„Faszination Musical“, Teil 5: Hamburg hat nicht nur große Bühnen – auch Schmidt und St. Pauli Theater feiern Erfolge mit Musikstücken.

Warum wir drei ein Musical über 24 Stunden an einen Imbiss auf der Reeperbahn geschrieben haben? Insgesamt 16 Jahre haben wir in vier verschiedenen Wohnungen auf St. Pauli gelebt. Zusammengenommen 29 Jahre, 7 Monate und 3 Tage haben wir in den Theatern am Spielbudenplatz gearbeitet. Wir haben 4538 Abende, vielleicht waren es auch 4539, da gehen die Meinungen etwas auseinander, in 68 verschiedenen Kneipen auf dem Kiez verbracht, dabei wurden 13.134 und ein halbes Bier getrunken und 912 Currywürste verspeist (...) Es war also einfach an der Zeit, diesem wunderbar verrückten, engels- und teufelsgleichen, absturzgefährlichen und wiederbelebenden Ort die Liebeserklärung zu machen, die er schon lange verdient hat. Wir wünschen Ihnen viel Spaß und gute Unterhaltung bei der ‚Heißen Ecke‘!“

Heiße Ecke läuft seit 12 Jahren

So las sich die Entstehungsgeschichte dieses Kultmusicals von Martin Lingnau, Thomas Matschoß und Heiko Wohlgemuth im September 2003, dem „einzigen Musical auf der Reeperbahn über die Reeperbahn“.

„Die Aufführungszahlen sind für ein deutsches Theater geradezu absurd“, sagt Corny Littmann, „Chairman“ des „Schmidt-Imperiums. „Die ‚Heiße Ecke‘ ist mit beinahe zwölf Jahren Laufzeit zurzeit das erfolgreichste deutschsprachige Musical. Wir sind heute über die Zwei-Millionen-Zuschauer-Grenze hinweg, im September 2014 hatten wir ja bereits unsere 3000. Vorstellung gefeiert. Hinzu kommen die ‚Villa Sonnenschein‘ mit annähernd 600 Vorstellungen, und für unsere ‚Königs vom Kiez‘ prophezeie ich eine ebenso lange Laufzeit wie für die ‚Heiße Ecke‘“,

400.000 Tickets werden im Jahr verkauft

Relativ gesehen, spielt die Schmidt Tivoli GmbH im Konzert der Großen mit. Mit jährlich 400.000 verkauften Eintrittskarten für die drei Bühnen (neben dem Tivoli gibt es noch das Schmidt-Theater mit 420 Plätzen sowie seit dem Sommer 2015 das Schmidtchen mit 80 bis 200 Plätzen) gilt es als erfolgreichstes Privattheater des Landes. Inklusive der Einnahmen aus Events und Gastspielen sowie der hauseigenen Gastronomiebetriebe verbuchte das Unternehmen (rund 230 Mitarbeiter) im Jahr 2014 rund 19 Millionen Euro Umsatz, die Theater kamen auf eine Gesamtauslastung von 86 Prozent. „Wir sehen uns jedoch nicht in Konkurrenz zu anderen Veranstaltern, denn im Schmidt präsentieren wir originäres deutsches Musiktheater. Ja, wir sagen tatsächlich lieber ‚Musiktheater‘, da es sich nicht um adaptierte Produktionen handelt, sondern um deutschsprachige Produktionen, die hier kreiert wurden – mit großem Erfolg!“, sagt Corny Littmann.

Das ungleiche Paar: Littmann und Aust

Von seinem Mitgesellschafter Norbert Aust stammt der visionäre Satz: „Das Schmidt-Theater ist ein Symbol für den Aufbruch der Reeperbahn zur Entertainment-Meile.“ Gesagt hatte er das am 8. August 1988 um 8.08 Uhr – bei der Eröffnung des Schmidts.

Auf den ersten Blick ist es ein ungleiches Duo: Da ist der kluge, stets um freundlichen Ausgleich bemühte Professor und sechsfache Vater; auf der anderen Seite der schwule Professorensohn aus Münster, der mit 17 nach Hamburg kam, Abitur machte und Psychologie studierte, sich aber dann doch lieber seiner Schauspielbegeisterung hingab und sich mit der Theatergruppe Brühwarm bundesweit für die Schwulenbewegung engagierte, bevor er mit seinem kabarettistischen Tourneetheater Familie Schmidt unter dem Motto „deutsch, aufrecht, homosexuell“ durchs Land tingelte – und sich daheim politisch engagierte, bei den Grünen. 1980 trat er sogar als deren Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl an, scheiterte aber.

