Hamburg. Bischofsgipfel in der Bahnhofsmission: Kirsten Fehrs und Stefan Heße über Terror, Zusammenhalt und die Einheit der Christen.

Eine alte Frau mit Pelzhut hat die Orientierung verloren. Sie braucht Unterstützung: Hilfe beim Umsteigen, jemanden zum Tragen und eine Tasse Tee. Und am meisten wohl ein warmherziges, mitfühlendes Wort. Auch zwei junge Männer aus Gießen bitten um Einlass. Sie vermissen Freunde.

Welch Segen, dass die Bahnhofsmission in solchen Notlagen eine helfende Hand ausstreckt. Seit nunmehr 121 Jahren wird Nächstenliebe in die Tat umgesetzt. Immer ist das wichtig, zu Weihnachten jedoch ganz besonders. Jetzt schmerzt die Kälte intensiver. Vor allem innerlich.

„Bahnhof ist ein Spiegelbild des Lebens“

„Der Bahnhof ist ein Spiegelbild des Lebens“, sagt Kirsten Fehrs. Sie nimmt Anteil, indem sie nachfragt. Gemeinsam mit ihrem katholischen Kollegen Stefan Heße, dem Erzbischof, blickt die evangelische Bischöfin vor dem Heiligen Abend hinter die Kulissen dieser sozialen Einrichtung im Brennpunkt der Hansestadt. Es ist die älteste ökumenische Institution der Hansestadt.

Am Hauptbahnhof, in Altona und in Harburg suchen in der Mission jährlich fast 130.000 Menschen Hilfe. Im Schnitt sind das 356 pro Tag. Geöffnet ist immer. Wirklich immer. In der 165 Qua­dratmeter großen Mission abseits der Wandelhalle haben 90 Mitarbeiter in vier Schichten rund um die Uhr alle Hände voll zu tun. Altgediente Routiniers sind dabei, aber auch sieben junge Idealisten, die ein freiwilliges soziales Jahr verrichten. Sie lernen fürs Leben.

Die Protestantin Kirsten Fehrs und der Katholik Stefan Heße kennen Höhepunkte und Abgründe des Daseins aus täglichem Einsatz – auf der Kanzel und an der Basis. Die Bischöfin passiert den Hauptbahnhof regelmäßig. Und der Erzbischof hat seinen Wohn- und Arbeitssitz um die Ecke im Stadtteil St. Georg. Dass dieser täglich von rund einer halben Million Menschen frequentierte Verkehrsknotenpunkt quasi zwischen Glockengießerwall und Kirchenallee liegt, ist kein Zufall.

„Licht und Schattenseiten“

„In der Bahnhofsmission konzen­triert sich alles, was das Leben bietet, mit Licht und Schattenseiten“, sinniert Bischöfin Fehrs bei einer Tasse Kaffee und selbst gebackenen Plätzchen im Empfangsraum der karitativen Einrichtung. Ihr Wirken wird von beiden Kirchen, der Sozialbehörde und vielen Spenden finanziert. „Nach St. Georg kommt die ganze Welt“, weiß Erzbischof Heße. Das hat er schon bei einem Rundgang unmittelbar nach seiner Amtseinführung im März 2015 gelernt. Der Bahnhof sei eine Stadt für sich.

Beide sind auch gekommen, um dem Missionsteam Danke zu sagen. Für außerordentlichen Einsatz, der oft unbezahlt und unbezahlbar ist. Axel Mangat, Sozialpädagoge, Diakon und Leiter der Organisation, berichtet vom alltäglichen, mal anpackenden, mal mitfühlenden und stets praktischen Einsatz: „Es ist ein schönes Gefühl, erwartet zu werden und erwünscht zu sein.“ Man verstehe sich als Erstambulanz, als Brücke zu den Hilfssystemen Hamburgs.

Persönliche Zuwendung schönstes Geschenk

Am 24. Dezember werden zwischen 14 und 18 Uhr abermals mehr als 130 Menschen zur Weihnachtsfeier erwartet. Es gibt einen Tannenbaum, heiße Getränke, aber keinen Alkohol, Gesang, Gedichte, Würstchen mit Kartoffelsalat und für jeden eine kleine Gabe: Zahnbürsten, Socken, Naschkram, Kaffeepulver. Alles Spenden.

