Hamburg . Hamburger Instrumentenbauer geht mit Innovation auf den deutschen Markt. Branche leidet bundesweit unter rückläufigen Absatzzahlen.
Der Hamburger Pianist Joja Wendt ist als flinker Tastenkünstler bekannt. Im Repertoire hat er Klassik und Jazz, Standards und eigene Kompositionen. Er kann ernst und unterhaltsam, auch gerne schnell. Aber als er seinen „Steinway Boogie“ in der Produktionshalle des Klavierbauers Steinway & Sons plötzlich vierhändig erklingen lässt, hören auch Musikkenner verwundert auf. Wie von Geisterhand bewegen sich für den zweiten Part die Tasten des schwarz polierten Flügels – zusätzlich zu denen, die der Mann am Klavier anschlägt. So, als spiele er gerade mit sich selbst.
Tatsächlich ist es die Wiedergabe einer Live-Performance, die Wendt eingespielt hat. Und die der Flügel jetzt mittels eines iPads über eine Bluetooth-Verbindung selbst spielt. Steinway Spirio nennen die Premium-Klavierbauer ihr Selbstspielsystem, das dem Unternehmen als bedeutendste Produktinnovation der vergangenen 70 Jahre gilt und in zwei der sieben Flügelmodelle eingebaut wird. So können sich Steinway-Liebhaber Künstler wie Lang Lang, Yuja Wang oder eben Joja Wendt zumindest akustisch nach Hause holen – und natürlich auch weiterhin selbst in die Tasten greifen.
„Mit Spirio wollen wir neue Kundensegmente erschließen, indem wir Klavierspielern wie auch kulturell anspruchsvollen Nichtspielern ,the best of both worlds‘ in einem Instrument anbieten: einen regulären akustischen Flügel in bekannter Steinway–Qualität und gleichzeitig ein digitales System auf entsprechendem Niveau mit hochauflösender Technik und einem ständig wachsenden Musikrepertoire“, sagt Manfred Sitz, der gemeinsam mit Co-Chef Werner Husmann das Europa-Geschäft von Steinway & Sons und des Produktionsstandorts in Bahrenfeld verantwortet.
Selbstspiel-Technologie wird in New Yorker Werk gefertigt
In dem großen alten Fabrikgebäude am Rondenbarg sind die 420 Mitarbeiter stolz auf die Tradition des 1853 von dem deutschen Klavierbauer Heinrich Engelhard Steinweg in den USA gegründeten Unternehmens. Die Instrumente, die nahezu in jedem Konzertsaal der Welt stehen und als Mercedes der Branche gelten, werden hier wie am Standort New York fast ausschließlich in Handarbeit gefertigt: vom aus 20 Hartholzschichten gebogenen Gehäuse über den Guss des Resonanzbodens bis zum Einbau der komplizierten Mechanik, die die Verbindung zwischen den Tasten, Filzhämmern und Saiten schafft. „Das bleibt auch bei Spirio alles genauso“, sagt Thorsten Dehning. Trotzdem unterscheidet sich sein Arbeitsplatz von den anderen Stationen, die die Flügel in ihrer zwölfmonatigen Produktionszeit bei Steinway durchlaufen.
Dehning ist für den Einbau der Selbstspiel-Technologie zuständig, die im New Yorker Werk von Steinway & Sons gefertigt wird. Der 51-Jährige setzt das Steuerungsgerät ein, überprüft die 88 Stößer, mit denen später die Tasten über eine Platine bewegt werden, und verlegt dünne Kabel im Klavier. „Der Klang des Flügels wird nicht beeinträchtigt. Es sitzt ja alles fest“, sagt der gelernte Tischler, der seit 26 Jahren bei Steinway arbeitet. Zur Vorsicht nimmt er deshalb lieber „einen Kabelbinder mehr“. Das hört sich fast zu einfach an, aber dahinter steckt wie immer bei Steinway ausgeklügelte, komplexe Arbeitsschritte.
80 Flügel der Modelle O und B hat Dehning in den vergangenen Monaten mit dem System bestückt. Danach scheren sie wieder in den normalen Herstellprozess ein. Bevor der erste Klang in einem Steinway-Flügel entsteht, werden Hammerköpfe justiert, Tasten ausgewogen, Saiten gespannt. Erst wenn das alles abgeschlossen ist, jedes der 12.000 Teile montiert, das Instrument eingespielt, lackiert und auf Hochglanz poliert ist, erwacht das besondere Innenleben. Und das hat es in sich.
