Hamburg. Viele Menschen im Stadtteil erwarten nun mehr Lebendigkeit durch das Konzerthaus. Stellenweise tritt dieser Effekt schon ein.
Nichts scheint an diesem gehässigen Januartag ferner zu liegen als Bilbao. Eiskalter Wind, Temperaturen unter null Grad, Menschen in Daunenjacken. Ein sehr unspanischer Anblick schlägt der versprengten Touristengruppe an der Elbphilharmonie entgegen. Nur ein Pärchen, ein Kindergartentrupp und Angestellte aus den umliegenden Büros haben sich ebenfalls in die fiese Witterung gewagt. Wo ist er, der „Bilbao-Effekt“, wenn man ihn mal braucht?
Er ist längst da, sagen Geschäftstreibende, die hier arbeiten. Seit der Eröffnung der Elbphilharmonie strahlt es, ist endlich Leben in der HafenCity: Leute, Menschen, alles! Und beim Apotheker wollen alle nur noch Hustenbonbons. Meteorologisch stimmt es übrigens auch: Schließlich ist Bilbao für sein (für spanische Verhältnisse) mieses Wetter bekannt.
Das sagen die Menschen im Stadtteil zum Einfluss der Elbphilharmonie
Bilbao, diese baskische Stadt, die neben Sydney und seiner Oper immer wieder als Referenz herhalten muss, wenn die Bedeutung der Elbphilharmonie für Hamburg eingeordnet werden soll. Tatsächlich sehnen sich viele gerade hier, in der HafenCity, nach einem Effekt, wie ihn die wohlhabende Hafenstadt erlebte, als dort 1997 das Guggenheim-Museum eröffnet wurde. Wo vormals eine triste, schrumpfende 350.000-Einwohner-Stadt war, liegt heute ein touristischer Hotspot. Mittlerweile kommen 63 Prozent der jährlich 1,1 Millionen Museumsbesucher aus dem Ausland, werden 360 Millionen Euro im Umfeld ausgegeben, wurden fast 7000 Arbeitsplätze gesichert. Bilbao inszenierte sich mit einem einzigen Bauwerk von Stararchitekt Frank Gehry neu.
Kultivierte Konzertbesucher wurden herbeigesehnt
Dieser sogenannte „Bilbao-Effekt“ ist bis heute Synonym für die Aufwertung von Orten durch die Ansiedlung spektakulärer Bauten. Für die HafenCity ist er fast ein Versprechen. Und das Quartier spürt den Aufschwung schon. „Man merkt es ganz deutlich“, sagt etwa Justus Henze, der in der Campus Suite direkt gegenüber dem Konzerthaus arbeitet. Nach der Plaza-Eröffnung im November sei es viel belebter geworden. „Wir hatten einen massiven Umsatzschub.“ Und auch das Publikum sei verändert. Vorher Touristen und Menschen aus den ansässigen Büros, jetzt auch alle anderen Hamburger. Warum? „Vorher hat man die Elbphilharmonie jeden Tag aus der Ferne gesehen. Jetzt kann man sie endlich auch von innen anschauen“, so Henze.
Die HafenCity ist nun permanent einem hohen Besucherstrom ausgesetzt
Von einem „Elbphilharmonie-Effekt“ zu sprechen, wie die HafenCity GmbH in ihrem Newsletter, hält Ingrid Breckner, Professorin für Stadtsoziologie an der HafenCity-Universität dennoch für verfrüht. „Sicher wird die Gastronomie profitieren und der Stadtteil vitalisiert“, sagt sie. „Ob der Einzelhandel bis zum Überseeboulevard Vorteile hat, ist aber ungewiss.“ Absehbar sei indes, dass sich Bewohner des Viertels von ihrer „dörflichen Struktur“ verabschieden sollten. Die HafenCity sei nun nicht nur am Wochenende, sondern permanent einem hohen Besucherstrom ausgesetzt. Auch im Hinblick auf den Verkehr, wobei Anwohner berichten, die befürchteten Staus seien ausgeblieben.
Im Concept Store „Tom & Konsorten“ kann man damit umgehen, freut sich sogar: „Es war wie eine Explosion. Jetzt sind die Massen da, auf die alle gewartet haben“, sagt Inhaberin Maren Eckholdt. In dem kleinen Laden, der neben Hamburg-Souvenirs auch Kaffee, Softdrinks und Fischbrötchen anbietet, sei der Unterschied seit der Plaza-Eröffnung vor allem am Wochenende spürbar. „Dann stehen 80 bis 90 Leute im Laden.“ Die Mitarbeiter müssten im Wechsel sogar als Türsteher fungieren, die Kunden in Gruppen einlassen.
