Hamburg.

Als Gründerzeit bezeichnet man im weiteren Sinne eine Phase der Wirtschaftsgeschichte im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts. Sie setzte mit der breiten Industrialisierung ein und dauerte bis zum „Gründerkrach“ im Jahr 1873. Im engeren Sinn werden als Gründerjahre die ersten Jahre nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs (1871) bezeichnet. Im architektonischen Verständnis wird die Dauer der Gründerzeit teilweise für die gesamte Phase der Hochindustrialisierung in Deutschland von 1870 bis 1914 ausgedehnt.

Für die Stadtentwicklung war entscheidend, dass sich im Verlauf der Industrialisierung Städte zu Zentren entwickelten und der Bedarf an Wohnraum dort sprunghaft zunahm. Es wurde in bis dahin ungeahntem Ausmaß neuer Wohnraum für die vom Land Zugezogenen benötigt.

Kaum durch städtische Behörden reglementiert, entstanden – oftmals auf der grünen Wiese und häufig durch private Investoren finanziert – komplette Stadtviertel, die zumeist größer, moderner und komfortabler waren als die historischen Altstädte. Ein gutes Beispiel ist das heute so beliebte „Generalsviertel“ in Hoheluft-West. Landkarten aus der Zeit des vorvergangenen Jahrhunderts zeigen hier eine ländliche Gegend mit Feldern und Wald.

Was den Wohnungsbau in jener Zeit anging, so habe sich dieser durch „eine unbekümmerte Stilvielfalt“ ausgezeichnet, schrieb der kürzlich verstorbene frühere Oberbaudirektor Egbert Kossak in seinem Buch „1100 Jahre Stadtbild Hamburg: Mythos. Wirklichkeit. Visionen“. Nach Belieben habe man Renaissance, Gotik, Barock, Neuklassizismus, Heimat- und Reformstil genutzt.

Neue Stadtteile wie Rotherbaum, Harvestehude, Eimsbüttel, Uhlenhorst „erhielten zwischen 1880 und 1915 ihren spezifischen Charakter durch den Typus des gründerzeitlichen Etagenhauses“, schreibt Kossak. Viele Quartiere, die in jener Zeit entstanden, zeichneten sich durch ein klares, einfaches Straßensystem aus.

Allerdings hatte sich im Wohnungsbau zu jener Zeit der Backstein als vorherrschendes Fassadenelement noch nicht durchgesetzt. Daher erhielten viele Wohngebäude – zumindest die von wohlhabenderen Eigentümern – ein weißes Gepräge. An beiden Seiten der Außenalster sind Beispiele aus jener Zeit noch heute zu entdecken. Je weiter man sich vom Zentrum entfernte, desto mehr veränderte sich Hamburg von einer Villenarchitektur zu einer dicht bebauten massiven Stadt: Eppendorf, Eimsbüttel und Winterhude stehen dafür.

Der Hamburger Architekturprofessor Dirk Schubert verweist allerdings darauf, dass in der heutigen Zeit als Erstes die prachtvollen Gründerzeitbauten wahrgenommen und besonders nachgefragt werden. Neben diesen Gebäuden entstanden in jener Zeit sogenannte Terrassenbauten. Das waren mehrgeschossige, eng stehende Gebäuden in den Hinterhöfen, in denen vor allem Arbeiter unter dunklen und unhygienischen Bedingen lebten.

Auch manche der heute so beliebten Schlitzbauten seien früher eng an eng gesetzt gewesen und erst später durch Abriss oder Kriegsschäden von Gebäudeteilen aufgelockert und damit lebenswerter geworden, so Schubert. Die gründerzeitlichen Gebäude dienten auch dazu, die soziale Stellung ihrer Bewohner widerzuspiegeln. Die erste Etage galt zumeist als „Bel Etage“. Mit zunehmender Geschosshöhe wurde die soziale Stellung der Bewohner geringer.