Hamburg. Wie gut kennen Sie Billstedt, Hamm und Horn? Matthias Iken hat sich auf Entdeckungsreise durch den Hamburger Osten begeben.
Diese Wanderung ist eine Zeitreise. Sie ist ein Bummel durch die Gegenwart, doch könnte sie in einer nicht allzu fernen Zukunft wie ein Ausflug in die Vergangenheit anmuten. „Stromaufwärts an Elbe und Bille – Wohnen und urbane Produktion in Hamburg-Ost“, heißt das wortgewaltige Projekt des Senats, das den gesamten Osten umbauen und umkrempeln wird. Es ist die Neuerfindung der Stadt und eine Rückbesinnung auf die Historie zugleich – in Hammerbrook, Rothenburgsort und Billbrook lebten einst Zehntausende Menschen, bis die Bombenangriffe der Operation „Gomorrha“ im Sommer 1943 ganze Viertel in Schutt und Asche legten. Mehr als 70 Jahre danach beginnt der Wiederaufbau.
Wer Hamburgs Osten verstehen will, muss Wolfgang Borchert lesen. In seiner 1947 erschienenen Kurzgeschichte „Billbrook“ beschreibt er die völlige Vernichtung der Gegend anhand einer Wanderung, die der kanadische Fliegerfeldwebel Bill Brook unternimmt. Es ist das bis heute verstörende Zeugnis der Zerstörung. Kein Lebendiges. Nichts. Nichts Lebendiges. Milliarden Steinbrocken, Milliarden Steinstücke, Milliarden Steinkrümel. Gedankenlos vom gnadenlosen Krieg zerkrümelte Stadt ... Zerstörtes, Zerfallenes, Zerborstenes, Zerwühltes, Zerkrümeltes. Totes nur. Totes. Kilometerweit, kilometerbreit Totes. Er stand in einer toten Stadt. Die literarische Figur Bill Brook wanderte vom Rand der Alster, ich wandele auf seinen Spuren. Beginne, wo es am schönsten ist. Heimelig-hanseatisch, wo Segelboote Sommerfrische in den Alltag wehen.
Das Kunstwerk Hamburg, ein Meisterwerk in Weiß und Grün, in Sandstein und Blau. Und gleich daneben die Kunstmeile – fünf Häuser von Gewicht. Andere Städte wären schon mit einem glücklich. Mich aber reizt die Leere hinter den Deichtorhallen, dem Museum für Kunst und Gewerbe, dem Kunstverein. Ich möchte die weißen Flecken auf meinem inneren Stadtplan erkunden, die flüchtigen Bilder eines Durchreisenden mit Leben füllen, so wie einst Bill Brook.
Er sah nach der wolkigen Sonne, nach der grauen Hamburger Sonne. Dann ging er los. Das ist meine Richtung, sagte er. Ost-Süd-Ost. Und er machte frohe feste Schritte.
Die 14 Gleise des Hamburger Hauptbahnhofs wirken wie ein Graben, die großen Schneisen der Durchgangsstraßen klemmen den Südosten der City von der Stadt ab. Direkt dahinter liegt der Arno-Schmidt-Platz. Was hat der Schriftsteller eigentlich verbrochen, dass die Stadt einen so öden Platz nach ihm benennt? Lange, flache Holzpodeste, kein Grün, nirgends. Eine Tristesse, die sich meisterhaft einfügt in die Trostlosigkeit Hamburger Freiflächen. Warum kann diese Stadt keine Plätze? Warum sehen die meisten so kahl, leer und menschenfeindlich aus?
Nicht einmal Autofahrer vermag der Platz anzuziehen: Das Parkhaus am Hühnerposten direkt dahinter wirbt mit vier Euro für bis zu vier Stunden parken, auf der anderen Straßenseite bei Saturn kostet eine einzige Stunde drei Euro. Die Marktwirtschaft ist unbestechlich: Hinter den Gleisen liegt eine andere Stadt.
