Das Viertel wird zum Schauplatz von G20 und OSZE. Das gefällt nicht allen Anwohnern. Wie links ist das Quartier noch?

Markige Parolen an Häuserwände streichen, das können sie noch. „Smash G20 – die Feinde der Freiheit sind die unseren“, steht in großen, grauen Lettern auf einer Altbauwand im Karolinenviertel. Ist es passiv-aggressive Drohkulisse? Oder der revolutionäre Restwind, der noch durchs Viertel pfeift? Die Widerstandskämpfer von einst sind ja auch nicht jünger geworden. Sie haben Bäuche bekommen, sich eingerichtet.

Nebenan, in Gretchens Villa, geht der Cappuccino systemkompatibel für 2,30 Euro raus, das italienische Fladenbrot für 4,90 Euro. Manchmal guckt die Werber-Elite von Jung von Matt hier ebenso rein wie der verlotterte Quartiers-Irre, der auf der Marktstraße jedem, der nicht rechtzeitig weghören kann, den Ohrwurm „No limit!“ verpasst. Sneakershop trifft auf Centro Sociale, das Restaurant von Samy Deluxe auf Kleider für 239 Euro. Alles hin- und hergerissen zwischen Aufwertung und Aufbegehren. Die Systemkritik spürt den langen Arm des Kapitalismus. Und dazwischen: ein bisschen Wahnsinn.

Als solchen empfindet etwa Anwohner Harald Lemke den Plan, hier im Dezember erst das OSZE-Treffen von 57 Außenministern und danach, im Juli 2017, den G20-Gipfel ausrichten zu wollen. Wie jetzt öffentlich wurde, sollen dann jeweils rund 10.000 Polizisten im Einsatz sein. Lemke ist ein dunkelhaariger, überlegter Mann, der sich wenig Mühe gibt, seine politische Heimat zu verbergen. Er ist jetzt 51, lebt seit Ende der 1980er-Jahre im Karoviertel, seit zehn Jahren in einem selbstverwalteten Mehrfamilienhaus an der Marktstraße.

Das Selbstverständnis ist links, freiheitsliebend

Dass sich seine Nachbarn und er auf massive Sicherheitsmaßnahmen einstellen müssen, stoße in diesem Milieu auf wenig Begeisterung. Er nennt es eine „gezielte Provokation“, eine Form von Symbolpolitik, dass man sich ausgerechnet die benachbarten Messehallen für ein Treffen der Mächtigen ausgesucht hat. „Das ist ein linksliberales und politisiertes Viertel zwischen Sternschanze und St. Pauli. Das passt doch nicht.“

Davon kündet der bedrohliche Schriftzug an der Hauswand. Das zeigt die massive Anwohnerkritik bei der Infoveranstaltung zum OSZE-Treffen im September. Und dafür spricht, dass die autonome Szene bei einem Brandanschlag auf einen führenden Polizeibeamten bereits angekündigt hat, dass sie OSZE und G20 für genauso legitime Anschlagsziele hält wie Häuser und Autos der Polizeiführer: „Wir unterstützen den Vorschlag der Militanten ... die Herrschaftstrukturen vor dem G20-Gipfel anzugreifen und in Hamburg und anderswo Tschüs zu sagen zu allem, was uns auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft im Wege steht.“

Es sind die Vorboten für einen Proteststurm, der sich im Karoviertel bald entladen könnte. Denn wenn die Mächtigen der Welt Station in der Nachbarschaft machen und Ausweiskontrollen für Anwohner an der Tagesordnung sind oder die Parkplätze in den Sicherheitszonen geräumt werden müssen, wird die Szene von ganz Linksaußen anrücken. Solche Zusammenkünfte haben bisher noch immer verlässlich zu Auseinandersetzungen am Rande geführt. Und dieser Rand ist in diesem Fall bald das Karoviertel.

Wirtin Elisabeth Ramirez-Paci vor dem Cento Lire
Wirtin Elisabeth Ramirez-Paci vor dem Cento Lire © Roland Magunia | Roland Magunia

Es ist ein Quartier, das einen Ruf zu verteidigen hat: sehr politisch, sehr links, sehr freiheitsliebend. Neben der provokativen Wandmalerei wurde in den 80er-Jahren die erste Punkerkneipe der Stadt eröffnet. Ein paar Meter weiter ließ Rechtspopulist Ronald Schill im Jahr 2002 als Innensenator den Bauwagenplatz Bambule unter tagelangem Krawall räumen. Früher galt das Viertel als Armenhaus, als Abrisskandidat, als Rückzugsort gesellschaftlicher Außenseiter. In dieser Tradition verwirklichen hier noch heute im weitesten Sinn Kreative ihre Lebensentwürfe. Allein die Ankündigung, beim Gipfeltreffen in einer Sicherheitszone zu leben, ließ die Bewohner aufschrecken und die Szene drum herum Solidarität bekunden.

