Hamburg. Wie überlebt der Zirkus im Zeitalter des Ereignis-Überflusses? Bei Charles Knie scheint das klassische Programm noch zu funktionieren.

Am Hintereingang riecht es nach Tier, Sägemehl und Wärmesalbe. Letztere üppig aufgetragen von Patricio, einem Luftakrobaten der Flying Wulber, der seit Minuten ein unschuldiges Gymnastikband malträtiert, um die Wirkung der thermischen Creme zur vollen Entfaltung zu bringen. Ziehen, entspannen, ziehen, entspannen – aus seinen muskulösen Armen treten erhabene Adern. Aufwärmen, Probejonglieren, Tiere sammeln. Im Halbdunkel dieser seltsamen Zwischenzone treffen sich alle, bevor sie ins gleißende Scheinwerferlicht treten, um dreifache Saltos zu springen oder sich in eine Schuhschachtel zu falten. Jetzt müssen aber erst die sechs Pferde aus der Manege. Vorhang auf, alle mal zur Seite, bitte!

Zirkus wie im Zirkus Charles Knie ist immer noch ein bunter Knallbonbon der Unterhaltungsbranche. Vielleicht nicht mehr „The greatest show on earth“ wie im gleichnamigen Filmklassiker aus dem Jahr 1952, als die „Ringling Brothers and Barnum & Bailey Circus“-Company die USA kollektiv von den Sitzen riss. Aber eine bizarre Show, ein Skurrilitätenkabinett und ein bisschen Poesie ist der Auftritt des fahrenden Volkes noch immer. Wenngleich umstrittener denn je, nicht grundlos wurde die Show in der Manege schon mehrfach für tot erklärt.

Die gute alte Seelöwennummer: Flappy, der Bulle rechts, wiegt 350 Kilogramm
und frisst täglich zehn Kilo Fisch. Das Ehepaar Pedersen dressiert
Die gute alte Seelöwennummer: Flappy, der Bulle rechts, wiegt 350 Kilogramm und frisst täglich zehn Kilo Fisch. Das Ehepaar Pedersen dressiert © HA | Roland Magunia

Doch sie lebt offenkundig noch. Gegenwärtig zu besichtigen in Hamburg. Und wenn man Zirkusdirektoren wie Sascha Melnjak fragt, wie eine Show heute sein sollte, antwortet er, er sei ein Freund des klassischen Zirkus. Also Menschen, Tiere, Sensationen. Wie in der „greatest show on earth“. Tierschutzproteste hin, gesteigerte Unterhaltungskonkurrenz her. Klassisch ist gut, klassisch hat sein Publikum, sagt Melnjak. Dabei ist der Direktor des Zirkus Charles Knie selbst gar kein klassischer Zirkusdirektor.

Es ist ein windiger Herbstmorgen auf der Horner Rennbahn. Über Nacht ist Sascha Melnjak mit seinem Zirkusunternehmen in Hamburg angekommen. 100 Mitarbeiter, 90 Tiere, 200 Fahrzeuge. Amtssprache: Italienisch. Darauf können sich die meisten der internationalen Artisten einigen. Es ist Aufbautag bei einem größeren Betrieb der Branche. Knie begreift sich als traditioneller Zirkus mit Akrobatik, Clownerie, Zauberei und Tierdressuren, das Hauptzelt fasst 1500 Gäste. Und obwohl ein Vorkommando den Platz schon hergerichtet und fast 300 Zeltanker in den Boden gerammt hat, ist es immer hektisch, immer speziell, sagt der Zirkusdirektor.

Mehr als 300 deutsche Zirkusunternehmen gibt es offiziellen Angaben zufolge noch, meist kleine Familienbetriebe, in denen alle alles machen. Einlass, dann Tierdressur, später Popcorn-Verkauf und am Ende noch einen Handstand. Unterhaltungsmaschinen wie Krone, Sarrasani, Roncalli, Flic-Flac oder Charles Knie leisten sich nicht mal mehr eigene Artisten. Sie buchen die Künstler saisonweise als mitreisende Subunternehmer. Vorbild sind Großkonzerne wie der kanadische Cirque du Soleil. Der Zirkusgast von heute ist anspruchsvoll. Und kritisch. Das Programm der Großen wechselt fast jedes Jahr.

