Hamburg. Er brüllt, schlägt und tritt um sich – doch der Angeklagte bezeichnet sich selbst als missverstandenes Unschuldslamm.

Er tobt, er sperrt sich, er schreit, er lässt sich zu Boden fallen: Sechs Wachtmeister versuchen, Said B. (Name geändert) zu bändigen und auf einen Stuhl zu setzen. Doch der Mann wehrt sich. Er wolle einen anderen Verteidiger, insistiert der 29-Jährige. Die Anwältin, die ihn vertreten soll, und er hätten zu unterschiedliche Ansichten, keucht der aufgebrachte Mann. „Ich sehe grün, sie sieht weiß.“ Am Ende sind acht Justizbeamte im Saal und fesseln ihm die Hände auf dem Rücken. Der Randalierer wird aus dem Saal gebracht, mehr getragen als geführt. Solange er in dieser aggressiven Stimmung ist, kann gegen ihn kein Prozess geführt werden.

Wochen später, die Verhandlung hat neu begonnen, ist der Mann wie verwandelt. Jetzt mit dem Verteidiger seiner Wahl an seiner Seite wirkt der 29-Jährige entspannt. Ein Lächeln umspielt seinen von einem dichten Vollbart umrahmten Mund. Der freundliche, umgängliche Typ – oder der unberechenbare Widerspenstige? Was passt mehr zu dem üblichen Naturell des Mannes? Schließlich geht es auch in seinem aktuellen Verfahren um vermeintliche Aggressivität. Die Staatsanwaltschaft wirft Said B. vor, im Untersuchungsgefängnis in seiner Zelle randaliert und dann mit einem Tischbein in der Hand auf Justizbeamte los­gestürmt zu sein. Diese hätten ihn überwältigt, gefesselt und zu Boden gebracht. Auch hier habe er versucht, um sich zu treten, zu schlagen und zu spucken.

„Er hatte ein Tischbein in der Hand“

Doch laut der Version des Angeklagten ist er ein missverstandenes Unschuldslamm. „Ich habe nicht randaliert. Gar nichts“, beteuert der 29-Jährige. Er habe lediglich zum Arzt gebracht werden wollen und schließlich den Alarmknopf gedrückt. „Mehr als zehn Beamte kamen, hielten mich fest und warfen mich zu Boden. Ich habe auch nicht getreten oder gespuckt.“ Vielmehr sei er verletzt worden. Weil er so nicht mehr mühelos habe gehen können, sei er teilweise getragen worden. „Ansonsten war ich so ruhig wie letztes Mal im Gericht!“ Die Richterin hat da ganz andere Erinnerungen: „Das war doch nicht ruhig!“

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall
Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall © Andreas Laible / HA

Ein Justizbeamter schildert als Zeuge, wie der Angeklagte in seinem Haftraum randaliert habe. „Ich hörte Poltergeräusche.“ Gemeinsam mit einem Kollegen schloss er die Zelle auf. „Da ist er sofort auf uns zu. Er sah aggressiv aus, hatte ein Tischbein in der Hand.“ Sie überwältigten ihn und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken. „Er versuchte zu treten, er wand sich. Wir nahmen ihn, vier Mann, vier Ecken, und brachten ihn weg.“ Zwei weitere Justizbeamte bestätigen die Aussage ihres Kollegen: Der Angeklagte habe „erheblichen Widerstand“ geleistet. „Wir mussten ihn zu viert tragend abtransportieren.“

Said B. lebt seit Längerem in Deutschland und bemüht sich um eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Er sei im Irak geboren, beteuert er. Vor zwölf Jahren sei er aus dem Kriegsgebiet geflüchtet, über Syrien und die Türkei nach Europa gekommen. Einen Teil des Wegs legte er demnach mit dem Boot zurück, dabei sei sein Pass vollkommen durchnässt. „Ich habe ihn dann weggeworfen.“ Sein Bargeld sei aber noch gut erhalten gewesen.

Falsche Herkunft angegeben?

Fragen zum Schulsystem im Irak oder dortigen Bestimmungen, die die Richterin stellt, kann der 29-Jährige nicht vollständig beantworten. Der Grund für das Interesse der Vorsitzenden: Bei einem früheren Prozess hatte eine Dolmetscherin wegen B.s Dialekts bezweifelt, dass er aus dem Irak stamme. Sie halte ihn für einen Tunesier oder Algerier. Und ein anderer Dolmetscher, der als Sachverständiger gehört wird, ist sicher, „dass der Angeklagte nicht das im Irak typische Arabisch, sondern einen nordafrikanischen Dialekt benutzt“. Diese Wertung dürfte auch die Ausländerbehörde interessieren.

Im Strafprozess geht es indes lediglich um seine Taten. Schon früher hat er Haftstrafen kassiert – und nun kommt erneut eine dazu: Am Ende verhängt die Amtsrichterin eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, ohne Bewährung. Sie habe nichts von dem geglaubt, was er gesagt habe, weder zu seiner Herkunft noch zur angeklagten Tat, begründet die Vorsitzende das Urteil. Doch den überwiegenden Teil ihrer Ausführungen bekommt Said B. schon gar nicht mehr mit. Er hat derartig angefangen zu pöbeln, dass er von der Verhandlung ausgeschlossen werden muss. Also doch nicht der lammfromme, umgängliche Typ?