Hamburg. 240 Shops, 59.000 Quadratmeter: Das AEZ ist Hamburgs größter Konsumpalast – und das Labor für den Kampf gegen Amazon und Co.
Das Versprechen klebt balkendick an der Glasscheibe. „Hier eröffnet am 20. Oktober 2016 die neue Depot-Filiale.“ In der rechten Ecke verkündet ein geschwungener Schriftzug: „My home is my love.“ Hinter dem Plakat für den neuen Deko-Shop geht es indes weder um Heimat- noch um Liebesgefühle. Es staubt, eine Flex kreischt. Auf nacktem Estrich schneiden Klimatechniker Rohre zu, ein paar Schritte weiter zieht ein Kollege Strippen. Mittendrin beugt sich Bauleiter Daniel Timko über die Pläne und brummt: „Ich habe den Eröffnungstermin nicht gemacht.“ Der Kampf gegen die Uhr stresst, da unliebsame Überraschungen den Zeitplan durcheinandergewirbelt haben. Wer konnte auch ahnen, dass sich die zu entfernende Wand, im Plan ausgewiesen als dünner Trockenbau, plötzlich als massive Betonmauer entpuppte? Und erst die unterschiedlichen Fußbodenhöhen! „Nein“, seufzt Timko: „Ohne Nachtschichten wird das hier nicht gehen.“
Die Frau neben ihm passt mit ihrem dunklen Kleid und den schwarzen Pumps eher auf eine Modenschau als auf diese Baustelle im Alstertal-Einkaufszentrum in Poppenbüttel. Doch für Ludmila Brendel (41) ist dieser Ortstermin wichtig. Seit zwei Jahren leitet sie gemeinsam mit Karsten Bärschneider als Centermanagerin das AEZ, mit 240 Shops auf 59.000 Quadratmetern Verkaufsfläche das größte Einkaufszentrum der Hansestadt. Im Schnitt strömen täglich 38.000 Kunden ins AEZ. Versprechen müssen eingelöst werden, es wäre zu peinlich, wenn ein Besucher eigens am 20. Oktober anreisen würde, um dann festzustellen, dass vor der Depot-Filiale noch immer ein Plakat pappt. Deshalb sagt Brendel denn auch: „Bis zum 20. Oktober sind es noch drei Wochen, das wird schon klappen.“
Seit 1999 arbeitet sie für die 1966 von Werner Otto gegründete Einkaufs-Center Entwicklung, die inzwischen als ECE Projektmanagement GmbH 196 Konsumtempel im In- und Ausland steuert. Brendel hat Center in Magdeburg, Berlin, Plauen und Schwedt gemanagt, zehn Jahre verantwortete sie das Center in Billstedt. Jetzt, sagt ihr Chef Alexander Otto gern, habe sie mit Bärschneider den schwierigsten Job in seinem Konzern. Warum? Weil unter den 1300 Mitarbeitern in der Konzernzentrale gegenüber viele wohlwollende Ratgeber sind, die – ähnlich wie die unzähligen Bundestrainer im Fußball – genau wissen, wie man das AEZ noch besser machen kann.
Brendel ficht das alles nicht an, Anregungen seien doch gut. Beim Gang durch das Zentrum scannt sie mit den Augen jeden Quadratmeter, eine Serviette auf dem Boden entsorgt sie sofort im Abfallkorb: „Das steckt einfach in einem drin.“ Aus den Lautsprechern klingen Sting und ABBA, die Sonne lugt durch die Glaskuppel, Wasser plätschert in einem Bassin mit Mosaikfliesen.
Kein Lärm und kein Staub dürfen den Kunden stören
Nichts soll die schöne Einkaufswelt stören. Planen verhängen die Bauarbeiten in neuen Shops, ganz laut darf nur nachts gewerkelt werden. Sorgsam abgeschirmt stampfen auch die mächtigen Pressen den Müll kurz und klein; an der Rampe nebenan schimpft ein Lkw-Fahrer beim Ausladen seines Containers mit Hunderten Anzügen über die Handwerker, deren Transporter alles blockierten.
Brendels wichtigster Auftrag lautet: Nichts von dieser Hektik darf die Kunden erreichen, auch nicht in diesen Wochen, in denen zwölf Shops gleichzeitig um- oder neugebaut werden. Die Centermanagerin handelt Mietverträge aus, checkt Nebenkostenabrechnungen, organisiert Dienstpläne, kümmert sich um Werbung – und muss nebenbei das AEZ fit für die Internetzukunft machen.