Männer, die auf Männer starren: Man beachte die Einarmigkeit des Handstands.
Die Messoudis begeistern in der Manege mit Kraft und Technik
Männer, die auf Männer starren: Man beachte die Einarmigkeit des Handstands. Die Messoudis begeistern in der Manege mit Kraft und Technik © HA | Roland Magunia

Bis sich beim Aufbau auf der Horner Rennbahn alles einruckelt, dauert es. Haben alle fließendes Wasser? Wo gibt’s Strom? Und wie viel Platz bleibt für die Tiere? Auch für Direktor Melnjak ist dieser Ort Neuland. Seit das Heiligengeistfeld offiziell wegen Kampfmitteluntersuchungen als Spielfläche für Zirkusse gesperrt ist, müssen andere Plätze gefunden werden. Krone hat deswegen im vergangenen Jahr sein Gastspiel in der Hansestadt abgesagt. Knie nicht.

Melnjak und seine Leute haben noch am Vorabend eine Vorstellung in Celle gegeben, nun sind fast alle in Hamburg, liegt der Geruch von Dung über dem bunten Provisorium, die nostalgisch stimmenden Glühbirnen-Schriftzüge künden vom „Super-Circus“. Das ewige Auf- und Abbauen ist Routine, mehr als 24 Stunden braucht das Team nicht „Oft muss ich überlegen, wo wir gerade sind“, sagt der Direktor. Fast 50-mal pro Saison wechselt die Karawane ihren Spielort. Meist machen Lkw, Campingwagen und Tiertransporter nur ein paar Tage Halt. In Hamburg gastiert Charles Knie fünf Wochen, bis Ende Oktober.

Direktor Sascha Melnjak sieht jünger aus als 41 und ungefähr gar nicht wie ein Zirkusdirektor. Kapuzenpulli, Jeans, fertig. Er ist Profi, wirkt aber für einen, der lauter Rampensäue dirigiert, sehr zurückhaltend. Er trägt keine bunten Anzüge, kann weder Tiere dressieren noch Trapeznummern aufführen. Er hat mal gezaubert. Aber das ist eine andere Geschichte. Seine Geschichte ist die eines Kaufmanns, der Zirkusdirektor wurde. „Seit ich sechs Jahre alt war, fasziniert mich diese Welt.“ Dafür müsse er nicht in der Manege stehen.

Melnjak ist im bürgerlichen Milieu Stuttgarts aufgewachsen, hat Abitur gemacht und eine Kaufmannslehre abgeschlossen. Doch wenn andere Ferien hatten, zog Melnjak in den Zirkus, eine geschlossene Welt. Er hat Plakate geklebt, kassiert, alles aufgesogen. Irgendwann wurde er Tourmanager, vor zehn Jahren kaufte er dann den damals noch kleinen Zirkus Charles Knie „für einen niedrigen sechsstelligen Betrag“. Aus 30 Mitarbeitern wurden 100. Inzwischen ist der Umsatz siebenstellig.

Trapezkunst ist eine Belastung für alle: für den Fänger, für den Springer
und trotz des Netzes für das Publikum: jeder Salto – ein Atemaussetzer
Trapezkunst ist eine Belastung für alle: für den Fänger, für den Springer und trotz des Netzes für das Publikum: jeder Salto – ein Atemaussetzer © HA | Roland Magunia

Im aktuellen, zweieinhalbstündigen Programm „EuphoRie“ geht es Schlag auf Schlag, hatte der Direktor vorher gesagt. Bäm, bäm, bäm! Keine langen Auf- und Abbaupausen, und dieses Mal auch keine Elefanten oder Raubkatzen. Aber nicht aus ideologischen, sondern aus konzeptionellen Gründen. Dafür sind Lamas, exotische Rinder, Zebras, Pferde, Ponys, Kängurus und Seelöwen dabei. Ein traditioneller und temporeicher Mix aus Artistik, Tierdressur, Unterhaltung, Nervenkitzel und außergewöhnlich biegsamen, außergewöhnlich akrobatischen oder außergewöhnlich starken Menschen. Mit Show-Ballett, achtköpfigem Live-Orchester, viel Glitzer, Armbrustschießen, Nebelmaschine, etlichen Kostümwechseln und einem Clown aus Portugal, der jetzt Comedian heißt.