Aufzüge und Toiletten – die Schwachpunkte der Elbphilharmonie
Lokale Effekte wie dieser seien mit einer Ikone wie der Elbphilharmonie aber nur am Rand beabsichtigt, sagt Stadtsoziologin Breckner. Es geht bei einer Verheißung wie dieser um mehr. Um die Stadt, die Region, vielleicht sogar das Bild des ganzen Landes. Der Mut Hamburgs, sich weltweit neu in Szene zu setzen, sich in der internationalen Wahrnehmung anders zu positionieren, „produziert vor allem einen Zustrom von Kulturinteressierten“. Und das sei nicht weniger als eine Trendwende im Stadtmarketing. Hamburg habe bislang „die kommerzielle Schiene“ bedient, nun werde eine völlig neue Klientel angesprochen. In Anwohner-Interviews sei die Elbphilharmonie auch wegen dieser kultivierten und kaufkräftigen Besucherschaft als Standortkriterium beim Zuzug genannt worden. Eine Aufwertung wäre demnach eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, sagt Breckner.
An den Magellan-Terrassen macht sich der Hype um das Konzerthaus nicht bemerkbar
Gleichwohl reicht der Hype noch nicht in jeden Winkel des Stadtteils. „Es hat sich nichts verändert“, sagen etwa die Rentner Sigrid und Jürgen, die an den Magellan-Terrassen wohnen. „Alles strömt von der U-Bahn zur Elbphilharmonie. Hier ist es ruhig, wie vorher.“ Diana, Lehrerin an der Katharinenschule am Dalmannkai, spricht dagegen von einer positiven Entwicklung. „Früher war hier nach 18 Uhr Totentanz.“
Derartige „Nachbarschaftseffekte“ sind typisch für Wahrzeichen, für einen „strukturellen Entwicklungsimpuls“, sagt Stadtsoziologin Breckner. Das reiche bei Anwohnern vom „totalen Stolz“, zu Fuß zum Konzert gehen zu können, bis zur Ablehnung der vielen neuen und fremden Leute. Das Gefühl, privilegiert zu wohnen, überwiege aber.
Die notwendigen Voraussetzungen für einen „Bilbao-Effekt“ erfüllt Hamburg dabei: Laut Stadtplanern müsse ein neues Bauwerk für einen deutlichen Aufschwung „zentral“ in der „Umgebung von Gewässern“ liegen und eine „innovative, zugleich provokative und spektakuläre Architektur“ besitzen. Gemessen daran sei die Elbphilharmonie gut eingebettet ins Spannungsfeld zwischen Stadt und Hafen und werde „stadtverträglich“ genutzt, sagt Breckner. Vieles spreche also für die Entfaltung einer qualitätvollen, lebendigen Infrastruktur im Umfeld.
Die Voraussetzungen für „gebaute Kultur“ stimmen
Dass die Welle der Begeisterung bis zum Überseeboulevard schwappt, wünscht sich die dortige Quartiersmanagerin Claudia Weise. „Die Frequenz hat zugenommen.“ Messbar sei der Zuwachs aber nur im Umfeld der Elbphilharmonie. Dort wurde zuletzt ein Plus von 61 bis 159 Prozent registriert. Mehr Kundschaft, mehr Umsatz. „Schön zu sehen, dass das Viertel belebt wird“, so Justus Henze von der Campus Suite. „Das ist für alle toll.“, sagt Maren Eckholdt. „Es mussten schon so viele aufgeben.“
In seiner viel beachteten Ausstellung „Kultur:Stadt“ hat Matthias Sauerbach vor vier Jahren den Bilbao-Effekt kritisch beleuchtet. Er gelangte dabei zur Erkenntnis: Gebaute Kultur gelinge oft nur, wenn man vorhandenen Strukturen neuen Glanz verleihe, mit ihnen arbeite, ohne sie zwanghaft zu sprengen. Wie in Hamburg auf einem alten Kaispeicher.
Um dem wachsenden HafenCity-Publikum gerecht zu werden, hat das Meßmer Momentum das Lokal von 60 auf 100 Plätze vergrößert. Irene Abelé, die am Dalmannkai wohnt und arbeitet, beobachtet wie auch Worapoj Memangkung aus dem Tai Tan einen Aufschwung in der Gastronomie. Im Saffron, dem Restaurant des Hotel Westin in der Elbphilharmonie, habe „die Nachfrage spürbar angezogen“, sagt Direktorin Dagmar Zechmann.
Der Apotheker an der Elbphilharmonie verkauft jetzt mehr Hustenbonbons und Halstabletten
Und der örtliche Apotheker? Verkauft mehr Hustenbonbons und Halstabletten, sagt Christoph Rechni aus der Apotheke an der Elbphilharmonie. Bei Sängern und Publikum steige die Nachfrage: „Besucher wollen nicht husten, man hört im Saal ja alles.“ Gleichwohl habe das Konzerthaus „nur einen begrenzten Wirkungskreis“, sagt Rechni. „Im Überseequartier merkt man noch wenig“, sagt Sascha Krieger, Mitarbeiter der Mindways Segway Tours.
Allen gemein ist die Hoffnung auf eine nachhaltige Belebung, auf einen Effekt wie in Bilbao. Dort wird gerade 20 Jahre Guggenheim-Museum gefeiert. 20 Millionen Gäste waren schon da.