Hamburg. Ulla Hahn ist drin, Joachim Lux draußen: Unter den Top 500 sind rund 30 Hamburger. “Cicero“-Denker-Liste hält Überraschungen parat.
Martin Walser ist der Wichtigste. Der wichtigste Intellektuelle Deutschlands, noch vor Philosoph Peter Sloterdijk und Schriftsteller Peter Handke. So steht es zumindest in der Januar-Ausgabe des „Cicero“. Seit 2006 sucht das in Berlin ansässige „Magazin für politische Kultur“ in unregelmäßigen Abständen die 500 wichtigsten Intellektuellen des Landes.
Stefan Aust, Platz 9, ist auch der Wichtigste. In Hamburg. Allerdings nur, wenn man Aust (früher „Spiegel“, heute „Welt“) nicht arbeitsplatzgemäß als Berliner zählt. Dann stünde Wolf Biermann (30.) in Hamburg an erster Stelle. Die bestnotierte Hamburgerin ist die „Zeit“-Journalistin Iris Radisch auf Platz 81. Berliner, Münchner und Frankfurter sind übrigens insgesamt ein wenig öfter vertreten. Publizist Thilo Sarrazin (Platz 5) ist der höchste Neueinsteiger. Steil nach oben ging es auch für Theologe Reinhard Marx (von 145 auf 26) und Journalist Jakob Augstein (330 auf 50). Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., verlor dagegen 20 Plätze und steht nun auf 29.
Wer redet viel? Wer hat etwas zu sagen?
Ausgewertet wird, wer viel redet – wer etwas zu sagen hat, heißt das noch lange nicht: Die Liste bilde die „öffentliche Deutungsmacht ab, misst aber keine inhaltliche Qualität“, stellt die „Cicero“-Redaktion klar.
Die Top 30 in Hamburg
Die Auflistung ist eine Art Einfluss-Ranking, ein statistisches Verfahren. Das macht sie auf gewisse Weise zur unbestechlichen Angelegenheit. Andererseits: Was passiert mit Intellektuellen, die keine Medienmacht haben oder haben wollen? Ist jemand, der laut denkt (oder gar: erst spricht und dann denkt), wirklich klüger als jemand, der seine Ergebnisse seltener (mit)teilt? Was übrigens im Umkehrschluss keineswegs bedeuten muss, dass jene, die sich vergessen oder ungerecht platziert wähnen, automatisch stille Großdenker sind.
Beier ist drauf, Lux und Deuflhard sind es nicht
Darüber hinaus lässt sich in solch eine Hitparade ja so manches hineingeheimnissen, und wer will, kann sich daraus einen großen Spaß machen.
Fuchst es zum Beispiel, Stichwort Hamburger Denk-Elite, den ehemaligen „Stern“-Chefredakteur und vielseitigen Publizisten Michael Jürgs (Platz 237), dass sein Freund Ulrich Wickert (um 28 Ränge auf 59 gefallen) immer noch mehr als 170 Plätze vor ihm liegt? Und was hat es für den häuslichen Frieden zu bedeuten, dass Wickerts Frau, die Gruner+Jahr-Chefin Julia Jäkel, die immerhin als Weichenstellerin bei einem der wichtigsten deutschen Medienhäuser amtiert, nicht einmal erwähnt ist?
Den Herren Grass, Karasek, Willemsen und Raddatz war früher ein sehr ordentlicher Listenplatz sicher. Jetzt darf man auf ihren Wölkchen eine große Lust am (na, vielleicht nicht direkt gemeinsamen) Klatsch und Tratsch vermuten. Warum noch mal genau ist zum Beispiel der Bergsteiger Reinhold Messner (der neu auf Platz 21 direkt Höhenluft atmen darf) intellektueller als die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh (Platz 22 und damit immerhin 73 Plätze weiter vorn als beim letzten Ranking)? Und vielleicht gibt es ja auch U- und E-Intellektuelle? Rainer Moritz, der naturgemäß belesene Leiter des hiesigen Literaturhauses, ist übrigens einer der Neueinsteiger. Er kann höchst unterhaltsam über fast alles parlieren. Proust, Schlager, Fußball. Voilà: Platz 252.
Und Hamburg sonst so?
Karin Beier, Schauspielhaus-Intendantin: drin. Platz 372. Joachim Lux, Thalia-Intendant: draußen. Ebenso wie Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard. Die Hamburger Großschriftstellerinnen Ulla Hahn und Brigitte Kronauer: drin, na klar, ein denkbar knappes Rennen auf den Rängen 205 und 212. Karen Duve (277), die mal bei Hamburg gelebt hat, ist ins Brandenburgische verzogen, punktet jetzt also für den Osten. Eingewechselt aus Hessen: der Schriftsteller Andreas Maier (217), der denkt jetzt gewissermaßen für Hamburg. So wie auch der Präsident der Freien Akademie der Künste, Ulrich Greiner (144), und die Schriftstellerin Kirsten Boie (427). Cornelia Funke steht auf Platz 33, lebt aber in Kalifornien und nicht in Duvenstedt.
