Hamburg. Prächtige Fassaden, hohe Decken: Gründerzeithäuser aus dem 19. Jahrhundert sind gefragt wie nie. Zehn Gründe.
Eine Dreizimmerwohnung, 60 Quadratmeter groß, an der Mansteinstraße für 1450 Euro Monatsmiete. 580 Euro für 27 Quadratmeter an der Marthastraße. Oder 329.000 Euro für den Kauf einer 48,5 Quadratmeter großen Wohnungen aus dem Jahr 1909 an der Erikastraße.
Wer eine Wohnung, die während der Gründerzeit vor gut 130 Jahren errichtet wurde, zur Miete oder zum Verkauf anbietet, kann derzeit – so scheint es zumindest – verlangen, was er will. Miet-Quadratmeterpreise von mehr als 15 Euro sind keine Seltenheit – und bei der Kundschaft offenbar akzeptiert.
Die Frage, die sich unbeteiligte Beobachter stellen, lautet daher: Warum sind Wohnungen, die zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden, bei Mietern und Käufern so begehrt? Was unterscheidet diese von jenen Wohnungen, die in den Jahrzehnten danach errichtet wurden?
Das Hamburger Abendblatt hat zehn Gründe zusammengetragen:
1. Die Vielzahl von Gebäuden: Gründerzeithäuser sind beliebt, weil es trotz großer Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg in Hamburg nach wie vor eine Vielzahl davon gibt. In Stadtteilen wie Winterhude, Eppendorf und Eimsbüttel sind sie die charakteristischste Gruppe innerstädtischer Altbauten. Oftmals erhalten die vom Grundsatz her gleichen Gebäudetypen durch Türmchen, Erker oder Veranden ein eigenes Aussehen. Die Vielfalt entsteht durch Abwechslung.
2. Die reichhaltige Ausstattung: Wohnungen in Gründerzeithäusern sind oft reichhaltig ausgestattet. Viele Mieter lieben die bis zu vier Meter hohen Decken, den Stuck und die großzügigen Raumzuschnitte. Hinzu kommen oftmals Parkettfußboden und in vielen Fällen komfortable Balkons. Nicht zuletzt zeichnen sich die oftmals von außen nicht zugänglichen Innenhöfe durch viel Grün aus und garantieren inmitten der Großstadt Ruhe und Abgeschiedenheit.
Die Grundrisse der Wohnungen sähen in der Regel Räume gleicher Größe und gleicher Beschaffenheit vor, sagt der Hamburger Architekturprofessor Dirk Schubert. Ein Zuordnung – Schlaf-, Kinder- oder Wohnzimmer –, wie sie in späterer Zeit bereits beim Bau von Wohngebäuden erfolgte und erfolgt, gibt es hier nicht. Stattdessen vermittelt die Variantenvielfalt Lebendigkeit. Die Wohnungen können flexibler und individueller genutzt werden. Erker und Veranden erlauben zudem den Ausblick in den Garten oder auf die Straße und schaffen damit unterschiedliche Erlebnisbereiche. „Deshalb waren Gründerzeitwohnungen lange Zeit für Wohngemeinschaften attraktiv“, sagt Prof. Schubert. „Es machte keinen Unterschied, wer welches Zimmer nahm.“
3. Die Lage: Der Architekturprofessor Dirk Schubert verweist darauf, dass Gründerzeitbauten sich oft durch eine besonders gute Lage auszeichnen. Die entsprechenden Viertel wurden oft in Innenstadtnähe errichtet oder sind besonders gut an das Zentrum angebunden. Beispielhaft dafür steht das Ensemble der Isestraße, auf der eine aufgeständerte U-Bahn-Linie das Viertel prägt, deren Züge die Bewohner der Gründerzeithäuser innerhalb weniger Minuten in die Innenstadt bringen. Später entstandene Wohnsiedlungen wie Schumacher- oder Nachkriegsviertel sind in der Regel weiter vom Stadtkern entfernt. Zudem leiden sie – Beispiele sind der Osdorfer Born und Steilshoop – unter einer fehlenden schienengebundenen Verkehrsanbindung an die City.
4. Die Nachhaltigkeit durch Qualität: Gründerzeitgebäude zeichnen sich durch Nachhaltigkeit aus. Sie wurden mit der Absicht gebaut, 100 bis 150 Jahre zu halten. Die hohe Qualität zeigt sich darin, dass selbst heute – abgesehen von regulären Modernisierungsarbeiten – die Häuser in ihrem Kern noch intakt sind. „Die Bauqualität ist aus heutiger Sicht sehr hoch“, sagt Prof. Schubert. Die massiven Gebäude wurden solide konstruiert und zeichnen sich durch gemauerte sowie dickere Außenwände aus. In den Obergeschossen wurden oft Holzbalkendecken und über dem Kellergeschoss Stahlträgerdecken eingezogen.
