Hamburg. Vergessene Helfer: Mehr als 3900 Freiwillige kümmern sich um Flüchtlinge. Sie werden immer professioneller, erleben aber auch Frust.
Alles muss jetzt schnell gehen. Draußen warten die Lkw, die Messehalle ist voll mit Kleidung, hohe Türme, großes Gewusel. Die Spenden werden nur grob sortiert, gestapelt. Flüchtlingsfamilien reißen sich das Nötigste heraus. Sie schlafen nachts in Zelten. Wann die Freiwilligen zuletzt geschlafen haben, wissen sie kaum noch. Nur helfen, helfen, helfen. 60 Stunden pro Woche. Manchmal sogar 80. Notfallzustand.
Ob sie sich noch genau an diese Szenen erinnern? Ja, sagen die Ehrenamtlichen der ersten Stunde. Der Flüchtlingsstrom stellte die Stadt und ihr Leben auf den Kopf. Gerade 16 Monate ist es her. Und doch eine Ewigkeit. Die Kamerateams sind weg, einige Freiwillige auch. Das Thema Flüchtlingshilfe ist irgendwie durchgenudelt. Es geht jetzt oft um Terrorismus, manchmal um Unterbringung. Dabei ist die Arbeit nicht verschwunden. Sie hat sich nur verändert.
Bedarf nach Paten für Flüchtlinge
Aus einem Ausnahmezustand wird eine Marathonaufgabe. Aus der Not an T-Shirts und Windeln ist der Bedarf nach langfristigen Paten für Flüchtlinge geworden, wie es von der Gesellschaft „Fördern & Wohnen“ heißt. Sie zählt derzeit 3984 Freiwillige, ein beständiges Niveau. Aber wer die Ehrenamtler heutzutage besucht, erlebt, dass sich die Freiwilligen ebenso wandeln wie ihre Aufgaben.
Zwei blutjunge Kerle kleben die Pakete routiniert ab. Schülerpraktikanten mit der Entschlossenheit von Actionhelden. Artikel hinein, Strichcode drauf, verladen, lagern. Die Kleiderkammer von „Hanseatic Help“ an der Großen Elbstraße ist nicht mehr so präsent wie damals in den Messehallen. Aber rappelvoll ist sie immer noch. Mehr als 500.000 Artikel sind in 1200 Kategorien sortiert, von Anfangsmilch bis Zahnpasta.
Kleiderkammer: Aus Chaos wird ein Unternehmen
„Wir sind gerade in einer Phase, den nächsten Schritt zu machen“, sagt Arnd Boekhoff, einer mit klassischer Helferkarriere: Im September 2015 einfach mal zur Messehalle gegangen, mitgeholfen, süchtig geworden, wiedergekommen, immer noch dabei. Samtene Stimme und strahlende Augen. Inzwischen Vorstand der Kleiderkammer, die bereits ein Logistikunternehmen ist. Die Spenden werden nicht mehr nur an Flüchtlinge verteilt, auch an Obdachlose, an Bedürftige in Krisengebieten wie dem Nordirak. „Jeder, der mithilft, findet hier auch ein bisschen eine Familie. Ohne das wären wie nie so weit gekommen.“
Die Kleiderkammer hat sich gewandelt, als die akute Not etwas nachließ. Damals baute sich der Verein ein IT-System auf. Stellte erstmals einen eigenen Lkw-Fahrer ein. Verhandelte mit der Stadt über die Finanzierung. Alles ehrenamtlich und bei hoher Nachfrage. Einige sind in dieser Zeit an den Rand ihres Möglichen gekommen, sagt Arnd Boekhoff. „Die standen kurz vor dem Ruin und sagten, ihre Beziehung geht bald in die Brüche. Man muss das immer balancieren“, so Boekhoff. Der Politologe arbeitet selbst halbtags in seinem Job und verbringt zusätzlich weit mehr als 40 Stunden in der Kleiderkammer.
Es sind nicht mehr ganz so viele regelmäßige Helfer wie damals, dafür kommen jetzt Gruppen. Mitarbeiter von Firmen wie Google, die für einige Tage kommen und „wahnsinnig wegrocken“. Der Verein hat sechs Jugendliche über den Bundesfreiwilligendienst eingestellt. Die Bestellungen von Artikeln kommen bis heute täglich. Vier Millionen Artikel hat „Hanseatic Help“ verschickt.
Kooperationen mit Sozialkaufhäusern
Die nächsten Projekte laufen an. Da sind Kooperationen mit Sozialkaufhäusern, die mehr Spenden bekommen sollen, wenn die Zahl der Erstaufnahmecamps zurückgeht. Eine Zertifizierung als Arbeitsstätte, in der Langzeitarbeitslose in ihrem Tempo wieder geregelte Abläufe kennenlernen können. Ein hauptamtlicher Geschäftsführer, der die größte Kleiderkammer Deutschlands leiten soll. Arnd Boekhoff weiß nicht, ob er sich selbst auf die Stelle bewirbt. „Vielleicht ist es Zeit für einen Profi von außerhalb. Ich will in ein paar Jahren zurückgucken und sagen: ,Aus dem Ding ist was geworden‘. Nur das zählt.“
Es geht teils bummelig, teils konzentriert zu, wie jeden Tag. Die Praktikanten schieben die Kisten zusammen. 40 Paletten an Spenden kommen noch immer rein, jede Woche. An einem Pfeiler hängen die Namensschilder von damals bis heute. „Einfach machen“, bleibt das Motto. Immer weiter.