Für manchen sind ein ruhiges Gespräch in anheimelnder Atmosphäre und persönliche Zuwendung das schönste Geschenk. „Das ist kirchliches Engagement am genau richtigen Ort“, sagt Kirsten Fehrs. „Hier pulsiert das Leben in konzentrierter Form“, ergänzt Stefan Heße. Man spüre den guten Geist der Mitarbeiter. Das Gespräch in der Mission dreht sich weiter um Ankunft, auch im übertragenen Sinne, um Willkommen, um Flüchtlinge – und natürlich um den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin.

„Dieses Attentat hat die Angst verstärkt“

„Dieses Attentat hat die Angst verstärkt“, sagt der Erzbischof von Hamburg. „Die Menschen sind innerlich aufgewühlt und fühlen eine erhöhte Sorge.“ Hoffentlich trage das Christfest zur „Entängstigung“ bei. Oft in den letzten Tagen habe er den Satz gehört: „Jetzt müssen wir erst recht zusammenstehen.“ Die Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche nickt zustimmend. „Es besteht eine zunehmende Sehnsucht nach Zusammenhalt und Gemeinschaft“, bringt sie ihre Einschätzung auf den Punkt. Gerade in Stille und Nachdenklichkeit könne etwas sehr Kraftvolles ruhen. Das rastlose Kommen und Gehen in der Bahnhofsmission lenkt für einen Moment von der traurigen Aktualität in Berlin ab.

Selbstverständlich wird diese auch ein Thema der Predigten an den Festtagen sein. Beide Oberhirten ihrer Kirchen absolvieren ein umfangreiches Programm. Kirsten Fehrs besucht Heiligabend die Feuerwehr in Sasel, Wohnungslose in der Bundesstraße sowie Flüchtlinge in Wandsbek. Um 13.20 Uhr ist sie mit einer Weihnachtsbotschaft auf NDR 90.3 zu hören, und um 23 Uhr predigt sie im Michel. Am 1. Weihnachtstag geht’s zum Festgottesdienst im Dom zu Lübeck. Stefan Heße besucht obdachlose Menschen und die Schwestern von Mutter Teresa im Haus Bethlehem auf St. Pauli. Um 23 Uhr feiert der Erzbischof die Christmette im St. Marien-Dom. An den Folgetagen predigt er in St. Birgitta in Lübeck sowie in Reinbek.

Gemütliche Teestunden

Bleibt Zeit für ein bisschen Privatleben? Die Bischöfin hat Verwandtschaft aus Süddeutschland zu Gast. Um den festlichen Schmuck in der Wohnung kümmert sich der Ehemann, ebenfalls ein Pastor. An einem der Abende besucht die Familie das Hansa-Theater. Der Erzbischof freut sich über den Besuch seiner Eltern aus Köln. Innehalten und gemütliche Teestunden sind angesagt. Wie sieht es mit ganz weltlichen Wünschen aus? Sie würde sich über einen neuen Koffer freuen, für die vielen Reisen, er sich über einen Toaster. Beim alten springen die Scheiben nicht mehr raus. Lautes Lachen hallt durch die Mission.

Dieser positive Spiritus setzt sich beim Ausblick auf das kommende Luther-Jahr fort. Beide, die evangelische Bischöfin und der katholische Erzbischof, hatten sich zur Begrüßung herzlich umarmt. Harmonie ist zu spüren. „Wir werden uns 2017 wieder oft sehen“, sagen sie unisono, „bei großen Anlässen, aber auch unter vier Augen.“ Halb im Scherz fügt Stefan Heße hinzu: „Der evangelische Kuchen schmeckt mir durchaus.“ Und plötzlich nimmt dieses Gespräch an ungewöhnlichem Ort eine überraschende Wendung.

Gemeinsamer Weg der Versöhnung

Stichworte sind bald 500 Jahre Reformation und ein gemeinsamer Weg der Versöhnung. „In Hamburg haben unsere beiden Kirchen eine besonders große Nähe“, meint Fehrs. „Das große Ziel ist die eine Kirche“, fügt Heße hinzu. „Ich träume vom Fernziel Einheit.“

Atem holen, noch ein Schluck Kaffee oder Tee, dann wird menschlicher Kontakt in größerem Rahmen gesucht. Auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 6 und 7, tobt das Leben. Die zwei Geistlichen und Herr Mangat von der Bahnhofsmission mischen sich unter Ankommende und Abreisende, suchen im Trubel gezielt das Gespräch. Nach einer Stunde verabschieden sich die Bischöfin und der Erzbischof: Gesegnete Weihnachten! Beider Botschaft ist angekommen: Besinnlich möge das Fest sein, aber auch fröhlich. Denn dazu besteht wahrhaftig Anlass. Trotz allem.