Gleich ein anderes Land erstreben die Aktivisten, die seit 2014 die ehemalige Gehörlosenschule um die Ecke an der Münzstraße besetzt haben. Das Kollektive Zentrum mit dem wenig einladenden Namen koZe blockiert den Bau von 400 Wohnungen. Seit mehr als einem Jahr steht eine Räumung der besetzten Kita im Raum. Das Münzviertel, dieses kleine gallische Dorf zwischen Ausfallstraßen und Schnellbahngleisen, mag Rebellion – das koZe aber findet nicht überall Beifall.
Die Anwohner der Münzburg, die mit einem Kaffee in der Sonne sitzen, sparen sich Solidaritätsadressen. Das Bistro am Münzplatz ist Nachbarschaftstreff, Kiosk und Restaurant in einem. „Schreiben Sie was Nettes, wir lieben es hier“, ruft ein junger Mann, der gerade Zigaretten bei Awat Amin holt. Seit 2008 betreibt der gebürtige Iraker die Münzburg und sieht das Viertel im Wandel. „Wir haben hier viele Studenten, Künstler, Schauspieler und Journalisten“, sagt Amin. „Ruhig ist es hier zwar nicht, die Bahnen donnern vorbei, aber es ist lebendig.“ Er freut sich, wenn hier mehr Menschen herziehen – „neue Wohnungen, Hotels und Firmen sorgen für Leben“. Kritisch hingegen sieht Amin, der vor 21 Jahren nach Deutschland kam, die offene Drogenszene, die zuletzt auch durch die Flüchtlingswelle noch größer geworden sei. „Ich würde mir wünschen, dass die Stadt da was macht“, sagt Amin. Und die Sicherheit verbessert: Neunmal sei er schon Opfer von Einbrechern geworden.
Wer das Münzviertel nicht kennt, wundert sich über die überladenen Gründerzeitfassaden, die Galerien – und eine abrupte Grenze. Kurz vor der Spaldingstraße ist der Flair des Altbauviertels dahin, die coole Bar Ilohh nennt sich passenderweise „Bar am Ende der Welt“.
Jenseits davon wird es unwirtlich. Passanten gibt es keine mehr, nur vereinzelt stehen ein paar Raucher etwas verloren an der Hauptverkehrsstraße. Hotel reiht sich an Hotel, das Holiday Inn ans Hampton by Hilton ans Novum Hotel Belmondo ans Ramada. Daneben ein Self Storage, ein Abstellraum auf Zeit. Wir leben in seltsamen Zeiten, wurzellos, unbehaust.
Eine Ecke weiter, an der Sonninstraße, aber wächst das Leben, drehen sich die Kräne. Und die Immobilienbranche spricht plattdeutsch. Allein hier entstehen insgesamt 1000 Wohnungen, so viele, wie es bis dato im ganzen Stadtteil gibt – Hammerleev und Mien Leev sind bereits im Bau, nun folgt das ehemalige Sharp-Gelände, wo zusätzlich eine Kita, ein Supermarkt und eine Drogerie geplant sind. Insgesamt sollen 2000 Wohnungen die triste Bürostadt Süd mit Leben füllen. „Hammerbrook ist einer der spannendsten Stadtteile: Nirgendwo sonst haben wir die Chance, so innenstadtnah in großer Zahl bezahlbare Wohnungen an attraktiven Wasserlagen zu bauen“, freute sich der einstige Bezirksamtsleiter Andy Grote. Wobei bezahlbar heutzutage so eine Sache ist: 3000 bis 4000 Euro pro Quadratmeter kostet der Spaß auch hinter dem Ende der Welt. Doch dieses Ende könnte bald ein Anfang sein – via Großmarkt ist die HafenCity genauso nah wie die Innenstadt. „Ein bisschen Venedig, ein bisschen New York“, dichtete mal ein Kollege über Hammerbrook. Vor allem aber: ein bisschen Geduld, bitte.