Vor knapp 46 Jahren, als Werner Otto binnen acht Monaten das AEZ in den Poppenbüttler Grund rammte, berichtete das Abendblatt bei der Eröffnung im November 1970 schon einmal über eine ECE-Mitarbeiterin. Damals bewunderte ein Reporter das „reizende Lächeln“ der Dame an der Besucherinfo. Man könne sich kaum vorstellen, dass die blonde Antje, zuvor Buchhalterin, sich „Tag für Tag mit nüchternen Bilanzen herumplagte. Bestimmt ist sie als lebendige Wegweiserin besser geeignet.“ Heiratsanträge seien nur eine Frage der Zeit.
Der Artikel verrät viel über das Frauenbild in Zeiten des Wirtschaftswunderlands. Und wer Fotos der Eröffnungsfeier vom 4. November 1970 studiert, sieht fast nur Männer mit Krawatten und dunklen Anzügen um das Stehpult von Bürgermeister Herbert Weichmann, der in seiner Rede das AEZ als Musterbeispiel einer „fortschrittlichen Entwicklung für heute und morgen“ pries. Die Frauen standen erst am nächsten Morgen dicht gedrängt vor der Glasscheibe, voller Neugier auf den Einkaufstempel. „Die meisten Hamburger wissen es schon: selbst bedienen = selbst verdienen“ betitelte der Schuhladen im AEZ seine Abendblatt-Anzeige. Überall gab es damals noch Tante-Emma-Läden. Die Kunden klebten Rabattmarken, für die Kinder gab es Lutscher, man durfte auch schon mal anschreiben lassen, wenn das Haushaltsgeld zur Neige ging.
Drei Jahre vor der Ölkrise waren Smartphones und Tablets, Apps und Mails so unbekannt wie die fremden Galaxien, die „Raumschiff Enterprise“ ab 1972 im ZDF ansteuerte. Und niemand konnte ahnen, welcher Feind Jahrzehnte später eine ganze Branche bedrohen sollte. Ein Vierteljahrhundert später verkaufte ein Amerikaner namens Jeff Bezos das erste Buch über seine neue Internet-Plattform. Er wollte sein Unternehmen „Relentless“ – also gnadenlos – nennen. Freunde warnten ihn, so taufte er 1995 seine Firma Amazon.
Gemessen an dem von ihm entfachten Konkurrenzkampf wäre der ursprüngliche Name wohl ehrlicher gewesen. 2015 verkaufte allein Amazon in Deutschland Waren für 10,9 Milliarden Euro, der Einzelhandel gerät unter Druck wie noch nie. Branchenexperten befürchten, dass bis 2025 in Deutschland 50.000 Geschäfte aufgeben müssen.
Werden damit auch die Kathedralen des Einkaufs aussterben wie vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier, dahingerafft vom Internethandel, wo das nächste Objekt der Begierde stets nur einen Klick entfernt ist? Die US-Website „deadmalls.com“, das Verzeichnis geschlossener oder gar abgerissener Einkaufszentren, liefert jedenfalls eine Liste des Grauens – allein im US-Staat New York verabschiedeten sich bis jetzt 41 Malls. Zu allem Überfluss kannibalisiert sich die Branche gerade selbst. Auf der Suche nach lukrativen Investments in Niedrigzinszeiten bauen Fonds immer mehr Center, allein in Berlin gibt es derzeit 67 Konsumtempel. Der „Spiegel“ diagnostiziert „aberwitzige Ausmaße“ angesichts von inzwischen 476 Centern zwischen Flensburg und Konstanz – mehr als fünfmal so viele wie vor der Wende. In Hamburg plant der französische Immobilienkonzern Unibail-Rodamco im Überseequartier für 977 Millionen ein Center mit 80.500 Quadratmetern Gesamtfläche. Spätestens 2021 dürfte das AEZ dann seinen Titel als Hamburger Branchenprimus los sein; die Einzelhändler in der City warnen bereits vor massiven Umsatzeinbußen.