Schon eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn werden bei Charles Knie die Kamele durch den Hintereingang ins Zelt geschoben. Ihre Gefühlswelt ist ihnen nicht anzusehen. Sie wirken weder gequält noch glücklich. Kamele halt. Für sie heißt der Schichtbeginn: Kinderbespaßung. Einmal reiten – vier Euro. Ein einträgliches Zusatzgeschäft. Genau wie die kostenpflichtigen Erinnerungsfotos, die erst mal unverbindlich geschossen werden, die Souvenirs, die umfangreiche Gastronomie und die Tierschau.

Plakate genügen nicht. Man muss auch digital werben

Im Vergleich zum Primus der deutschen Branche, dem Circus Krone mit 400 Mitarbeitern, 250 Tieren und eigener Marketingabteilung, ist Knie eher übersichtlich. Ins Geld geht so ein Zirkus trotzdem. „Jeder Tag hier kostet fünfstellig“, sagt Melnjak. Das Tierfutter sei dabei ein kleiner Posten. Teuer sind Löhne, Strom, Öl und Wasser. Zudem legt der Chef viel Wert auf Werbung für seine kleine Eventagentur. Auch teuer, sehr teuer sogar. Ein Trupp reist dem Zirkus stets eine Woche voraus, pflastert die Hauptverkehrsstraßen, Kioske, Schulen und Unternehmen mit Plakaten, Flyern und Gutscheinen. Facebook und andere digitale Kanäle werden großzügig bedient. Selbst wer nicht kommt, soll wissen: Der Zirkus ist in der Stadt.

Erst Armbrustschütze (Ziel ist seine Frau Priscilla!) mit ruhiger Hand, in
den Pausen Devotionalienverkäufer am Rand: Präzisionskünstler Marco
Erst Armbrustschütze (Ziel ist seine Frau Priscilla!) mit ruhiger Hand, in den Pausen Devotionalienverkäufer am Rand: Präzisionskünstler Marco © HA | Roland Magunia

Früher war der Zirkus einfach da. Eine nicht zu übersehende Attraktion, vor allem auf dem Land, wo naturgemäß Mangel an Attraktion herrschte. Kein Kino, kein Theater, kein Einkaufszentrum. Schlimmstenfalls konkurrierte ein Zirkus mit dem örtlichen Schützenfest. Ergo war das Zelt verlässlich voll. Genau wie die Kassen. Heute muss ein Zirkus wie Knie, der Eintrittspreise von 15 bis 33 Euro aufruft, nicht nur mit protestierenden Tierschützern, sondern auch mit einer durchdigitalisierten Welt zurechtkommen. Die Konkurrenz heißt Playstation, Spaßbad, Flatrate-Saufen, Online-Games und Mega-Events. In Großstädten kommt ein Grundrauschen aus Marathon, Frühlingsdom, Schlager­move, Harley Days, Hafengeburtstag, Sommerdom, Triathlon, Cyclassics und Winterdom hinzu. Deshalb könne man die Freie und Eventstadt Hamburg im Frühjahr und Sommer aus Zirkussicht vergessen, sagt Melnjak. „Eigentlich funktioniert es hier nur im Herbst.“ Da kann es der an Vergnügungen nicht unterversorgte Großstädter einrichten. Erfahrungsgemäß.

Draußen, hinter dem Zelt von Charles Knie, erscheint nun auch das Orchester zum Dienst. Ein Musiker nach dem anderen muss einen weiten Bogen durch die Weidezäune der Tierschau laufen. Am Ende stehen acht Anzug tragende Musiker schweigend am Hintereingang, die Arme auf das Absperrgitter gestützt, sich im meditativen Starren übend. Auf die Schubkarre für den Tiermist. Auf den dramatisch bewölkten Himmel. Auf die spärlich bekleideten Damen vom Show-Ballett. Dann treten sie fast synchron ihre Zigaretten aus, um auf die Orchesterempore zu steigen. Die Arbeit ruft. Als Taktgeber müssen die Instrumentalisten das Programm zweimal täglich durchpauken und wegtrompeten. Freie Wochenenden gibt es nicht. Wie für alle hier heißt es: Werktags ist 16 Uhr erster Showbeginn. 19.30 Uhr machen alle das alles noch mal.