Immerhin lässt sich am Mittelkanal erahnen, was hier mal entstehen kann: Hausboote dümpeln in der Sonne, der „Schwan“ lässt sich sogar mieten und wirbt mit „Zimmer frei“. Die Kanäle, das Wasser als Charakteristika des Viertels sollen wieder genutzt werden. Pioniere wagen sich in einen Stadtteil, den Stadtplaner von vorgestern abgeschrieben und asphaltiert hatten: Jogger stromern am Kanal entlang, erste Restaurants machen fest. Und im September 1996 hat sich sogar ein Wochenmarkt in die Wüstenei gewagt.
Von Beginn an verkauft Susi Krogmann am Sachsenfeld unweit der S-Bahn-Haltestelle Hammerbrook Obst und Gemüse, sie steht jeden Montag und Mittwoch hier. Der Wochenmarkt ist weniger für Anwohner als vielmehr für die Büroangestellten gedacht. Es gibt Obststände, Fischfeinkost und die „Flotte Fritte“. „Das ist ein entspannter Markt“, sagt Krogmann. „Zu Beginn war hier fast nichts.“ Nur zwei Bäcker habe es gegeben. „Inzwischen bildet sich eine Infrastruktur. Ich hoffe, dass bald auch Anwohner kommen.“ Stadtentwicklung erinnert mitunter an die Besiedelung von Kahlflächen in der Botanik – auf die Pioniere folgen mit der Zeit immer weitere Arten, die Vielfalt nimmt zu, bis das Ausgangsstadium erreicht ist. Hammerbrook hat alle Chancen.
Noch ist viel Luft nach oben, städtebauliche Kahlflächen und karge Bauten wechseln sich ab. Das Jobcenter hat eine Spielhalle im Souterrain, die Straßennamen sind grob irreführend. Der Grüne Deich ist weder grün noch eine Wasserlage. Nur die klassische Eckkneipe Deichklause kündet vom Leben und verspricht durstigen Kehlen „Moravia Pils – meisterhafte deutsche Braukunst“. Nicht ganz anders werden die Kneipen im untergegangenen Hammerbrook ausgesehen haben. Davon ist hier, unweit der Bille, nichts geblieben.
Aber seit einer halben Stunde war es immer stiller geworden. Immer weniger Menschen wohnten links und rechts in den Häusern, und es standen immer weniger Häuser links und rechts von der Straße. Die Kinder, die Hunde wurden seltener, immer seltener ... Das Leben wurde immer weniger, seltener, leiser. Dann blieb es ganz weg, kam kaum angedeutet für ein paar Hundert Meter wieder, blieb dann doppelt so lang aus, kleckerte sich noch mal mit eine paar Häusern einige Schritte neben der Straße entlang ...
An der Billhorner Brückenstraße hat sich ein großer Rotklinker aus der Vergangenheit in die Gegenwart herübergerettet. Ein Relikt des alten Rothenburgsort. Überall sieht man Mahnmale einer zweiten Zerstörung: Straßenkreuzungen größer als Fußballfelder, Brachen, Zersiedelung. Hier wartet auf die Planer einen Heidenarbeit – aber auch gigantischer Gestaltungsraum. Der Billebogen mit seiner elf Hektar großen Brache am ehemaligen Huckepackbahnhof soll einmal die „Speicherstadt des 21. Jahrhunderts“ beherbergen – mit „hochverdichteten, gestapelten und architektonisch anspruchsvollen Gewerbebauten“, Opernfundus und Opernwerkstätten. Der Alster-Elbe-Grünzug schließt dann den Billebogen an, selbst die monströse Brückenstraße soll dereinst eine grüne Allee werden. Stadtplanung bedarf der Fantasie.