Kann angesichts dieser Konkurrenz und des Kampfes gegen Amazon & Co. auch das ECE-Investment 2005 für die AEZ-Erweiterung nebst Frischzellenkur zum 125-Millionen-Euro-Grab werden? Peter Glöckner hält nichts von solch apokalyptischen Prognosen. Er sagt: „Gute Einkaufscenter können auch in 30 Jahren noch gutes Geld verdienen.“
Glöckners Einschätzungen sind wichtig, denn wahrscheinlich weiß kaum jemand in Deutschland über die Branche so viel wie der 57-jährige Betriebswirt aus Düsseldorf. Vor 43 Jahren ging Glöckner bei einem Bochumer Möbelhändler in die Lehre, auf dem zweiten Bildungsweg landete er schließlich bei Karstadt, managte dort Filialen, ab 1993 große Einkaufszentren. Seit drei Jahren berät er die Branche als Geschäftsführer der IPH Centermanagement GmbH.
Der Metzgerladen heißtjetzt „Fleisch-Boutique“
Glöckner ist überzeugt, dass Einkaufszentren sogar Gewinner der Einzelhandelskrise werden können – wenn sie denn eine Grundregel beherzigen: Sie müssen ein überzeugendes Profil entwickeln. „Nur dann kann man am Markt überzeugen.“ Entscheidend für das Profil sei vor allem der richtige Branchenmix bei Shops und Gastronomie. Discounter wie Penny, Lidl oder Aldi könnten in eher sozial schwächeren Lagen wie ein Magnet wirken, in anderen dagegen eher abschrecken – da sei ein Vollsortimenter wie Edeka die bessere Wahl.
Ein entscheidender Hebel, sagt Glöckner, sei die Gastronomie. Wer seine Kunden drei oder noch mehr Stunden im Zentrum halten wolle, müsse mehr bieten als billige Fast-Food-Ketten-Kost. Gehobene Erlebnisgastronomie sei gefragt, wo man am besten noch den Köchen bei der Arbeit zusehen könne.
Über allem stehe die Bereitschaft zur Veränderung: „Wer nicht immer wieder Neues wagt, kann den Konkurrenzkampf nicht gewinnen.“ Neue Dekorationen, frisch designte Shops, dazu Aktionen wie Modenschauen oder Sport. Ein gutes Shoppingcenter werde zum „third place“, zu einem Haus, in dem die Kunden sich in ihrer Freizeit wohlfühlen, dritte Heimat nach Familie (first place) und Arbeitswelt (second place).
Klar, dass museale Toiletten und schäbige Fliesen nicht zum Verweilen einladen. „Hell, sicher, sauber“, dieser Dreiklang werde heutzutage mehr denn je erwartet. Und niemandem nütze es, die Konkurrenz im Internet zu verteufeln. Im Gegenteil, man müsse gerade die Vorteile der virtuellen Welt nutzen, etwa mit kostenlosen Handy-Ladestationen oder Smartphone-Führern. In der Neutor-Galerie in Dinslaken, sagt Glöckner, sei eine Pokémon-go-Aktion ein gigantischer Erfolg gewesen.
Gemessen an Glöckners Forderungen hat das ECE in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht. Auch Shopping-Hasser, die solche Center als vollklimatisierte Vorhöfe zur Hölle empfinden, müssen konstatieren, dass im AEZ alles picobello ist. Ab fünf Uhr morgens rollen Reinigungsmaschinen über die Fliesen, an Seilen gesicherte Putzmänner wienern die Dächer der Fahrstühle. Fensterputzer wischen im Akkord die Scheiben. Keiner ist länger dabei als Horst Laser, seit 1970 putzt er mit seiner Firma im Alstertal. Länger als 13 Sekunden dürfe das Reinigen von einem Quadratmeter nicht dauern.
Für die Sicherheit zeichnet Objektleiter Dominik Seyler verantwortlich, ein Schrank von 140 Kilo Muskelmasse, die sich auf 210 Zentimeter Körpergröße verteilen. Seyler musste noch nie seine Kickbox-Qualitäten einsetzen; die Gäste im AEZ, sagt er, seien sehr angenehm. Stress gebe es nur mal mit ein paar Jugendlichen, die über die Stränge schlagen – aber auch da genüge ein freundlicher Hinweis auf das Alkoholverbot. Die Wohlfühlatmosphäre sei auch der Tatsache zu verdanken, dass an keiner Scheibe das Schild „Zu vermieten“ klebe.