Kunden sind in der Regel technikbegeisterte Klaviermusikliebhaber
Die Software, die hinter Spirio steht und zusammen mit dem weltweit bekannten Experten für Selbstspielsysteme Wayne Stahnke entwickelt wurde, misst die Hammergeschwindigkeit (bis zu 1020 Dynamikstufen bei einer Geschwindigkeit von bis zu 800 Signale pro Sekunde) und die Pedaleinstellungen (bis zu 256 Pedalpositionen bei einer Geschwindigkeit von bis zu 100 Signalen pro Sekunde). Das sorgt für die präzise Wiedergabe, egal ob weicher Triller oder donnerndes Fortissimo.
Alle Titel der Spirio-Bibliothek wurden von sogenannten Steinway Artists in New York extra eingespielt. Aber auch Aufnahmen bereits verstorbener Künstler, wie Glenn Gould, Duke Ellington oder Vladimir Horowitz sind mithilfe einer speziellen Software neu digitalisiert worden und Bestandteil der Spirio-Bibliothek. Genres, etwa Salonmusik, und Wiedergabelisten können wie auf dem Computer oder Smartphone ebenfalls per App und iPad angesteuert werden. Zurzeit umfasst die Bibliothek 1800 Titel, jeden Monat soll sie um bis zu 30 weitere wachsen.
Im vergangenen Jahr war Spirio zunächst in den USA, Kanada, Großbritannien und Singapur eingeführt worden, seit Frühjahr 2016 sind die selbst spielenden Flügel nun auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern erhältlich. Insgesamt 234 Modelle wurden weltweit bislang verkauft, zu Preisen ab 100.000 Euro. Der Betrag setzt sich aus den Kosten für den Flügel plus knapp 20.000 für den Einbau von Spirio zusammen.
Bei einem Großteil der Kunden handele es sich um Neukunden mit einem größeren Anteil an männlichen Käufern. Sie sind in der Regel Liebhaber von Klaviermusik, technikbegeistert. Unter anderem sei ein Arzt darunter, der Spirio für sein Wartezimmer gekauft hat, um seine Patienten mit Klaviermusik zu beruhigen, heißt es bei Steinway. Auch auf Ausbildungsinstitute setzt das Unternehmen. Einer der Ersten, die Spirio bestellt hatten, war übrigens Steinway-Investor John Paulsson, der nicht nur Hedgefondsbesitzer ist, sondern auch ein großer Musikliebhaber.
13 Millionen Euro will Steinway weltweit investieren
Mit Spirio verspricht sich Steinway-Manager eine Ausweitung der Zielgruppen und einen gesteigerten Absatz. In Deutschland ist der Markt für akustische Pianos und Flügel seit Jahren rückläufig. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts produzierten im vergangenen Jahr neun Unternehmen in Deutschland 3699 Klaviere (29 Millionen Euro Produktionswert) und 1996 Flügel (knapp 75 Millionen Euro). Im Vorjahr waren es 3964 Klaviere und 2563 Flügel gewesen. Bei Steinway in Hamburg werden im Schnitt 1200 Flügel im Jahr gefertigt. Verkaufszahlen nennt das Unternehmen nicht. Die wichtigsten Absatzmärkte für das Bahrenfelder Werk sind China, gefolgt von Deutschland und Japan.
Für das nächste Jahr hat Steinway & Sons ein umfangreiches Investitionsprogramm angekündigt. Das Budget liegt bei 13 Millionen Euro. Schwerpunkt ist Asien, geplant sind weitere Geschäfte und ein neues Verteilzentrum. In Hamburg wurde gerade ein modernes Blockheizkraftwerk mit einer Investitionssumme von drei Millionen Euro in Betrieb genommen. Im nächsten Jahr sollen weitere Mittel in neues Equipment für die Fertigung fließen.
Bleibt die Frage, was die Pianisten zu dem selbst spielenden Tasteninstrument sagen. „Ich finde es super“, sagt der Hamburger Joja Wendt. Als er vor einigen Wochen in New York Titel für die Spirio-Bibliothek eingespielt habe, darunter sein Hamburger Regenlied und einige Jazz-Standards, habe er keinen Unterschied zu einem Steinway-Flügel ohne die Technik bemerkt. Dazu kommt ein weiterer Vorteil: „Mein Klang wird reproduziert, und zwar genauso, wie ich klingen will.“ Also hat er keine Angst, dass der selbst spielende Flügel ihn arbeitslos machen könnte? Nein, sagt Wendt, „ein richtiges Konzert kann er nicht ersetzen“.