Hinter den Schneisen der autogerechten Gesellschaft verstecken sich überraschend idyllische Wohnstraßen. Vom Zufall eingestreut haben unweit der Elbbrücken ein paar Gründerzeit-Altbauten zwischen Nachkriegswohnungsbau überlebt. Sie stehen dort wie ein Mahnmal der Geschichte – und ein Denkmal der Architektur. Warum erscheint uns ein Haus von 1900 um so viel reizvoller, humaner, lebenswerter als ein Haus von 1950, 1960, 1970, 1980, 1990, 2000, 2010? Und warum ignorieren Planer, Architekten und Städtebauer diese Lehre der Geschichte?
Inmitten eines verwilderten Gartens liegt verwunschen die St.-Johannes-Kapelle. Ein kleines und beeindruckendes Gotteshaus. Ein steinernes Osterlamm hat den Feuersturm von 1943 überdauert, verbogene Posaunen erinnern an die Nacht, als die Kirchen verbrannten. Seit 1959 steht eine neue Kapelle am Billhorner Mühlenweg, seit acht Jahren ist Klaus Dieter Lautner hier Pfarrer – ehrenamtlich. Nach seiner Pensionierung ist das Mitglied einer evangelischen Ordensgemeinschaft nach Hamburg gezogen. Kapellengemeinden sind eine Hamburgensie, entstammen der Tradition der lutherischen Erweckungsbewegung.
Nun will die Politik den Stadtteil erwecken. Mit Erfolg? „Es tut sich was“, sagt Pfarrer Lautner und zählt auf: der Entenwerder Park, der neue Fahrradweg entlang des Großmarkts in die Stadt, der Aufbruch im Viertel. Der Kapellengemeinde aber droht ein Schicksal wie Dornröschen – einzuschlafen und zuzuwachsen. „Vor 20 Jahren gab es hier noch eine blühende Arbeit auch mit Konfirmationen“, so Lautner. „Heute sind wir noch ein kleiner Kreis, eine Personalgemeinde. Die Gläubigen wohnen alle nicht mehr in Rothenburgsort.“
Einige Meter weiter beginnt die Stadt sich langsam aufzulösen: Die Autofahrer verabschieden sich gen Süden auf die Elbbrücken, hinter dem Billwerder Neuen Deich breiten sich die Golflounge und großzügige Grünflächen aus. Der Elbpark Entenwerder ist mit seinen knapp 20 Jahren noch relativ jung und ziemlich unbekannt. Ich flaniere allein unter den Pappeln, die Liegewiesen gehören mir allein.
Doch so beschaulich wird es nicht bleiben – auch dank dem Gold von Entenwerder. Auf einem Ponton in der Elbe hat „Entenwerder 1“, das ungewöhnlichste Café der Stadt, festgemacht und ist auch an Werktagen gut besucht. In der Mitte lockt ein begehbarer goldener Container, es ist so skurril wie gemütlich: Tische und Stühle aus unterschiedlichen Werkstoffen, ein Sammelsurium von Stilen, massive Blumenkübel im Industriedesign. Und ein ungewohnter Blick auf die Elbe; Hamburg als ein faszinierender Kontrast zu den Beach-Clubs und Strandperlen – mit Kraftwerken und Industrie am Horizont. So soll es bleiben – die Stadtplaner haben den Tiefstackkanal als „gewerblichen Innovationskern“ reserviert. Entlang des Tiefstackkanals soll aber ein grüner Weg Hamm mit der Elbe und darüber hinaus den Vier- und Marschlanden verbinden.
Ich schlage einen anderen Weg ein – weg von der Elbe gen Norden, vorbei an Hamburg Wasser mit dem Wahrzeichen von Rothenburgsort, dem Wasserturm. Er ist dreifach historisch: errichtet im Revolutionsjahr 1848, nach Plänen des Alsterarkaden-Architekten Alexis de Chateauneuf, erbaut vom Vater der Hamburger Wasserversorgung, dem Ingenieur William Lindley. Und fristet doch ein Schattendasein am Rande der Stadt.