Egal in welcher Stadt: Heidi Messoudi hat es dank Kunstrasenterrasse immer
schön vor ihrem Wohnwagen. Zum Pflegeprogramm gehört das Blumengießen
Egal in welcher Stadt: Heidi Messoudi hat es dank Kunstrasenterrasse immer schön vor ihrem Wohnwagen. Zum Pflegeprogramm gehört das Blumengießen © HA | Roland Magunia

Marek Jama hat mit dem Chef das Konzept der Show entwickelt, das musikalische Leitmotiv „Euphoria“, der Grand-Prix-Gewinnersong des Jahres 2012, hält den Laden zusammen. Wo früher lehnenlose Holzbänke waren, machen moderne Lichtanlagen und Schalensitze den Zirkuskessel zur Erlebniszone. Muss man haben, sagt der Chef. Genau wie die Tierdressuren, sagt auch der Chef. Vor diesem Hintergrund dürfte Marek Jama das Feindbild vieler Kritiker sein. Der Pole ist Tierlehrer bei Charles Knie, wie Dompteure und Dresseure heute heißen. Er ist gerade 40 geworden und hadert damit. Im Zirkus sind Alter und Körper wichtiger als anderswo, mit Fettleibigkeit hat ein Künstler jedenfalls ein Problem.

Der Wind pfeift durch die Pferdeboxen, als Jama sich seinem andalusischen Hengst Romboso nähert. Ein ganz besonderes Temperament habe das Tier. Es zeigt keine Scheu oder Angst. Später wird er die Hohe Schule auf dem 14-jährigen Hengst reiten. Die ganzen Tierschützer hätten ja keine Ahnung. Die sollten mal vorbeikommen und sich die Tiere ansehen. Er trainiere seit Jahren mit ihnen, alles basiere auf Vertrauen und Belohnung, auf Fördern und Fordern, eine willkommene Abwechslung für die Tiere sei die tägliche Arbeit aus Probe und Doppelauftritt. Sie bekommen Futter, haben Auslauf, werden bewegt, es gehe ihnen gut. Wer etwas anderes behaupte, kenne sich nicht aus.

In der Show sind vor allem die Kinder von den Tiernummern begeistert. Die Rollschuhartistik des Duos Medini? Toll! Das Flugtrapez der Flying Wulber? Großartig! Aber aus dem Häuschen sind die Kleinen beim einmal durch die Manege hüpfenden Känguru, dem patagonischen Seelöwen Flappy und den exotischen Rindern. Unter den meisten ­erwachsenen Deutschen schwindet allerdings laut Umfragen die Akzeptanz für Wildtiere in der Manege. In 18 europäischen Ländern herrscht bereits ein Wildtierverbot für Zirkusse, in 70 deutschen Städten ist es nicht erlaubt, bestimmte Arten auf kommunalen Flächen zu präsentieren. Hamburg hat trotz rot-grünen Senats kein solches Verbot.

Tierlehrer Marek Jama mit seinem andalusischen Hengst Romboso. 90 Tiere,
darunter Lamas, Zebras und Kamele, trainiert der 40 Jahre alte Pole
Tierlehrer Marek Jama mit seinem andalusischen Hengst Romboso. 90 Tiere, darunter Lamas, Zebras und Kamele, trainiert der 40 Jahre alte Pole © HA | Roland Magunia

