Hamburg/Berlin. Hamburgs Bürgermeister und die NRW-Ministerpräsidentin haben entscheidenden Anteil an der Entscheidung für Martin Schulz.

Am Tag nach dem Überraschungscoup des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel saß Bürgermeister Olaf Scholz schon wieder im Auto nach Berlin. Wichtige Gespräche in der Hauptstadt standen an – nichts, was sofort an die Öffentlichkeit drängen würde, der Mann hat schließlich auch die Interessen eines Stadtstaats zu vertreten. Da heißt es bisweilen, geduldig dicke Bretter zu bohren.

Interview mit „Stern“-Chefredakteur Krug

Am Tag zuvor, als sich die Ereignisse in der SPD dramatisch überschlugen, war Scholz als stellvertretender Parteivorsitzender auch am Brennpunkt des Geschehens in Berlin. Während Gabriel und der frisch ausgerufene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus am Abend vor Kameras und Mikrofonen erläuterten, dass nun alles ganz anders kommen werde, als die allermeisten erwartet hätten, stand Scholz am Rand der Gruppe der SPD-Granden und schien sich zu freuen.

Erscheinungstermin vorverlegt

Dabei wird dem nicht zu Übersprungshandlungen neigenden Hamburger die Art der Inszenierung des Stabwechsels an der Spitze der SPD kaum gefallen haben. Ein Hinweis aus Grossisten-Kreisen war es, der den Befreiungsschlag des Sigmar Gabriel etwas früher auslöste als von ihm selbst geplant.

Sein Rückzug von der Parteispitze und der Verzicht auf die SPD-Kanzlerkandidatur wurden dadurch bekannt, dass in sozialen Netzwerken Bilder des neuen „Stern“-Titels kursierten, auf dem die Schlagzeile „Der Rücktritt“ unter einem Bild des Vizekanzlers zu sehen war. Ein Mediendienst hatte Informationen bekommen und das Titelbild gepostet. Die Zeitschrift hatte beschlossen, wegen des Interviews nicht wie üblich donnerstags, sondern schon am Mittwoch zu erscheinen.

Sigmar Gabriel gestern bei seinem
letzten Auftritt als Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel gestern bei seinem letzten Auftritt als Wirtschaftsminister © dpa

Am 5. November, so schildert es „Stern“-Chefredakteur Christian Krug, der das Gespräch führte, habe es erste Andeutungen Gabriels für einen Verzicht gegeben. Gabriel selbst sagt, er habe seit dem Sommer für sich diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen. Entschieden sei damals aber noch nichts gewesen. Doch im Laufe des Winters sei sein Entschluss gereift. Er habe realisiert, dass seine SPD mit Martin Schulz als Kanzlerkandidat mehr Chancen habe.

Kommentar: Schulz ist nur der zweitbeste Kandidat

Tatsächlich war der Entscheidung des SPD-Vorsitzenden ein im Grunde monatelanger intensiver Beratungsprozess vorausgegangen, bei dem die größte Überraschung ist, dass davon nichts nach außen drang. In der SPD ist das wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Gabriel konnte seine Zweifel und Selbstzweifel mit seinen beiden wichtigsten Stellvertretern ausführlich und vertrauensvoll besprechen: NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und eben Olaf Scholz.

Jahr 2017 für Kraft selbst von großer Bedeutung

Beide – Kraft wie Scholz – waren über einen langen Zeitraum davon ausgegangen, dass Gabriel die Kandidatur letztlich doch antreten wird, hatten ihm intern auch dazu geraten und sich öffentlich immer wieder für ihn ausgesprochen. Doch ausräumen konnte das Duo Gabriels Zweifel nicht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Jahr 2017 für Kraft selbst von herausragender Bedeutung ist. Am 14. Mai wählt das bevölkerungsreichste Bundesland eine neue Landesregierung – und dabei geht es auch um Hannelore Krafts eigene politische Zukunft. Der NRW-Ministerpräsidentin wurde schließlich klar, dass ein zaudernder und zudem in Partei und Wahlvolk nicht über die Maßen beliebter Gabriel auch eine Belastung für sie selbst werden könnte.