Dabei hat dieser malträtierte Stadtteil noch mehr Sehenswürdigkeiten. Zum Beispiel das Denkmal Terrassenhaus am Billhorner Deich. Der Künstler Volker Lang hat es 2004 im Hexenpark gebaut, als verkleinerte Ausgabe der früher im Viertel verbreiteten Terrassenhäuser. Im Innern nur eine Bank und bedrückende Erinnerungen an die Bombennächte von „Gomorrha“: „Am 27. Juli war ein sehr warmer Tag, wir waren baden. Am frühen Nachmittag, so gegen 14 Uhr, rieselten auf einmal vom Himmel Flugblätter, die von englischen Flugzeugen abgeworfen worden waren. Auf diesen Blättern wurde der Bevölkerung mitgeteilt, dass der Stadtteil in der kommenden Nacht vollständig zerstört werden soll.“ Die Alliierten hielten Wort. Gern würde ich mehr lesen, den Raum auf mich wirken lassen. Das beeindruckende Denkmal aber ist verschlossen, die Gedenktafel beklebt, Zweige übersäen die Treppen. Ein Ort der Geschichte – zugleich einer der Geschichtsvergessenheit.
Wenige Hundert Meter entfernt dämmert die nächste verschlossene Gedenkstätte, die alte Schule am Bullenhuser Damm. Im Keller ermordete die SS im April 1945, kurz vor dem Anrücken der britischen Befreier, 28 Kriegsgefangene und 20 jüdische Kinder, die sie zuvor für grausame Menschenversuche missbraucht und gequält hatten. Die beiden Ärzte praktizierten übrigens nach dem Krieg jahrelang unbehelligt weiter, der eine in Magdeburg, der andere an der Universität Heidelberg. Zwei Staaten, keine Haltung. Die Außenstelle der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist werktags geschlossen. Erinnern? Nur sonntags.
Die Brutalität der Nazis lässt mich noch Hunderte Meter trotz Sommersonne weiter frösteln. In der Trostlosigkeit dieser Gegend hallt die Geschichte lange nach.
Kein Haus. Kein Haus! Nicht einmal ein Häuschen. Nicht einmal eine Hütte. Nicht einmal eine vereinsamte, stehengebliebene, zittrige, wankende Wand.
War Bill Brook auch am Billdeich?
Die Bille durchzieht in Kanälen die Gegend, doch das Wasser ist unerreichbar. Hin und wieder führen Treppen hinunter ans Nass, die niemand freiwillig betritt. Dreck allerorten, ein Gestank, der Beine macht. Fußgänger gibt es ohnehin keine, das menschliche Tempo ist nicht vorgesehen. Gewerbegebiete sind nie schön, aber dieses hier erscheint mir noch etwas hässlicher. Selbst die Stadtentwicklungsbehörde schreibt nüchtern in „Stromaufwärts“: „Die Kanäle und das Billebecken sind kaum zugänglich, viele Flächen sind untergenutzt.“ Untergenutzt, ein Wort wie eine Burka.
Eine Litfaßsäule fragt fast philosophisch: „Was würdest du tun, wenn du noch einmal neu anfangen könntest?“. Ich antworte für Rothenburgsort: „Alles anders machen! Neu anfangen!“
Auf der Billhuder Insel ändert sich das Landschaftsbild so plötzlich wie radikal. Nördlich der Bille erstrecken sich die Kleingärten, die Horner Marsch ist einer der größten zusammenhängenden Kleingärten Europas. Im Infokasten lädt der Verein zu Bingo und Kinderfest, mahnt Gemeinschaftsarbeiten und Ruhezeiten an. Einige Parzellen schmiegen sich verträumt an den Fluss, einige ähneln üppigen Bauerngärten. Es sind kleine Paradiese unter Trauerweiden. Refugien für Natur und Mensch.