St. Pauli Theater ältestes Privattheater

Dann lernte Littmann während der Proteste gegen den geplanten Abriss des Kampnagel-Geländes in Hamburg-Winterhude den Juristen und Volkswirt Aust kennen, der von 1980 bis 1991 Präsident der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik war. Der konnte dem Paradiesvogel so manche politische Tür öffnen – und Verhandlungspartner zur Not auch mal von der gefürchteten Launenhaftigkeit ablenken, die den impulsiven Theatermann ab und an überkommt.

Das Buch zur Serie

 

"Faszination Musical", 224 S., durchgehend bebildert. Preis: 24,95 Euro, TreuePreis: 21,95 Euro (gilt für alle TreueKategorien), erhältlich von sofort an in derHamburger-Abendblatt- Geschäfts­stell­e, Großer Burstah 18–32 , online unter www. abendblatt.de/sho­p­ oder per Telefon 040/333 66 999 (Preis zuzüglich Versandkosten) sowie im Buchhandel.

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Drei Jahre zuvor war Corny Littmann in Hamburg „sesshaft“ geworden und mit einem Freund, dem Travestiekünstler und TV-Moderator Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders, sowie mit ein paar Mitstreitern in den ehemaligen Kaiserhof am Spielbudenplatz Nummer 24 eingezogen. Dort hatten sie in dem plüschigen Tanzlokal das Schmidts gegründet, die Keimzelle des heutigen Imperiums. Ihre schrägen Shows – eine überraschende, unkonventionelle Mischung aus Musik, Theater, Artistik und Comedy, garniert mit überdrehten Tunten und Transen, viel Fummel, derbem Humor und als Pendant die superverklemmte Marlene Jaschke alias Jutta Wübbe – kamen beim Hamburger Publikum gut an. So gut, dass der NDR sich sogar dazu entschloss, die „Schmidt-Show“ aufzuzeichnen und auszustrahlen, was damals als „extrem mutig“ galt. Und selbst wenn Littmann und Aust inzwischen neben Uli Waller und Thomas Collien vom St. Pauli Theater ebenfalls zu den einflussreichsten Figuren im Hamburger Kulturbetrieb geworden sind, bleiben sie ihrem künstlerischen Grundkonzept treu.

Wandel von sündiger zu kulturreller Meile

Letztgenannte betreiben das älteste noch bestehende Privattheater Deutschlands. Auch Waller, der Intendant und der Besitzer Collien gelten als Lokomotiven für den Imagewandel von der sündigen Meile in eine sündhaft kulturelle „Reeperbahn“. „Wir versuchen, mit einem intelligenten Unterhaltungsmix an die große Tradition dieser Theatermeile anzuknüpfen, die bis zur Nazizeit hier existiert hat“, sagt Waller.

Und so bringen die beiden Macher neben Gastspielen von bekannten Kabarettisten, deutschen und ausländischen Komödien auch anspruchsvolle klassische und neuere Stücke aus dem Repertoire des anspruchsvollen Unterhaltungstheaters wie etwa „Endstation Sehnsucht“ (mit Ben Becker, Regie: Wilfried Minks) oder „The King’s Speech“ als deutsche Erstaufführung (mit Marcus Bluhm und Boris Aljinovic, Regie: Michael Bogdanov) auf die mehr als 175 Jahre alte Bühne.

Vorbild sind London und New York

„Unsere Vorbilder sind dabei immer wieder der Broadway oder das Londoner Westend“, sagt Waller. Deshalb setzt das St. Pauli Theater selbstverständlich auch auf eigene Musiktheaterproduktionen, die Texte und Stoffe auf die Bühne bringen, die sich wegen ihrer deutschen Wurzeln von genormten amerikanischen Musicalproduktionen unterscheiden – von der „Dreigroschenoper“ bis hin zum berühmten Musical „Linie S 1“. Dass ihr bissiges Musical „Hamburg Royal“, das die feine Hamburger Gesellschaft auf die Schippe nahm, im vergangenen Jahr ziemlich sang- und klanglos unterging, haben die beiden Theatermacher inzwischen verdaut.