Direktor Sascha Melnjak lächelt müde. Dass die Zirkuswelt im Jahr 2016 nicht nur aus Zuckerwatte, Popcorn und Plüsch besteht, sondern auch aus massiver Kritik, bekommt der Chef dauernd zu spüren. In jeder Stadt stünden Organisationen wie Peta oder Vier Pfoten vor der Tür, plakatierten Unbekannte anklagende Sprüche Richtung Zirkus. „Wir haben versucht, mit Peta zu reden“, sagt der Direktor. „Ihnen zu erklären, dass keines unserer Tiere die Wildnis je kennengelernt hat, sie diesen Lebensraum nicht vermissen. Aber das Ziel von Peta ist die vegane Gesellschaft.“ Für Argumente seien sie taub. Dass ein Amtstierarzt in jeder Stadt die Haltung, den Futtervorrat und den Gesundheitszustand der Tiere kontrolliert, sei ein Fakt. „Wir werden besser durchleuchtet als jeder Mastbetrieb“, sagt Melnjak.

Tierlehrer Jama hat Abitur und hätte solche Untersuchungen fast selbst gemacht, er sollte Tierarzt werden, ist dann aber beim Zirkus gelandet. „Das ist Freiheit für mich.“ Auch wenn es in diesem engen Verbund genauso viele Liebschaften wie Feindschaften gebe. Tiere lägen ihm mehr als Menschen. Fluchttiere wie Zebras zu trainieren könne man nicht erzwingen, da komme es auf Geduld und Beziehung an. „Zuerst sitzt du nur da und bietest Futter an.“ Stundenlang. Jama hat privat noch zwei Hunde. „Meine Kinder.“

Chefkurator und Kaufmann: Zirkusdirektor
Sascha Melnjak vor seinem Zelt
Chefkurator und Kaufmann: Zirkusdirektor Sascha Melnjak vor seinem Zelt © HA | Roland Magunia

Peter Höffken, Referent der Tierrechtsorganisation Peta, nennt Zirkusbetriebe wie Charles Knie dennoch „antiquiert“ und „altbacken“. Der gesellschaftliche Trend sei nicht aufzuhalten. Laut Bundesregierung habe es im zuletzt erfassten Berichtsjahr (2011) bei 900 amtstierärztlichen Untersuchungen bundesweit 400 Verstöße gegen die Haltungsbedingungen gegeben. Immerhin lobt Peta den diesjährigen Verzicht auf Elefanten und Raubkatzen im Zirkus Knie als erste Einsicht. Der Zirkus lässt aber trotzig wissen, dass er den Einsatz der Tiere bei künftigen Tourneen nicht ausschließe.

Artisten werden saisonweise lange im Voraus gebucht

Weniger verfahren ist die Situation beim nun aufgewärmten und eingesalbten Trapezkünstler Patricio. Für ihn ist die Sache klar: Auftritt. Jetzt! Also Pferde raus, Gettofaust mit den Requisiteuren – und ab, ins Licht der Manege. Genauer: in die Kuppel des Zeltes. Dort werden die weißen Anzüge der Flying-Wulber-Crew hübsch illuminiert. Ein netter Effekt für eine spektakuläre Flugschau mit Dreifachsalto als Höhepunkt.

Auf der Rückseite des Vorhangs läuft die fein geölte Unterhaltungsmaschine indes unentwegt weiter. Vorne Romantik, hinten Arbeit. Jeder weiß, welche Requisite wann wohin gehört. Puschel, Podeste und Trampoline werden verstaut und gefaltet. Mal hierhin, mal dahin gehoben. Zwischendurch haben die Helfer aber auch Zeit, die Dating-App Tinder zu checken oder nur so am Smartphone zu spielen. Im fahlen Licht ihrer Displays sitzen sie im Halbdunkel. Die Musik sagt ihnen, wann’s weitergeht.

Damit der Laden ökonomisch erfolgreich läuft, muss im schwieriger gewordenen Geschäftsumfeld präzise und weitsichtig kalkuliert werden – unkalkulierbare Risiken wie ausbleibendes Publikum einkalkuliert. Kleine Städte sind schneller abgespielt als große. Binsen. Um verlässliche Einnahmen zu haben, gehen manche Zirkusse an Schulen, andere in Krisengebiete, wo das Publikum dankbar für Ablenkung ist.