Nach dem Krieg entstanden hier viele Behelfsheime und einfache Steinhäuser, die nun nach und nach verschwinden und durch Holzhäuser ersetzt werden; die Schornsteine werden zugemauert, die Sickergruben zugeschüttet. Heute darf die Laube nach Paragraf 3 Absatz 1 und 2 Bundeskleingartengesetz „höchstens 24 Quadratmeter Grundfläche einschließlich überdachten Freisitz“ haben und „nach ihrer Beschaffenheit, insbesondere nach ihrer Ausstattung und Einrichtung, nicht zum dauernden Wohnen geeignet sein“. Zugleich wecken die grünen Gebiete Begehrlichkeiten.
In den kleinen Gärten verunsichern die großen Pläne. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, sagen Claudia und Holger Böhrs. Seit 30 Jahren haben sie ihre Parzelle auf der Billhuder Insel, inzwischen aber stellten sich viele die Frage: „Ist man nächstes Jahr noch hier? Oder in zwei Jahren?“ Bekommen die Kleingärtner die Pachtverträge verlängert? „Inzwischen gibt es einen Verfall durch Angst“, konstatieren sie. Immer mehr Gärten würden frei. „Wir wünschen uns vom Bürgermeister Sicherheit.“
Und noch etwas treibt die Schreber um. Durch die Bebauung an der Bille - etwa im Osterbrookviertel – gebe es mehr Zulauf. „Wenn wir früher herausfuhren, waren wir gleich da. Heute steht man im Stau“, so Holger Böhrs. Es gebe mehr Verkehr, mehr Spaziergänger und mehr Skipper auf dem Wasser. „Die Bille war mal der Freizeitpark der einfachen Leute. Nun rutscht die HafenCity immer näher heran. Man wird richtig eingekesselt.“ Das ist durchaus im Sinne der Politik. „Die Stadtentwicklung gleicht auflaufendem Wasser“, sagte Bürgermeister Olaf Scholz einmal. „Sie bewegt sich die Elbe hinauf, erst entlang der HafenCity und nun weiter gen Osten.“
Auf vielen Freiflächen – etwa am Rückerskanal – sind Eigentumswohnungen entstanden, sie mischen sich unter die Nachkriegsbauten und geben dem Viertel ein jüngeres Gesicht. Nördlich der Eiffestraße, einer Ausfallstraße zum Weglaufen wie Wegfahren, zeigt sich Hamm vom seiner besten Seite. Ein gewachsenes Viertel mit einigen Gründerzeithäusern, Nachkriegsbauten und einer Prise Moderne, Bäume säumen die Straße. So fühlt sich Stadt an. Das Auge des Menschen mag das Unterschiedliche, das Gebrochene, den Wechsel. Billstedt, Hamm und Horn erschuf der liebe Gott im Zorn? Die Wut des Allmächtigen ist lange verraucht.
Ein Vorzeigedorf christlichen Lebens ist seit 1833 in Hamm entstanden – das Rauhe Haus. Der damals gerade 25 Jahre alte Theologe Johann Hinrich Wichern hatte Hamburger Politikern und Pfeffersäcken ausreichend Geld aus den Rippen geleiert, um ein „Rettungsdorf“ für verwahrloste und verwaiste Kinder vor den Toren der Stadt zu errichten. Daraus ist ein ganzes Viertel der Nächstenliebe geworden, mit einer Schule, Pflegeeinrichtungen und familienähnlichen Wohngruppen, aber ohne Zäune und Mauern – eingegliedert in den Stadtteil.
Und nebenbei ging aus Hamm ein Exportschlager auf Weltreise – der Adventskranz. An den umtriebigen Begründer der modernen Diakonie erinnert das alte Rauhe Haus, ein Fachwerkbau, der inzwischen schon zum dritten Mal wiederaufgebaut werden musste, und ein Weißer Maulbeerbaum, den Wichern selbst auf dem Gelände gepflanzt haben soll.