Niemand weiß besser als ECE-Chef Aleander Otto, dass dies mitnichten selbstverständlich ist. Der Harvard-Absolvent hat bei Reisen durch die Einkaufswelt viele Konsumtempel mit 70er-Jahre-Charme – niedrige Decken, miese Bausubstanz – entdeckt, durch die sich Leerstand wie ein Krebsgeschwür frisst. Otto hat daraus ein Geschäftsmodell entwickelt: ECE bringt Center kurz vor dem Abgang in die „Deadmall“-Liste wieder auf Vordermann.
Auch dank der AEZ-Lage im gut situierten Alstertal muss Centermanagerin Brendel kein Leerstandvirus fürchten. Im Gegenteil: Sie hat fast immer mehrere Miet-Interessenten, kann das Center so konsequent auf den richtigen Branchenmix trimmen: „Wir benötigen internationale Marken genauso wie regionale Händler.“
Neues wagen, ungewohnte Konzepte präsentieren – für diese Strategie steht kein anderer so sehr wie Andreas Gründel. Monatelang hat der 39-Jährige auf den Moment hingearbeitet, in dem er an diesem Sonnabend um 9.30 Uhr sein Geschäft im Untergeschoss öffnen wird. Aber was heißt Geschäft? „Fleisch-Boutique“ nennt Gründel seinen 60 Quadratmeter großen Laden mit dem „Beef Excellence“-Schriftzug auf schwarzem Grund. „Wir bieten in Sachen Fleisch nur das Allerbeste“, verspricht Gründel. Wer mit ihm nur ein paar Minuten redet, spürt geradezu eine Besessenheit, für die er Ersparnisse opferte und einen Kredit aufnahm. Gründel beklagt die „Darf nix kosten“-Mentalität, schwört auf ein Umdenken beim Konsum. Die Rinder, deren Fleisch er künftig verkaufen wird, hätten bis zum Bolzenschuss ein glückliches Leben geführt: „Meine Züchterin begleitet die Tiere auch auf dem letzten Gang.“
Und der Kampf gegen das Internet? Ludmila Brendel bleibt entspannt: „Shoppingcenter sind auch für junge Leute sehr spannend. Sie informieren sich zwar sehr detailliert im Internet über Produkte, die sie reizen. Aber das Gemeinschaftserlebnis Einkaufen und Freunde treffen, das haben sie hier bei uns.“ Doch wie sieht dieses Gemeinschaftserlebnis künftig aus? Gerrit Heinemann, Professor für Management und Handel an der Hochschule Niederrhein, fordert „smart shops“: „Der Kunde nimmt sich ein Produkt aus dem Regal und verlässt den Laden, wird aber nicht wegen Diebstahls verhaftet, weil er unterwegs mit seinem Smartphone per Fingerabdruck bezahlt hat.“
Der Weg in die virtuelle Zukunft führt über den Heegbarg auf die andere Straßenseite, vorbei an einer 1,90 Meter großen Bronzestatue, aufgestellt 2009. Sie zeigt Werner Otto, den 2011 verstorbenen Unternehmensgründer, in gehender Haltung, als eile er in sein angestammtes Büro. Von hier sind es noch 140 Schritte bis in die Lobby der ECE-Firmenzentrale. Im Atrium steht Philipp Sepehr (33), seine Visitenkarte weist ihn als „Director Marketing, Research & Innovation“ aus. Der smarte Sohn eines Iraners und einer Deutschen, promoviert mit der Auszeichnung „summa cum laude“, startete bei der ECE als Assistent von Unternehmenschef Alexander Otto.
Heute ist er vielleicht Ottos wichtigster Mann. Denn Sepehr soll für den Branchenführer in Sachen Einkaufscenter in die Zukunft sehen. Mit frischen Ideen dafür sorgen, dass das Unternehmen mit 20.000 Shops in 16 Ländern, mit einer Verkaufsfläche von über 1000 Fußballfeldern und 4,4 Millionen Besuchern täglich, den Kampf gegen Amazon und Co. überlebt, ja gewinnt. Kurzum: Sepehr muss Trends erkennen, bevor sie überhaupt Trends werden.
