Hamburg. Heute vor einem Jahr starb der Hamburger Autor. Er hinterlässt das Buch „Nach dem Krieg“, ein Band voller Erinnerungen und Anekdoten.

Ausgerechnet „unamerikanische Umtriebe“ warf man ihm vor, ausgerechnet Hellmuth Karasek. Der später Drehbücher von Woody Allen übersetzen würde und Krimis von Raymond Chandler, der bis zuletzt seine Begegnungen mit Billy Wilder anekdotenreich nachzuerzählen vermochte – kein Karasek-Gespräch ohne Billy Wilder! –, der (genau wie Wilder übrigens) den „Amerikanischen Traum“ träumte, der nach dem Krieg die amerikanischen GIs für ihre Lässigkeit (und ihre Zigaretten) bewunderte, den Swing und das Hollywood-Kino verehrte, diesen ganzen verlockenden, verheißungsvollen, selbstsicheren „American Way of Life“.

Aber, ausgerechnet, diese Amerikaner wollten ihn nicht. Zunächst jedenfalls. Karasek, der das Abitur in der DDR 1952 abgelegt hatte und kurz danach in den Westen geflüchtet war, hatte ein Fulbright-Stipendium und also ein Studium in den USA in Aussicht, die Prüfungskommission jedoch ließ ihn nicht zu. Warum? Weil er – als Jahrgangsbester seiner Schule – mit einem kunstledergebundenen Stalin-Band ausgezeichnet worden war. „Stalin“, hatte der US-Geheimdienstoffizier der McCarthy-Jahre gesagt und auf das Zeugnis getippt. Unamerikanische Umtriebe.

Es wurde dann bekanntermaßen doch noch etwas mit Karasek und dem „land of the free“. „Wie wir Amerikaner wurden“ lautet der Untertitel eines neuen Buches, das Karaseks letztes geworden ist und das nun, genau ein Jahr nach seinem Tod, mit einem sehr persönlichen Vorwort seiner Frau Armgard Seegers, einem Nachwort von Ulrich Wickert und mit Unterstützung des Hamburger Publizisten Michael Seufert im Europa-Verlag erscheint.

Reklame und Sahneberge, Nylonhemd und Nierentisch

„Nach dem Krieg“ heißt es, und es vereint vieles: Es ist eine Liebeserklärung an das heute oft in den Hintergrund rückende Amerika der Coca-Cola-Kultur, es ist der Ausschnitt einer Autobiografie (die man von diesem Autor doch ganz gern auch in ihrer Gänze gelesen hätte), und es ist, zu einem erheblichen Teil, das in viele Kapitel gegliederte Erinnern an ein Deutschland der Nachkriegszeit. Wirtschaftswunder und Wunder von Bern, Kalter Krieg und echter Kaffee, Adenauer und Avon-Vertreterinnen, Reklamesprüche und Schlagsahneberge, Nylonhemd und Nierentisch, Mecki und Bambi, Staat und Gesellschaft.

Karasek wirft Schlaglichter auf eine Zeit, die auch durch ihre Doppelmoral und den Wunsch nach Verdrängung in Erinnerung bleibt, und er tut das weder herablassend noch beschönigend, sondern in liebevoll-spöttischem, gern auch selbstironischem Tonfall und mit einer wirklich bemerkenswerten Detailverliebtheit. Immer wieder ergänzt und verdeutlicht Karasek das Große und Ganze durch das Kleine und Persönliche. Er erkennt Möbelstücke als Ausdruck patriarchaler Strukturen (einen! Eames-Chair pro Wohnung – für den Hausherrn, der darin pfeiferauchend seinen „Playboy“ las, selbstverständlich wegen der Interviews), Bärte als Signale auch eines sexuellen Erwachens (Bärte „hatten damals noch nichts von scharpingscher Unbedarftheit“), das Auto als Symbol für Wachstum und Fortschritt und die Milchbars als Sehnsuchtsorte der Reinheit, Unbescholtenheit und Jungfräulichkeit. Die deutsche Gesellschaft wollte den Neubeginn. Den Blick zurück wollte sie nicht, noch nicht.

Es ist auch eine Identitätssuche, die Karasek schildert, nicht nur seine eigene, sondern die eines ganzen Volkes. Noch mehr aber ist es ein großes Weißt-du-noch, er springt von diesem zu jenem, zählt auf, zitiert, meist vergnügt, bisweilen fast bissig, gern garniert mit dem passenden Witz. Die aufkommende Italien-Sehnsucht der Deutschen spielt ebenso eine Rolle wie die Bedrohung durch die „Soffjets“ und der verdruckste Mief einer Sexualmoral, in der einerseits Aufstieg und Fall eines „Mädchens“ wie Rosemarie Nitribitt ein ganzes Land voyeuristisch in Atem halten konnte, es andererseits nicht nur als unschicklich galt, schwul zu sein, sondern Homosexualität und Kuppelei strafbar waren. Was der Autor, typisch Karasek, im Übrigen mit wunderbar plaudrigen Anekdoten aus seiner Zeit am Württembergischen Staatstheater zu verbinden weiß. „Manchmal“, so scheint er sich selbst zu wundern, „denkt man, es seien Jahrhunderte zwischen 1958 und 2015 vergangen – eine lange Zeit, wie die, ich übertreibe nur ein bisschen, zwischen Mittelalter und aufgeklärter Neuzeit.“

Mit der Arbeit an diesem Buch hatte Karasek in einem Südfrankreich-Urlaub im Sommer 2015 begonnen, vier Wochen vor seiner Krebsdiagnose, elf Wochen vor seinem Tod. Beenden konnte er den ihm wichtigen Band nicht mehr, sein Freund Michael Seufert hat ergänzt und bearbeitet. „Verdrängen macht Spaß, eine Weile; Erinnern macht mehr Spaß, nicht bloß eine Weile“, schreibt Hellmuth Karasek. Nun sind seine Erinnerungen auch zu einer Erinnerung an ihn selbst geworden.