Kunst und Kommerz

Ob diese Solidarität gewollt ist und der ablehnende G20-Schriftzug die Monate bis zum nächsten Sommer überdauert, ist dabei fraglich. Vielleicht wird aus Aktualitätsgründen aus G20 noch OSZE gemacht. Denn nicht nur Harald Lemke fürchtet, dass die Maßnahmen deutlich vor dem 8. Dezember starten. „Hier werden viele Beamte unterwegs sein, auch undercover.“

Selbst wenn es im Straßenbild kaum noch Menschen gibt, die auch nur im Entferntesten so aussehen, als ob sie nachts Anarcho-Parolen an Hauswände sprühen, ist das Karoviertel in seiner Selbstwahrnehmung immer noch: dagegen. Sie sind hier sowieso latent genervt von den Touristen, die ihre Reiseführer-Geheimtipps abarbeiten. Machen aber gleichzeitig ihre Kunst in Läden zu Kommerz.

Anwohnerin Marian von Redeker
Anwohnerin Marian von Redeker © Roland Magunia | Roland Magunia

An den zwei Tagen werden 3500 Gäste, darunter Delegationen der USA, Türkei, Ukraine und Russlands, in Hamburg erwartet. Innensenator Andy Grote (SPD) sieht aber keinen Grund für Pro­bleme: „Wir wollen die Einschränkungen für die Bevölkerung so gering wie möglich halten.“ Es soll ein Höchstmaß an Versammlungsfreiheit und kritischem Austausch möglich sein. Und tatsächlich ist es so, dass in der Sicherheitszone 2 (siehe Karte) nur zwei Wohnhäuser stehen. „Bewohner müssen sich ausweisen, um ihre Wohnungen in der Sicherheitszone betreten zu können. Andere Personen müssen ein berechtigtes Interesse nachweisen, etwa einen Besuch bei den Bewohnern“, so Holger Fitzer von der Hamburger Polizei. Dann werde geprüft, ob derjenige abgeholt oder zum Hauseingang begleitet wird. Fahrzeuge müssen aus der Sicherheitszone 2 entfernt werden. Die Sicherheitszone 1 bezeichnet das Veranstaltungsgelände an sich. „Hier ist eine ­Akkreditierung für Pressevertreter, Veranstaltungsteilnehmer oder Sicherheitspersonal erforderlich.“

Weniger Gentrifizierung als in der Schanze

Die Klientel habe sich in den vergangenen Jahren stark verändert, sagt Anwohner Lemke. Mehr Design, weniger Punk, mehr Boutiquen, weniger Bambule. „Aber eine unangenehme Art der Gentrifizierung wie am Schulterblatt ist uns bisher erspart geblieben.“

Nach dem Krieg wurde das Quartier mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben. Eher mehr. Viele Arbeitsmigranten lebten hier. Definitiv noch kein Ort für Reiseführer, dafür relativ günstig, wie Elisabeth Ramirez-Paci, die mit ihrem Mann die Trattoria Cento Lire an der Marktstraße führt, weiß. Sie ist hier aufgewachsen: „Als Kind war es mir in der Schule peinlich zu verraten, wo ich lebe.“ Heute ist sie 45 und lässt Stolz auf das Quartier durchblicken. Nicht mehr so schmuddelig, nicht mehr so wild, aber dafür vorzeigbar, fast zu vorzeigbar.

Ende der 80er-Jahre setzte durch die Steg (Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft) eine große Sanierungswelle ein. „Danach sah es zwar schöner aus, aber irgendwann waren eben auch die alternativen Leute weg“, so die Gastronomin. Ihr Restaurant hat von dem Wandel profitiert. „Heute kommen mehr Leute her, die nicht im Stadtteil wohnen. Das gab es früher kaum.“

Was das OSZE-Treffen angeht, ist sie fast so hin- und hergerissen wie das Karoviertel selbst. Sie weiß nicht, ob sie sich auf die umsatzstärksten Tage des Jahres einstellen – oder besser schließen soll. Ihr Restaurant liegt gegenüber dem Messehallen-Eingang. Das Gebiet wird zum OSZE-Treffen an die Hochsicherheitszone grenzen. „Wir haben keine Ahnung, wie das dann hier geregelt sein wird. Wir wissen nicht, ob alle Polizisten und Journalisten bei uns essen gehen. Sonst kommt ja wahrscheinlich keiner rein“, sagt sie. „Irgendwie werden wir das aber schon regeln.“

„Wir sind älter und angepasster geworden, bleiben aber kritisch“, ist das Mantra des Viertels. Leute, die hier schon länger wohnen, blicken in einer Mischung aus Romantik und Ablehnung auf die Entwicklung ihres Zuhauses.