Kraft sagte schließlich zu Gabriel: „Sigmar, du musst es aber auch mit ganzer­ Kraft wollen!“ So schildert es der SPD-Vorsitzende selbst in dem „Stern“-Interview. Kraft habe, so Gabriel, wohl die Veränderung bei ihm gespürt. Scholz und Kraft waren sich einig darin, dass es nur kontraproduktiv wäre, den sprunghaften Gabriel zum Rückzug zu drängen. Eher ging es darum, einen Überzeugungsprozess in Gang zu setzen, bei dem am Ende ein Name für die Kanzlerkandidatur stehen und die Rahmenbedingungen – wie die Frage des Parteivorsitzes – geklärt sein müssten.

SPD-Kanzlerkandidat
Martin Schulz war
zuletzt Präsident des EU-Parlaments
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz war zuletzt Präsident des EU-Parlaments © picture alliance

Dem allerengsten Führungszirkel der SPD war aber schnell klar, dass die Kanzlerkandidatur nun auf Martin Schulz zulaufen würde. Der Ex-EU-Parlamentspräsident hat aktuell kein politisches Amt inne und kann sich ganz auf die Rolle als Herausforderer von Angela Merkel konzentrieren. Er ist nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden und gilt als temperamentvoller Wahlkämpfer. Aus Krafts Sicht dürfte es zudem ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt sein, dass Schulz als Mitglied der NRW-SPD mit entsprechendem Stallgeruch und großer Beliebtheit an der Basis auch ihrem Landtagswahlkampf zusätzlichen Schub geben könnte.

Olaf Scholz war während der zurückliegenden Monate neben Gabriel und Schulz stets als dritter denkbarer Kanzlerkandidat der SPD gehandelt worden. Es war Gabriel, der den Hamburger im Dezember noch einmal ausdrücklich ins Gespräch brachte, nachdem Schulz seinen Rückzug aus Brüssel bekannt gemacht hatte und vernehmlich mit den Hufen scharrte.

Scholz verhielt sich zurückhaltend

Doch Scholz, dessen politischer Ehrgeiz durchaus über die engen Stadtgrenzen hinausreicht, verhielt sich in dieser Lage, die eigenen Ambitionen betreffend, zurückhaltend. Allerdings vermied er es auch, die Tür zur Kanzlerkandidatur völlig zuzuschlagen. Scholz ist jedoch vor allem Realist, der weiß, dass sich Respekt und Beliebtheit, die er in Hamburg genießt, nicht einfach auf die Bundesebene übertragen lassen. Die Einschätzung, dass die Chancen für die SPD derzeit nicht gut sind, tat ein Übriges. Damit war der Weg für Schulz im Prinzip frei.

Letzte Klarheit schaffte dann eine von der SPD selbst in Auftrag gegebene Umfrage. Während der Abstand beim direkten Vergleich zwischen Gabriel und Merkel relativ groß blieb, erwies sich der Kanzlerinnenbonus gegenüber Schulz als nur relativ minimal. Diese Werte lösten offensichtlich auch bei Gabriel den letzten Ruck zum Verzicht aus. Nach übereinstimmenden Berichten war dann in der vergangenen Woche letztlich alles klar.

Die nordrhein-westfälische
Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft (SPD)
Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) © picture alliance

Seine Entscheidung teilte Gabriel am vergangenen Sonnabend Schulz im rheinland-pfälzischen Montabaur mit. Der Ex-EU-Parlamentarier war lange davon ausgegangen, dass er ins Amt des Außenministers wechseln würde – viel Zeit zur Überlegung blieb ihm nicht. Am Sonntag führte Gabriel dann das abschließende Interview mit dem „Stern“, das eigentlich bis zum Dienstagabend 20 Uhr unter Verschluss bleiben sollte.

Noch am Montag betonte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley den propagierten Zeitplan, nach dem am kommenden Sonntag der Parteivorstand den Kanzlerkandidaten küren sollte. Dieser Zeitplan war nun Makulatur. Und so waren nicht wenige Sozialdemokraten pikiert, weil die Meldung vom Rücktritt über die Medien verbreitet wurde, bevor sich der Parteichef in der Bundestagsfraktion erklärte. Eine weitere Pikanterie: Die Nachrichten vom Rückzug kamen genau zu der Zeit auf, als sich der Bundespräsidentschaftskandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier, in der Unions-Fraktion präsentierte. Doch dass die Abgeordneten einschließlich der Kanzlerin nicht dem voraussichtlich neuen Bundespräsidenten lauschten, sondern vor allem auf ihre Handys starrten, war nicht geplant.