Für Asylbewerber werden dringend Paten gesucht
Dieter Seelis hat gelernt, zwischen kleinen und großen Problemen zu unterscheiden. „Wenn mein Patenkind bei Minusgraden keine Winterschuhe hat und der Betreuer wegen Krankheit nicht erreichbar ist, ist das ein kleines Problem“, sagt Dieter Seelis. Der 65-Jährige betreut seit Oktober 2015 mehrere Mentees in der Initiative „Wir im Quartier. Winterhude gemeinsam mit Geflüchteten“. Seelis ist einer der Paten, der sich mit Hilfe der BürgerStiftung Hamburg zum Paten hat fortbilden lassen.
Hilfe für die Helfer
Solche festen Partner für Geflüchtete werden dringend gebraucht. „Nach dem ganz großen Hype im September 2015 stehen die Helfer nicht mehr auf der Fußmatte“, sagt Lena Blum von der BürgerStiftung Hamburg. Sie koordiniert das Projekt „Landungsbrücken für Geflüchtete – Patenschaften in Hamburg stärken“. 300.000 Euro stehen für Fortbildungen, Beratungen und andere Maßnahmen zur Verfügung. Vor allem geht es um Hilfe für die Helfer. Denn: „Der Bedarf nach ehrenamtlichen Helfern ist groß“, sagt Lena Blum. Von „Fördern & Wohnen“ heißt es, in einigen Unterkünften lasse sich der Bedarf nicht decken, auch wenn etwa an der Sophienterrasse mehr als 200 Helfer parat stehen.
Immerhin 27 der 56 Hamburger Patenprojekte mit Geflüchteten haben im vergangenen Jahr eine Einzelberatung mit Hilfe des Landungsbrücken-Projektes in Anspruch genommen. 873 Patenprojekte betreuen die verschiedenen Hilfsorganisationen insgesamt.
Spannende Lebensgeschichten
Dieter Seelis hat eine schwangere Frau bis zur Geburt ihres Kindes und danach betreut, er kümmert sich um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aus Syrien, um Kita- und Schulkinder und schwärmt von seiner Patenschaft. „Man lernt Menschen kennen, die nicht bloße Hilfesuchende sind, sondern ganz viel Wissen und spannende Lebensgeschichten haben.“ Das sind die schönen Momente.
Weniger schön sind Probleme wie Traumata: „Wir haben es mit traumatisierten Menschen zu tun. Mit Menschen, die auch resigniert sind, weil ihr Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist“, erzählt der ehemalige Gymnasial- und Berufsschullehrer. Diese Resignation kann dann auch auf den Paten übergehen. Seelis ist da ganz bodenständig – und hat gelernt, sich trotz Mitgefühls und persönlichem Einsatz abzugrenzen. „Kleine Probleme kann ich lösen, die großen Probleme wie Abschiebungen und Aufenthaltsstatus aber eben nicht.“ Doch wenn der Aufenthaltsstatus seiner Schützlinge nicht geklärt ist, diese Ungewissheit, die macht auch Paten wie ihn mutlos. „Das ist für uns belastend, aber damit müssen wir umgehen.“
Ehrenamtliche helfen, bis sie selbst eine Pause brauchen
Ute Schepers ist 63 Jahre alt – und seit 16 Monaten ist sie Mutter eines Sohnes. Sie lernte ihn im September 2015 über ihre Arbeit in einer Kleiderkammer kennen. Hassan (Name geändert), ein junger Mann mit nettem Lächeln und guten Manieren. Sie freunden sich an. Bald kommt er zu Ute Schepers Familie zum Essen nach Hause. Sie hilft ihm bei Behördengängen. „Ich bin Ingenieurin und war immer eigenständig. Ich suche gern Lösungen für Probleme“, sagt sie. Beziehungen wie diese gibt es hundertfach in Hamburg.
Hassan gerät in einen grausam schlechten Sprachkurs, Ute Schepers kämpft ihn für einen anderen Träger frei. Hassan leidet in seiner Unterkunft, seine Ersatzmutter hält den Kontakt. Sie besorgt ihm eine Wohnung, mit Balkon, über Kontakte. „Es ist deine Wohnung“, sagt Hassan. Ute Schepers findet, das ist Quatsch, er hätte sie sich doch auch erarbeitet. Er will Freunde finden, sagt er im Frühjahr. Seine Familie lebt im Gebiet der Terrormiliz IS.
Manchmal sei das komisch, sagt Ute Schepers: „Man mag einen Menschen sehr, man gibt sich viel Mühe, und doch kann man daran zugrunde gehen.“ Es fängt irgendwann damit an, dass Hassan immer auf sein Handy starrt und Ute Schepers das stört. Es häufen sich Missverständnisse. Hassan sagt aus schlechtem Gewissen, seine Helferin solle sich mehr um ihren Mann und ihre Tochter kümmern – und sie fasst es als Ausdruck seines Frauenbildes auf.
Nur eine Hülle von einem Menschen vor sich
Hassan will nicht zum Hochschulsport gehen, vielleicht, weil er das Geld lieber seiner Familie schickt. Ute Schepers hat das Gefühl, sie habe nur eine Hülle von einem Menschen vor sich. „Er ist entwurzelt, in Gedanken nicht hier. Manchmal wirkt er durch seine Familie fremdgesteuert.“
Der Kontakt ist weniger geworden. Hassan habe ihr viel gegeben, sagt Ute Schepers, sie haben oft gelacht. Aber sie kann es kaum mehr ertragen, nicht helfen zu können, wenn Hassan vom Sterben seiner Heimat erzählt. „Ich mag keine Nachrichten mehr gucken.“
Er soll jetzt „selber laufen lernen“, sagt Ute Schepers. „Als Mutter muss man auch loslassen.“ Aber wenn er Hilfe braucht, wird sie da sein. Ganz sicher.