Der Betriebswirt berührt den Bildschirm, eingelassen in grauen Kunststoff mit der Aufschrift „Future Labs“, Zukunfts-Laboratorien. Ein gekipptes weißes S leuchtet auf, unterteilt in Abschnitte. Sepehr startet die „Customer Journey“, die virtuelle Reise eines Kunden durch ein Einkaufscenter.
Sie beginnt, na klar, zu Hause. Jeder dritte Kunde checke vor dem Einkauf seinen Wunschartikel online – ohne gute Internetpräsenz, sagt Sepehr, gehe heute nichts mehr. Entsprechend viel Energie investiert er mit seinem 15-köpfigen Team, um die Homepage der Center immer besser zu machen. Bei der Anreise, der zweiten Etappe der Kundenreise, spielt Sepehr einen kleinen Trickfilm ein, der in der Machart an das HB-Männchen aus den 60er-Jahren erinnert. Vergebens reckt sich der Mann aus seinem Autofenster an der Schranke nach dem Parkscheinautomaten, beim Aussteigen touchiert die Tür auch noch den Automaten. Als er das Center betritt, ist sein Kopf so rot, als gehe er gleich in die Luft – und sei höchstens noch bereit, in Alkohol zur Frustbekämpfung zu investieren.
Ein Albtraum für alle Einzelhändler. Und angesichts von 300 Millionen Pkw-Einfahrten jedes Jahr in eines der 196 ECE-Center könne man sich gar nicht genug Gedanken um eine komfortable Anreise machen, sagt Sepehr. Die Lösung liefert die von seinem Team entwickelte Parkkarte, die man über das Smartphone aufladen kann. Der Automat liest das Guthaben der Karte aus, gibt die Zufahrt frei, was später auch die lästige Suche nach Kleingeld am Kassenautomaten erspart. Wer mag, kann den Code eines Car-Finder-Schilds in der Nähe seiner Parkposition mit dem Smartphone abfotografieren, die „Fernbedienung des Lebens“ (Prof. Heinemann) lotst den Kunden nach dem Einkaufen zum Auto zurück.
Die ältesten Kunden sind bislang auch die treuesten
Sepehr drückt den Knopf für die nächste Etappe: Orientierung. Wo werden Handys verkauft? Wo gibt’s Bananen? Wo liegt der neue Grisham-Thriller? Schon auf den 59.000 AEZ-Quadrametern kann man sich veritabel verlaufen, im fast dreimal so großen Moskauer „Golden Babylon“ mit 450 Shops dürfte der Name Programm sein. Und nein, Schlange stehen an der Kundeninfo ist für ein Center im Internetzeitalter keine gute Alternative. „Zeitverlust verzeiht heute kein Kunde mehr, Schnelligkeit ist die Messlatte“, mahnt Prof. Heinemann. Geduld ist keine Tugend mehr im Internetzeitalter. Alles soll fixer gehen – damit mehr Zeit zum Shoppen bleibt.
Zu Sepehrs Glück hat ECE das Alstertal-Einkaufszentrum zum Testlabor erklärt, zum Labor der Zukunft für alle Center. Sein Team kann sich also austoben, durfte etwa 600 Minisender installieren. Und so zeigt die App „Mein AEZ“ Smartphone-Besitzern auf den Meter genau ihre Position im Center.
Doch erst jetzt beginnt die für die Ladenmieter wirklich entscheidende Kunden-Etappe: das Einkaufen. Mit seinem Team brütet Sepehr im fünften Stock der ECE-Zentrale jeden Tag vor allem über diese eine Frage: Wie mache ich das Einkaufen für den Kunden komfortabler? Wie halte ich ihn länger im Center? Schlichte Antworten wie „Die Ärsche müssen sich reiben“ von Hertie-Gründer Hermann Tietz taugen nicht mehr im Amazon-Zeitalter. Die ECE-Statistiken zeigen, dass 50 Prozent mehr Besucher keineswegs 50 Prozent mehr Umsatz bedeuten. Und das Gedränge zur Weihnachtszeit löst gerade bei Männern eher Fluchtreflexe aus.