Horn ist ein grüner Stadtteil, der nach dem Willen der Planer noch grüner werden soll – der Horner Grünzug und die Landschaftsachse Horner Geest sollen „klar im Stadtraum“ erlebbar werden. Ein Stück Zukunft steht schon am Gojenboom und macht Lust auf mehr. Das Stadtteilzentrum „Horner Freiheit“ ist im Frühjahr eröffnet geworden und bringt Initiativen und Institutionen zusammen – von der Bücherhalle bis zur Mütterberatung, von der Volkshochschule bis zum Café May. Ebenfalls unter das moderne Dach geschlüpft sind Stadtteilverein und Geschichtswerkstatt. „Die Horner Freiheit ist ein Sprung nach vorn“, sagt Gerd von Borstel von der Geschichtswerkstatt Horn e. V. Er lebt seit 1957 im Stadtteil. „So etwas hat hier immer gefehlt, die Gruppen profitieren voneinander.“ Wenn Borstel über sein Viertel ins Plaudern kommt, wird daraus bald eine Liebeserklärung an Horn. „Wir sind ein bunt gemischter und toleranter Stadtteil. Bei uns gab es weder Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünfte noch gegen die Al-Nour-Moschee.“ Aber Sorgen vor der nachhaltigen Aufwertung des Viertels, welche die Alteingesessenen vertreibt, hegt er auch. „Natürlich fürchten wir eine Gentrifizierung durch die ,Entdeckung des Ostens‘. Jede Wohnung, die frei wird, wird saniert und danach teurer vermietet – das ist neu und macht vielen Angst.“ Zugleich sieht Borstel aber auch die Notwendigkeit, die traditionell kleinen Horner Wohnungen zusammenzulegen oder ganz neu zu bauen, damit Familien im Stadtteil bleiben. Er warnt aber vor einer Bauwut: „Die Pläne sind zu viel des Guten. Grünflächen zuzubauen halte ich für einen Fehler – das Grün vor der Tür, vor dem Balkon entschiedet. Das ist wichtiger als jeder Park.“
Gerade in Horn, dem „Herzen der Backsteinstadt“, planen die Stadtkardiologen mehrere Eingriffe. Die Galopprennbahn soll zu einem Sportpark, das Einkaufszentrum an der dortigen U-Bahn zum Kern des Stadtteils aufgewertet werden. Und die neue U 5 bis 2025 nach Öjendorf ausfädeln. Der Backstein, diese Baustoff gewordene Hamburger Befindlichkeit, wird als „prägendes Fassadenmaterial erhalten und fortgeschrieben“. Der Stolz des Stadtteils ist die vom legendären Oberbaudirektor Fritz Schumacher entworfenen Schule Beim Pachthof. Gebaut 1929 bis 1931 trifft moderne Architektur auf vorgestrige Pädagogik – es gibt eigene Portale für Mädchen und für Jungen.
Die Washingtonallee ist im Norden der Backsteinboulevard des Stadtteils, das Rot der Ziegel und das Grün der Straßenbäume harmonieren. Hier gibt es sogar Kultur zwischen Waschbecken und Trockenhaube – jeden letzten Freitag im Monat lädt Jessica Schmidt zu Kultur im Salon, das nächste Mal berichten zwei „überlebende Touristen“ aus Albanien.
Nicht alle haben hier so gute Ideen, viele Läden stehen leer. Der Stadtteilverein hat aus der Not eine Tugend gemacht und die Schaufenster mit vielen Informationen und Fotos über Horn verschönert. Das macht das Drama optisch erträglich, ist aber keine Lösung.
Für die Stadtplaner bedeutet Belebung immer auch mehr Leben: Mit dem Großprojekt Washingtonhöfe, 300 Wohnungen in Backstein bis 2019, und einem ähnlich großen Vorhaben in der Weddestraße soll das Viertel wachsen.