Annette Doornbus, Verkäuferin im Blumenladen Saxifraga an der Glashüttenstraße, beschreibt die Wandlung zum Besucherhotspot kritisch. „Was hier fehlt, ist eine Eckkneipe für Anwohner“, sagt sie. Wo sich alle treffen können, nicht nur das Jungvolk. Das Scheinwerferlicht des OSZE-Treffens mache die Sache nicht besser: „Ich finde das bescheuert. Wir werden isoliert sein. Für die Geschäfte bedeutet das Einbußen.“

Gemäßigte Kritik. Kein Aufruf zu Straßenschlachten. Denn die Sorge vor Krawall und Remmidemmi ist ebenso allgegenwärtig. Widerstandsgeist und Streitlust: ja. Aber wer die ganz große Empörung sucht, landet irgendwann unweigerlich an der Flora-Neumann-Straße. Dort steht eines der zwei Wohnhäuser, die sich in der Hochsicherheitszone 2 befinden.

Vielleicht wirkt die Haltung von Mariann von Redecker, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in dem modernen Haus lebt, deshalb zunächst überraschend. „Ich habe aus unterschiedlichen Gründen Verständnis für die Maßnahmen“, sagt sie. Und damit mache sie sich auch gern zum „Advocatus Diaboli“, zum Anwalt des Teufels. Die Vertriebsmitarbeiterin und Bier-Sommelierin ist keinesfalls ein unkritischer Mensch – im Gegenteil. Als Jugendliche hat sie sich an Schienen gekettet, um gegen Castor-Transporte zu protestieren, hat schon auf einem Bauwagenplatz gelebt und später neben Kunstgeschichte auch Politikwissenschaften studiert.

Am Treffen der 57 Außenminister könne sie sich erst mal nicht stoßen. So würden auch normale Bürger mitbekommen, was Politik heißt. „Ich bin stolz darauf, dass wir in einer funktionierenden Demokratie leben, und dazu gehören auch solche Treffen.“ An irgendeinem Ort müssten die halt stattfinden, das muss man dann auch aushalten. Einen solchen Gipfel einfach abzulehnen hält sie für verkürzt.

„Die Sicherheitsmaßnahmen empfinde ich keinesfalls gegen mich gerichtet. Außerdem wurden wir ja vorher informiert und haben nun Zeit, uns darauf einzustellen.“ Von Redecker glaubt, dass ihre Nachbarn im Haus ähnlich denken. „Allerdings haben wir hier viele Familien mit kleinen Kindern. Das ist vielleicht nicht ganz ideal.“ Die Polizei, die erwartbaren Proteste, die Ausnahmesituation.

Aber wie sollte eine Zusammenkunft im urbanen Raum sonst laufen? Geplant wird das Gipfeltreffen im Auswärtigen Amt in Berlin. Immerhin werden John Kerry (USA), Sergej Lawrow (Russland) oder der Franzose Jean-Marc Ayrault erwartet. Und mit ihnen etwa 1300 Diplomaten und 1700 Techniker.

Rummel ist unangenehm 

Von Redecker weiß noch nicht, ob sie an den Tagen da sein wird. „Vielleicht werde ich auch versuchen, in unser Ferienhaus im Wendland zu fahren. Das machen wir bei Großevents öfter mal.“ Unterversorgt sind die Anwohner mit Dom oder Messen dahingehend nicht. Für den Fall, dass sie in Hamburg bleibt, hat sie schon mit ihren Kindern gesprochen. „Unser eineinhalbjähriger Sohn wird es sicher spannend finden, vom Fenster aus Polizeiautos anzugucken.“

Doch wo kommt der Protest her, wenn er selbst hier kaum zu hören ist? Die Marktstraße, das Zentrum des Karoviertels, ist nach wie vor in subkultureller Hand. Keine Ketten, dafür inhabergeführte Läden, Cafés und Restaurants. In den Schaufenstern und Auslagen liegen 200-Euro-Pullover, 150-Euro-Schuhe oder 70-Euro Hemden in einem Laden, der EndHemd heißt. Die Terrassen sind vor allem mit trendbewussten Touristen gefüllt, die Einheimischen bevorzugen ihre hübschen Hinterhöfe. Die Frau im Blumenladen hatte gesagt, dass es im Viertel keinen Platz mehr für die „Menschen von früher“ gebe. Und dass sowohl das OSZE-Treffen als auch der G20-Gipfel für die Stadt nichts bringen würden. „Wir werden nichts davon haben“, sagt Anwohner Harald Lemke.

Zu dem Teil der Stadt, der sich gesteigerte Aufmerksamkeit erhofft, gehören jedenfalls die wenigsten Bewohner des Karoviertels. Das passiert nicht in ihrem Namen. Aufmerksamkeit ist vielen hier eher unliebsam. Im Schatten der Schanze lebt es sich aus Sicht der Bewohner recht gut. Organisch. Langsam. Unaufgeregt. Doch der Geheimtippstatus weicht, weshalb die solider gewordene Anwohnerschaft mit großer Skepsis beäugt, was vor ihrer Tür geschieht. Aus dem Bunker auf dem Heiligengeistfeld soll demnächst eine begrünte Attraktion werden. Und die Punkerkneipe von einst? Ist heute ein Bioladen.