Eine gute Sache ist die Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen dabei unbedingt. Nicht nur, weil sie, jedenfalls stellenweise, höchst ungerecht und schon deshalb unterhaltsam ist. Sie rückt zudem eine gesellschaftliche Gruppe in den Mittelpunkt, die für Wissensvermittlung und Meinungsbildung unerlässlich ist. Schließlich sind Intellektuelle nicht so bekannt wie Sportler und in der Regel noch nicht mal annäherungsweise Popstars. Das zusätzliche Rampenlicht durch die „Cicero“-Liste wird der Sache, der sie sich jeweils verschrieben haben, nicht schaden. Oder ihrer eigenen. Viele kennt man sogar als bloß sporadischer Leser der großen Feuilletons oder Meinungsseiten spätestens von Auftritten bei „Anne Will“ oder „Maischberger“ oder „Maybrit Illner“: Alice Schwarzer natürlich (erste Frau auf der Liste, allerdings abgerutscht auf Platz 7), den Theologen Wolfgang Huber (Platz 11) oder auch den Journalisten Heribert Prantl (17).
Der Ökonom und Politologe Max A. Höfer hat im Jahr 2005 mit dem Geisteseliten-Ranking begonnen, bevor die „Cicero“-Redaktion die Liste übernahm und nach Höfers Messverfahren weiterführte, in diesem Jahr zum fünften Mal. Die Liste will einerseits faktisch abbilden, inwiefern es einem Intellektuellen gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Andererseits ist sie eine Einladung zur Diskussion: Wen – zum Beispiel: welchen Hamburger oder welche Hamburgerin – würde man sich zusätzlich auf der Liste wünschen?
Immer noch schaffen es zu wenig Frauen in die Hitparade
Wird einer nach seiner Meinung gefragt, weil er (oder sie) wichtig ist, oder sind die Genannten wichtig, weil sie gefragt werden ...? Und, der Klassiker: Sind eigentlich zu wenig Frauen im Club der greisen Denker? Schon bei der Premierenliste – wenn auch deutlich ausgeprägter als heute – waren Deutschlands Denker nämlich offenbar vor allem männlich und nicht mehr die Jüngsten, nur sieben Frauen schafften es 2005 auf Anhieb in die Top 100. 2016 sind es doppelt so viele. Also: immer noch erschreckend wenig.
Von der „Cicero“-Redaktion eine Frauenquote zu fordern bringt aber nichts. Schließlich wurde gerechnet, wer wo wie viel sagte. Die „Cicero 500“ bildet die Zustände ab. Und die sind so, dass die Deutungshoheit immer noch überwiegend bei Männern liegt, vorzugsweise bei in Ehren ergrauten.
Warum das so ist? Max A. Höfer konstatierte schon 2005 eine „Beißhemmung der Jungen“, auch die Frauen „trauen sich nicht so“, fand er. Seine Diagnose damals: Eine Gesellschaft, deren intellektuelle Elite ein Durchschnittsalter von 67 hat, sei geistig erstarrt. Hat sich da seither etwas getan? Die unvermeidlichen „biologischen Umschichtungen“, die Höfer angesichts des hohen Durchschnittsalters erwartete, sind teilweise eingetreten. Gebildete Männer wie Günter Grass oder Hellmuth Karasek sind aus verständlichen Gründen nicht mehr auf der Liste. Dumm nur: Wenn die Mittelalten die Alten ersetzen, weil die Alten irgendwann sterben, weht trotzdem wenig frischer Wind nach.
Dabei gäbe es ja durchaus Kandidaten, ja sogar: Kandidatinnen!, auf die man vielleicht genauer schauen, von denen man durchaus mehr hören möchte: Die NDR-Journalistin Anja Reschke („Panorama“) zum Beispiel, die nicht nur scharfsinnig und schon von Berufs wegen wortgewandt ist, sondern auch über ein Sendungsbewusstsein verfügt. Dass sich da eine Frau „nicht so traut“, kann man jedenfalls kaum behaupten, auch nicht, dass sie keine relevanten Themen für sich besetzen würde.
Apropos Literatur – von den Dichtern, den Seismografen des Gesellschaftslebens, wird zu Recht oft die Einmischung verlangt, das Engagement, die Wortmeldung. Die große Zeit des Schriftsteller-Mahnens scheint mit dem Tod von Grass vorbei. Warum eigentlich? Ein in Bosnien geborener Hamburger wie Saša Stanišić ist im Jahrhundert der Flüchtlingsschicksale prädestiniert für eine Rolle als intellektueller Stichwortgeber. Stanišić ist 38, er würde auch den Altersdurchschnitt angenehm drücken. Ein schreibender Kollege mit Hamburg-Bezug tut das bereits: Benjamin Lebert (Jahrgang 1982, „Crazy“) ist auf Platz 491 notiert. Und für Schorsch Kamerun (Jahrgang 1963) wäre auch noch Raum. Als Vordenker für moderne und alternative Stadtentwicklung, die ökonomisches Denken mit Kreativkonzepten und Menschenfreundlichkeit versöhnt, wäre der Musiker, Autor und Theatermacher auf der nächsten 500er-Rangliste in guter Gesellschaft.
Der Hamburger Uni-Präsident Dieter Lenzen befindet sich hier bereits. Ist Rang 258 eigentlich gut oder schlecht für den Chef einer Universität? Der Vergleich mit anderen hilft: Längst nicht jeder Bildungsmanager hat so viel Einfluss. Und Unis produzieren ja oft die Intellektuellen von morgen.
So war es jedenfalls bisher.