Hamburg. Vor 65 Jahren wurde das Ernst Deutsch Theater gegründet. Heute wie damals nimmt man sich aber keine Zeit zum Feiern.
Die Geburtstagsfeier fiel aus. Vergangenen Donnerstag vor 65 Jahren wurde das Ernst Deutsch Theater gegründet, aber wenn man das Thema im Haus anspricht, erntet man überraschte Reaktionen. Eine Flasche Sekt nach der Vorstellung, gut. Aber vorher muss der Vorhang hochgehen. Was das Ernst Deutsch Theater 2016 in eine ähnliche Situation versetzt wie 1951 – da ging es auch erst einmal darum, Theater zu spielen, nicht darum, zu feiern.
Der Krieg war 1951 gerade mal sechs Jahre her, das Kulturleben eine Baustelle. Und auf dieser Baustelle gründeten die beiden Schauspieler Friedrich Schütter und Wolfgang Borchert (nicht verwandt mit dem gleichnamigen, 1947 gestorbenen Dramatiker) ein Theater, historisch unbelastet, kritisch, zeitgenössisch. Programmatisch nannten Borchert und Schütter die Bühne, die am 13. Oktober ihre Tore an den Großen Bleichen öffnete, „Junges Theater“.
„Nach der am 1. September 1944 staatlich verordneten Schließung aller Theater und den Kriegszerstörungen begann im Spätsommer ein neues Kapitel Hamburger Theatergeschichte“, beschreibt die aktuelle Intendantin Isabella Vértes-Schütter die direkte Nachkriegszeit. „In den folgenden Jahren konnten die Häuser erst nach und nach wieder eröffnen. Und neue Theater wurden gegründet: die Hamburger Kammerspiele, das Theater im Zimmer und 1951 das Junge Theater.“ Ein Theater, weit entfernt vom repräsentativen Kunstgenuss früherer Zeiten, mit unbequemem Repertoire – schon 1952 wurde hier William Somerset Maughams selten gespieltes „Die heilige Flamme“ gezeigt.
1964 wurde es das größte deutsche Privattheater
Es folgte eine Zeit häufiger Umzüge, 1952 in die Neue Rabenstraße, 1956 in die Marschnerstraße. Erst 1964 endete der ständige Ortswechsel: Neue Heimat war ein ehemaliges Kino an der Mundsburg, dessen 743 Plätze das Junge Theater zum größten Privattheater der Bundesrepublik machten. 1973 gingen der damals 52-jährige Schütter und der 51-jährige Borchert nicht mehr als „jung“ durch, weswegen das auch schon 22 Jahre alte Theater umbenannt wurde – nach dem expressionistischen Schauspieler Ernst Deutsch, der vier Jahre zuvor gestorben war. Er hatte zuletzt an der Mundsburg als Lessings „Nathan“ brilliert.
Ein unbequemer Avantgardist, der während des Nationalsozialismus das Land verlassen musste, als Namenspate – eine Konsequenz, die nicht leicht ist für ein privatwirtschaftlich geführtes Haus, das immer um sein Publikum kämpfen muss. Tatsächlich durchlebte das Ernst Deutsch Theater regelmäßig wirtschaftliche Krisen, bis hin zur Beinahe-Pleite Mitte der 1970er-Jahre.
Bemerkenswert, dass Schütter künstlerisch dennoch kaum Kompromisse einging – seine Bühne blieb zeitgenössisch, unbequem, meinungsstark. Was auch Film- und Bühnenstars wie Mario Adorf, Peter Striebeck und Judy Winter lockte, die hier nicht als glamourträchtige Publikumsfänger eingesetzt wurden, sondern als ernst zu nehmende Schauspieler in Stücken wie George Taboris „Pinkville“ und John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“.
Diese Konzentration auf das Stück einerseits, auf Schauspieler andererseits ist bis heute das Kerngeschäft. „Es hat sich ästhetisch an unserem Haus sehr viel verändert, aber wir erzählen nach wie vor Geschichten“, meint Intendantin Vértes-Schütter. „Ansätze von Regietheater oder von Postdramatischem gibt es vereinzelt, das sind aber zarte Pflänzchen.“
1995 starb Friedrich Schütter, die Theaterleitung blieb aber in Familienhand: Neue Chefin wurde Schütters Frau Isabella, promovierte Ärztin und gelernte Schauspielerin. Die freilich ist Jahrgang 1962, bei ihrer Geburt existierte das Junge Theater schon elf Jahre. Erst 1986 hatte die damals 24-Jährige das Ernst Deutsch Theater erstmals wahrgenommen, weil ihre Schauspieldozentin Anne Marks-Rocke an Karl Parylas Inszenierung von Hauptmanns „Webern“ beteiligt war: „Es waren 60 Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, unglaublich! Aus meiner heutigen Perspektive frage ich mich einerseits, wie das zu finanzieren war, andererseits, wie alle hinter der Bühne überhaupt Platz gefunden haben.“
Seit 21 Jahren liegt das Theaterprogramm in Vértes-Schütters Händen, mit einer zweijährigen Auszeit ab 2004, weil die Intendantin als designierte Kultursenatorin des SPD-Bürgermeisterkandidaten Thomas Mirow verpflichtet war. Damals gab sie die Intendanz an Volker Lechtenbrink ab, auch der ein Künstler, der dem Haus seit Jahren eng verbunden ist.
Ziel war es immer, ein breites Publikum zu gewinnen
Mit der Senatorinnenkarriere freilich wurde es für die Sozialdemokratin Vértes-Schütter nichts, die CDU errang bei den Bürgerschaftswahlen die absolute Mehrheit. Dafür war die Pause Gelegenheit für Vértes-Schütter, ihre Arbeit zu reflektieren: „Es hat mir gefallen, von außen auf das Haus zu schauen. Der Abstand hat mir einen Neubeginn ermöglicht, ich habe darüber nachgedacht, wie ich das Theater weiter öffnen kann, das war gut.“
Das Theater „weiter zu öffnen“ ist ein Ideal, das sich seit 65 Jahren durch die Geschichte der Bühne zieht. „Das Junge Theater hat sich damals an alle theaterinteressierten Menschen gerichtet, besonders auch an junge Menschen. Der Hunger nach kulturellen Erfahrungen muss nach dem Krieg ungeheuer groß gewesen sein“, das klingt ganz ähnlich wie das begeisterte „Das Ernst Deutsch Theater ist ein Theater für alle!“, mit dem Vértes-Schütter die aktuelle Ausrichtung beschreibt. „Ich glaube, das Haus hat immer versucht, ein breites Publikum für Theater zu begeistern, insofern hat sich die Zielgruppe vielleicht gar nicht so sehr verändert.“ Ein Bedürfnis, Geschichten erzählt zu bekommen, wird es wohl immer geben.