Hamburg. Vor 100 Jahren begann in der Hansestadt ein erbitterter Werftenstreik mit weitreichenden Folgen für alle Beteiligten.

Die Arbeitsbelastung ist brutal, das Essen eine Katastrophe, die Stimmung explosiv. Es fehlt nur noch ein Funke. Am 26. Oktober 1916, vor 100 Jahren, zündet er: Mitten im Ersten Weltkrieg bricht auf den beiden größten Werften Hamburgs, Vulcan und Blohm & Voss, ein verzweifelter Arbeitskampf aus.

Er hat sich lange angekündigt: Nirgends ist die Not größer, die Produktion wichtiger, die Arbeiterschaft schlimmer dran als an der Elbe. Jahrelang haben Unternehmer sich an der Kriegsproduktion goldene Nasen verdient. Jetzt schickt die Belegschaft ihnen die Rechnung.

Seit Kriegsausbruch am 1. September 1914 haben die großen Werften und ihre Zulieferer auch in Bremen und Kiel Hochkonjunktur. Besonders der U-Boot-Bau braucht immer mehr Leute. Seit Frühjahr 1915 werden vor allem Schiffbauer, Nieter, Stemmer und Bohrer rar. Die Marineverwaltung stellt bereits zum Militärdienst eingezogene Facharbeiter für die Helgen frei und zieht sie auch aus Ersatztruppenteilen und Rekrutendepots heraus.

Als das nicht reicht, müssen die Werften ungelernte Arbeiter einstellen und ausbilden: Kriegsgefangene, Jugendliche und bald sogar Frauen, obwohl die Werftarbeit mit Hitze, Rauch, Staub, Lärm und Stress für sie viel zu anstrengend ist.

Der Aufstand der Matrosen (hier in Wilhelmshaven), mit denen sich viele
hungernde Werftarbeiter verbündeten, führte zur Novemberrevolution 1918
Der Aufstand der Matrosen (hier in Wilhelmshaven), mit denen sich viele hungernde Werftarbeiter verbündeten, führte zur Novemberrevolution 1918 © akg-images

Die Neuen sind billiger, aber auch die Alten, die hoch qualifizierten Kupferschmiede, Dreher und Maschinenbauer, kommen mit ihren Löhnen schon lange kaum noch über die Runden: Weil die Preise ständig steigen, müssen, so die SPD-Zeitung „Hamburger Echo“, immer mehr Hungernde „bis zur Bewusstlosigkeit Überstunden leisten“. Viele sind unterernährt und werden krank.

Wucher treibt die Preise in die Höhe. Manche Nahrungsmittel werden um 1000 Prozent teurer und für Arbeiterfamilien unerschwinglich. Die Justiz verhängt nur lächerliche Geldstrafen gegen die miesen Geschäftemacher – für das „Hamburger Echo“ ein „Hohn“ und „Schlag ins Gesicht der Bevölkerung“.

Die Werftleitungen richten Kantinen ein. Doch dort gibt es, so ein Arbeiterausschuss in einer Beschwerde, nur „Wassersuppe mit Steckrüben“, von der sich die Leute „bei ihrer anstrengenden Arbeit kaum noch sättigen können“.

Die Regierung verteilt Lebensmittelzusatzkarten in den Kategorien „Rüstungsarbeiter“, „Schwerarbeiter“ und „Schwerstarbeiter“. Doch auch Schuhe und Arbeitskleidung sind kaum noch zu bezahlen. Arbeitervertreter fordern die Chefs auf, solche Artikel direkt bei den Fabrikanten einzukaufen und an die Belegschaft zu verteilen.

In Hammerbrook und Barmbek wurden Geschäfte geplündert

„Der nagende Hunger, der die Männer schwächte, Frauen auszehrte, Kinder verwelken ließ, hatte die Zwangswirtschaft bereits unterwühlt, ehe der Krieg beendigt war“, stellt der Sozialwissenschaftler August Skalweit fest. Bereits Mitte 1916 sind die Vorräte aufgebraucht, kann die Not auch nicht mehr durch Importe gelindert, der Mangel nur noch verwaltet werden.