Eisen fressen vor dem Auftritt: Die Kraftakrobaten Soffien (liegend) und Karim
Messoudi sind in bemerkenswerter Form. Trainiert wird unter freiem Himmel
Eisen fressen vor dem Auftritt: Die Kraftakrobaten Soffien (liegend) und Karim Messoudi sind in bemerkenswerter Form. Trainiert wird unter freiem Himmel © HA | Roland Magunia

Das Unternehmen Charles Knie fährt mehrgleisig. Im November ist der komplette Zirkus im französischen Lille gebucht. Ein namhafter Automobilkonzern will seinen Angestellten eine Freude machen und hat im Voraus bezahlt. Im Winter gibt es zwei Weihnachtszirkusse, die Tierschau wird gebührenpflichtig verliehen, danach geht es zum Zirkusfestival nach Monaco. Nur im Februar und März pausiert das Geschäft im Winterquartier im niedersächsischen Einbeck. Urlaub für die Stammbesatzung. Die neue Tour kommt bestimmt.

Da es kaum noch eigene Artisten bei den großen Zirkussen gibt, „kriegen wir fast täglich Bewerbungsvideos“, sagt Direktor Sascha Melnjak. „Die Guten muss man aber drei, vier Jahre im Voraus buchen.“ Und dass sich die Messoudis dazu zählen, daran lassen sie keinen Zweifel.

Manege frei! Das Zelt des Zirkus Charles Knie fasst pro Vorstellung rund 1500 Besucher. Schalensitze statt lehnenloser Bänke sind Standard. Die Lichtshow ist auf jeden Auftritt abgestimmt, modernste Technik kommt zum Einsatz, dirigiert von Lichttechniker Enrico Zoppe
Manege frei! Das Zelt des Zirkus Charles Knie fasst pro Vorstellung rund 1500 Besucher. Schalensitze statt lehnenloser Bänke sind Standard. Die Lichtshow ist auf jeden Auftritt abgestimmt, modernste Technik kommt zum Einsatz, dirigiert von Lichttechniker Enrico Zoppe © Roland Magunia | Roland Magunia

Karim und Souffien sind die Jüngsten in der Kraftakrobaten- und Jongleurfamilie Messoudi. Zwei gestählte junge Männer mit breitem Lächeln. Mit ihrem älteren Bruder und ihrem marokkanischstämmigen Vater haben sie eine kraftraubende Nummer einstudiert. Täglich trainieren müssen sie dafür nicht mehr, höchstens Kraftübungen. Sie sind schon immer auf Tour. Seit sie denken können. „Wir hatten keine Wahl“, sagen beide. Als Zweijährige konnten sie ihren ersten Handstand, mit neun Jahren sind sie ins Training eingestiegen. „Wenn du als Kleinster in der Show den größten Applaus kriegst, fühlst du dich wie ein Superstar“, sagt Karim. „Dann willst du immer mehr. Das ist wie eine Droge.“ Karim ist 23, Soffien 26. „Er ist der Beste, ich bin der Schönste“, sagt Soffien.

Karim hat eine Freundin im Show-Ballett, Soffien ist Single. Das Reisen in der Familie sei beim Zirkus ein Geschenk, mit Beziehungen sei es nicht so einfach. Sie sprechen vier Sprachen, sind in Australien geboren, haben den britischen Pass und tauchen gern in andere Kulturen ein. Ihr Fazit: Zirkus bildet. Andererseits muss das Gebilde stimmen und das Gehalt gezahlt werden. Offenbar geht das mit Zirkus noch. Auch im Jahr 2016. Was die Erkenntnis des Kaufmanns Melnjak, der einen Zirkus führt, ebenso einleuchtend wie nüchtern klingen lässt: „Wenn’s sich nicht lohnen würde, würden wir‘s nicht machen.“

Vorstellungen: bis einschließlich 30. Oktober tägl. 16 + 19.30 Uhr, sonn- und feiertags 11 + 16 Uhr. Erwachsene 15–33 Euro, ermäßigt 10–28 Euro; Kinder unter drei Jahren frei; Familienvorstellungen: mittwochs 16 Uhr, 10 Euro auf allen Plätzen, 15 Euro Loge. Informationen und Tickets: Tel. 0171/946 24 56 oder
www.zirkus-charles-knie.de