5. Die erfolgte Modernisierung: Viele Gebäude wurden in den vergangenen Jahrzehnten schon grundlegend modernisiert und entsprechen inzwischen, was Elektro-, Sanitär- und Heizungsanlagen angeht, höchsten Ansprüchen. Die meisten Altbauwohnungen haben moderne Bäder. Die alten WCs auf dem Treppenpodest und Einzelofenheizungen gelten heutzutage als Ausnahme. Die Wohnungen verbinden damit auf komfortable Weise Altes mit Neuem und präsentieren den großzügigen Wohnungsbau aus früheren Zeiten in einem neuen Glanz.
6. Der Charme und das Flair: Die Gründerzeitviertel werden oftmals als humaner und angenehmer empfunden als Trabantenstädte oder (die qualitativ schlechteren) Nachkriegsbauten. Die Relation von Gebäudehöhe zur Straßenbreite und die Ornamentik spielen dabei eine große Rolle. Gründerzeitgebäude sind zudem mehr als nur Wohnhäuser. Experten sprechen dabei von „stadtraumbildender Qualität“. So ist eine Hauswand nicht nur „die Außenhaut eines Gebäudes“, sondern wirkt auf die Umgebung und bildet mit anderen Gebäuden ein Ensemble.
Während bei der eigentlichen Baukonstruktion und der Raumgestaltung damals neue Materialien wie Eisen und Glas verwendet wurden, wurde bei der Gestaltung der Fassaden auf historische Bauformen zurückgegriffen. Stilistisch spricht man von der Epoche des Historismus. „Dekoration ist der wichtigste Teil der Architektur“, sagte der Engländer Sir William Scott, ein Architekt der viktorianischen Zeit.
Die Gründerzeitquartiere zeichnen sich daher oftmals durch ein besonderes Flair aus. Professor Dirk Schubert spricht von „Stadtvierteln mit einer Patina, deren besonderer Charme sich nicht am Computer erzeugen lässt“. Nicht zuletzt schaffen historische Gebäude Identität und sorgen für eine Verbundenheit ihrer Bewohner mit dem Viertel. Sie vermitteln das Gefühl von Heimat.
7. Die Urbanität: Das Nebeneinander von Wohnen und Ladenflächen ist anziehend und sorgt für ein besonderes urbanes Lebensgefühl, sagt Prof. Schubert. Der kleine, inhabergeführte Laden um die Ecke oder das Kleingewerbe im Erdgeschoss wirken nostalgisch. Die kleinteilige Infrastruktur stellt einen Gegenentwurf zu anonymen Supermärkten und Gewerbegebieten dar.
Auffällig ist, dass die Wohndichte in Gründerzeitvierteln oftmals höher ist als in anderen Stadtteilen. Allerdings empfinden die Bewohner – abgesehen von der Parkplatznot – das eher als angenehm. Das hat im Übrigen auch einen ökonomischen Effekt. Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen eher geneigt sind, zu konsumieren, wenn sie sich ihrer Umgebung wohlfühlen.
8. Der günstige Unterhalt: Moderne Wohngebäude werden mit viel Haustechnik ausgestattet. Inzwischen erinnert die Entwicklung an die Geschichte vom Zauberlehrling. Zwar ist Haustechnik grundsätzlich notwendig, um ein Gebäude zu betreiben. Kritiker beklagen allerdings, dass damit oft bauliche und planerische Fehlleistungen ausgeglichen werden sollen. Problematisch ist vor allem, dass moderne Haustechnik wie beispielsweise komplizierte Lüftungsanlagen inzwischen zu Stromfressern geworden ist, die regelmäßig gewartet werden müssen, rasch altern und daher mehrmals erneuert werden müssen. Das bedeutet für die Mieter zusätzliche Kosten.
Gründerzeitwohnungen gelten energetisch als unproblematisch. Durch neue Fenster, Wärmedämmung in der Dachkonstruktion und beim Übergang zum Keller lässt sich eine deutliche Senkung der Nebenkosten erreichen. Viele Experten bestätigen zudem, dass viele Gründerzeitgebäude eine sehr gute Energiebilanz aufweisen.
9. Der Denkmalschutz: Nachdem Gründerzeitviertel viele Jahrzehnte lang – etwa seit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts – einen schlechten Ruf hatten, wurde in den 70er-Jahren deren Abriss gestoppt. Mehr noch: Viele Gebäude genießen inzwischen Denkmalschutz und wurden behutsam saniert. Damit einher ging eine Aufwertung der Viertel, was erneut Vertreter des wohlhabenden Bürgertums anzog. Urbane Gründerzeitviertel wurden mehr und mehr zu Orten quirligen Lebens, während die in den 50er- bis 70er-Jahren errichteten Trabantenstädte verödeten. Weil viele Gründerzeitviertel unter Milieuschutz stehen, sind Veränderungen nur in begrenztem Umfang möglich. Die Verdichtung erfolgt behutsam.
10. Die gute Infrastruktur: Auch wenn in der Öffentlichkeit häufig von „Vielfalt“ gesprochen wird, so sind viele Gründerzeitviertel inzwischen Stadtteile der Wohlhabenden. Damit einher geht eine intakte und zuweilen üppige Infrastruktur. Das fängt bei Bäckereien und Cafés an und reicht von einer überdurchschnittlichen medizinischen Versorgung bis zu reichlich Kindergärten und Schulen. Hinzu kommt, dass das alles in der Regel zu Fuß erreichbar ist.