Anfangs lassen sich die Arbeiter noch einiges gefallen: Viele waren für den Krieg, jetzt möchten sie ihn wenigstens nicht verlieren. Schon gar nicht wollen sie selbst im Schützengraben landen. Manche Chefs nutzen das aus, drohen mit dem Fronteinsatz und kürzen Aufmüpfigen die Akkordsätze.

Im Juni 1916 warnt die Kommission für Kriegsversorgung das Stellvertretende Generalkommando des IX. Armeekorps in Altona: „Die Kartoffelknappheit bezw. das fast vollständige Fehlen von Kartoffeln hat die Stimmung der Bevölkerung ungünstig beeinflußt. Bei längerem Ausbleiben ist eine Steigerung der Erregung zu befürchten.“

Am 18. August wird die Prophezeiung wahr: Als mit den Kartoffeln, dem „Herzstück der deutschen Küche“, auch Obst und Gemüse aus dem Angebot verschwinden, schlagen hungernde Arbeiter in Barmbek und Hammerbrook die Scheiben von 60 Geschäften ein, plündern die Auslagen und zwei Tage lang auch die Lagerhallen.

Warten auf den Einsatz:
U-Boote
1916 im Kieler
Hafen
Warten auf den Einsatz: U-Boote 1916 im Kieler Hafen © akg-images

Am selben Tag wird der Widerstand politisch: Die sozialistische Freie Jugend ruft zur ersten Friedensdemonstration ans Gewerkschaftshaus. Die Versammlung ist zwar illegal, doch 2000 Hamburger kommen trotzdem. Sie wollen zum Rathaus durchbrechen. Polizisten halten sie auf. Ein paar Tage später lösen die Behörden die Jugendorganisation einfach auf.

Den Schiffbau kann die kaiserliche Obrigkeit nicht so einfach stilllegen. Am 26. Oktober haben die Arbeiter endgültig die Nase voll. Auf den beiden größten Werften, Blohm & Voss mit rund 10.000 und Vulcan mit 4300 Beschäftigten, legen sie die Arbeit nieder.

Werftarbeiter verbündeten sich mit aufständischen Matrosen

Ein erbitterter Kampf um höhere Löhne beginnt. Die Gewerkschaften können nicht helfen: Im allgemeinen Hurra-Pa­triotismus haben sie sich, so der Historiker Volker Ullrich, „bei Kriegsbeginn zu streikpolitischer Enthaltsamkeit verpflichtet“. Doch die Werftarbeiter können auf die Erfahrungen des „wilden“ Streiks von 1913 zurückgreifen: Damals haben sie zum ersten Mal sogar gegen den Willen der Gewerkschaftsvorstände die Initiative ergriffen und noch während der Lohnverhandlungen die Arbeit eingestellt.

Das war im Frieden. Jetzt aber ist Krieg. Auch bei der Weser AG in Bremen und der Germania-Werft in Kiel überschreiten Hunger und Wut die kritische Schwelle. Scharfmacher wollen Polizei und Militär losschicken. Zum Glück setzen sich die Besonnenen durch. Einige Forderungen der Arbeiter werden erfüllt, und sie machen weiter.

Es ist ein fauler Frieden: Schon im Februar 1917 streiken die Bohrer auf der Vulcan-Werft für die Zusatz-Brotkarte, und bald wirkt die russische Februarrevolution auch auf die Arbeiter in Hamburg: „Der Wind hat den Unkrautsamen herübergetragen“, stellt der Monatsbericht des Militärs in Altona fest, „und er ist schon an vielen Stellen aufgegangen.“

Doch mit Parolen ist die Wut nicht mehr zu besänftigen: Als die Matrosen der Kriegsflotte im November 1918 die Monarchie hinwegfegen, sind es die Werftarbeiter, die sich als Erste mit den Aufständischen verbünden.