Entspannung muss her, Sepehr spricht von „Relax“-Phasen. Kostenloses WLAN, sagt Dr. Zukunft, sei längst so selbstverständlich wie bequeme Bänke oder Computer-Spielflächen für Kinder. Stolz zeigt Sepehr die Selfie-Box, wo gerade eine Mutter mit ihrem Kind in die Kamera lacht – das Foto kann sofort über Facebook geteilt werden. In Aachen testet Sepehr gerade, ob dezente Düfte die Shoppinglust der Kunden steigert. In anderen Centern probt er, ob Kunden einen Transportservice annehmen, sich für 5,99 Euro die gekaufte Ware nach Hause liefern zu lassen. Noch in der Entwicklung steckt eine Gastro-App, die dafür sorgen könnte, dass die gewünschte Pizza beim Italiener im Center vorab bezahlt und minutengenau serviert wird.
Bleibt die Frage: Reicht das alles im Kampf gegen Amazon? Und wann ziehen die Center endlich im alles entscheidenden Punkt mit den Internethändlern gleich – mit der Online-Info, welche Bluse, welches Buch, welcher Ball zu welchem Preis in welchem Shop verfügbar ist? Denn noch liefert die „Mein AEZ-App“ nur ein paar Angebote, die man daheim bestellen und dann im Center abholen kann.
„Wir arbeiten daran hart, aber die Herausforderungen sind groß“, sagt Philipp Sepehr. Und in der Tat wäre es wohl einfacher, ein fliegendes Shoppingcenter zu bauen, als eine Software zu entwickeln, mit der jeder Kunde den Lagerbestand jedes Shops abrufen kann. In Deutschland gibt es über 400 verschiedene Warenwirtschaftssysteme, von einfachen Tabellen über den aktuellen Bestand bis zu supermodernen Systemen, die international jeden Verkauf in jedem Shop sekundengenau auswerten. Hinzu kommt, dass die Mieter online völlig unterschiedlich aufgestellt sind. Während der Apple Store zur Speerspitze der digitalen Bewegung gehört, bedruckt die Apotheke im AEZ ihre Werbezettel mit dem Slogan „Nein zum Internet“ – eine Warnung vor Versandhändlern.
Das mag man für verstaubt halten. Doch wer vormittags durch das AEZ streift, fragt sich ohnehin, wie radikal ein Umschalten auf Shopping 4.0 überhaupt sein darf. Rüstige Rentner in Windjacken harren geduldig aus, bis es ab 8 Uhr in den Bäckereien Kaffee und Brötchen gibt. Hochbetagte Frauen schieben mit ihren Rollatoren durch den Drogeriemarkt. Für sie ist das AEZ Heimat, oft seit Jahrzehnten. Und die Mehrzahl von ihnen kann mit Mail und Apps, mit Smartphones und Tablets herzlich wenig anfangen – es gibt eben auch noch Leben ohne Internet. „Das sind unsere treuesten Kunden“, sagt Centermanagerin Brendel. Daher parken vor der Kundeninfo kleine E-Mobile, mit denen Gehbehinderte durch das Center steuern können; auf Wunsch packen Helfer beim Einkaufen kostenlos mit an.
Am Nachmittag strömen dann die Teenager ins AEZ; vor allem die Modekette Hollister – laut Eigenwerbung „mühelos-cool und mit superzugänglichem Feeling“ – lockt die Jugend in den schummrigen Laden. Am vergangenen verkaufsoffenen Sonntag sprach auf der Aktionsbühne im Untergeschoss die Tochter des ehemaligen Schalke-Managers Rudi Assauer über dessen Alzheimer-Krankheit, während eine Etage höher die gerade diplomierte Modedesignerin Jeanett Berger ein maßgeschneidertes Outfit an eine Gewinnerin übergab. Zwei Wochen hatte sie mitten im wuseligen Treiben an Hose, Pullover und Mantel genäht, voller Stolz über Kundenlob: „Sie werden die nächste Jil Sander.“ Am 7. Oktober bittet das AEZ von 20 bis 23 Uhr zur „Shopping-Night“ mit Luftakrobatik und Musik; Sarah Wiener wird dazu kochen.
Die Balance zwischen Alt und Jung, zwischen gesetzt und hip, zwischen Bewahren und Aufbruch bleibt eine Herausforderung, jeden Tag. Vor ein paar Jahren schickte das Forscherteam mal einen Roboter durch das AEZ, der mit einem fröhlich-piepsenden „Kann ich Ihnen helfen?“ Wegbegleiterdienste anbot oder auf Wunsch auch tanzte. Die meisten AEZ-Besucher fanden ihn weder witzig noch informativ. Der Kunststoffhelfer rollte wieder ins Abseits.