr als 170 Jahren an der Reeperbahn, ist nicht abschließend entschieden. „Es fehlt dadurch immer mehr der Anreiz, hier shoppen zu gehen“, sagt Vanessa Kasselmann. Nach Angaben der Handelskammer haben allein in den vergangenen zwei Jahren 48 Traditionsgeschäfte unterschiedlicher Branchen, die vor 1960 gegründet wurden, in Hamburg aufgegeben.
Jetzt verschwindet das nächste Urgestein. Das ist auch bitter für die langjährigen Mitarbeiterinnen, die ihre Jobs verlieren. Bis zum Ende dieser Woche gelte der 30-Prozent-Rabatt, sagt Toke Bransky vom Auktionshaus Dechow, der inzwischen das Ruder in der Hundertmark-Filiale übernommen hat. Danach sind weitere Reduktionen geplant. Bransky ist optimistisch, dass der Verkauf gut laufen wird. „Es handelt sich schließlich um Qualitätsware“, sagt er. Alles, was am Schluss noch übrig ist, wird dann über eine Online-Auktion im Paket versteigert.
Onlineshop soll erweitert werden
Der Laden in Lüneburg bleibt zunächst geöffnet, den Onlineshop will das Unternehmerinnen-Duo sogar erweitern. Und es gibt weiter die zumindest theoretische Option, nach deren Fertigstellung in die Esso-Häuser auf der Reeperbahn zu ziehen. „Wer weiß, was bis dahin ist“, sagt Vanessa Kasselmann und lächelt müde.
Inzwischen hat sie auch schon die ersten Deko-Objekte mit Western-Ambiente verkauft, die den derben Retro-Charme von Hundertmark ausgemacht haben. „Ein Käufer kam später noch einmal vorbei – mit einem Blumenstrauß“, erzählt sie und muss ein wenig schlucken. Dabei steht sie neben dem Cowboy und dem Indianer. Lebensgroß, mit undurchdringlicher Miene. Die beiden sind noch da. Und es wirkt so, als sei Vanessa Kasselmann darüber ganz froh.