Je näher ich aber Billstedt komme, desto mehr verflüchtigt sich der Charme der Washingtonallee. Die Blockbebauung endet, Wohnklötze treten an ihre Stelle. Die Hässlichkeit der Häuser wird noch betont: Kein Blumenkasten verschönert die Fassade, kein Beet die kargen Gärten, keine Schaukel, kein Sandkasten hebt den Gesamteindruck.
Und Hamburg, mit Scheuklappen die schönste Stadt der Welt, kann noch hässlicher. Die Billstedter Hauptstraße wirkt wie eine Biennale der Betonburgen, ein Architekturzoo der Zumutungen. Nichts passt mehr zueinander, weder Stil noch Farben, noch Sichtachsen. McDonald’s ist das architektonische Highlight, das muss man erst einmal schaffen.
Viele Bewohner sind offenbar nur körperlich in Billstedt, ihre Gedanken weit weg – an jedem Balkon ist eine Satellitenschüssel angeschraubt für die Flucht aus dem Alltag in eine fremde Welt. Kleine Fluchten aus dem Straßenraum gibt es zuhauf, Spielhallen und Wettanbieter wechseln sich stellenweise als Nachbarn ab, einen Head-Shop dazwischen halten einige vielleicht schon für Multikultur.
Die Stadtplaner wollen Billstedt in ein „attraktives Zentrum“ verwandeln und haben sich einiges vorgenommen: Zur B 5 sollen große Neubauten als Tor in den Stadteil locken, das Billstedt-Center wird umgestaltet. Das viertgrößte Einkaufszentrum der Stadt wirkt auf den ersten Blick wie alle anderen, ich kenne den Geruch, die Fliesen, die Läden, das Licht. Das macht sie austauschbar, aber gibt den Konsumenten ein behagliches Heimatgefühl. Erst auf den zweiten Blick zeigen sich die kleinen Unterschiede: In fünf Sprachen wird der Besucher begrüßt, die Kundschaft ist bunter, die Preise sind niedriger. Der Mode-Multi Primark, ab Winter im Center, sucht neue Mitarbeiter und verspricht „Chancengleichheit“. Für Satzzeichen gilt das schon jetzt – es ist die erste Stellenanzeige ganz ohne Punkt und Komma.
Die Eröffnung des Textil-Discounters ist für Center-Managerin Dana Schulz der „Höhepunkt im Winter“, zieht Primark doch in die Räume, die Karstadt 2015 verlassen hat. „Die Ansiedlung wird das Center über die Grenzen des Einzugsgebiets hinaus ins Bewusstsein rufen“, hofft Schulz. Positiv sieht sie die Pläne für Billstedt und hofft auf ein „lebendiges, urbanes Umfeld. Die Aufwertung des Stadtteils bietet auch für das Center bessere Chancen zur Entwicklung.“
Über den Schiffbeker Weg wandere ich weiter gen Norden, durch das unbekannte Billstedt. 53 Prozent der Gebäude sind Einzelhäuser, ein Wert wie in Blankenese. Die Allee spielt eine große Rolle als „prägendes Element im Raumgefüge“, leidet aber unter dem Verkehr – und wie viele Stadtteilmagistralen unter dem Schwund alteingesessener Fachgeschäfte. Johanna Thiele von der Theaterkasse Billstedt will nach 37 Jahren schließen. „Es lohnt sich nicht mehr“, sagt die Einzelhändlerin, die Karten von Winnetou bis Ohnsorg-Theater, von Metal bis Musical verkauft, aber auch Zeitschriften und Zigaretten. „Hier auf der Ecke ist alles weg, früher waren hier noch Banken, Blumenläden, Bäcker, es gab eine Menge Laufkundschaft.“ Da seien die Jungs aus der Nachbarschaft mit ihrem Taschengeld gekommen und hätten Eintrittskarten für den HSV gekauft. Nun ist der Kartenvorverkauf zentralisiert – „die Großen wollen alles selbst machen“. Ein Umzug ins Center kommt für sie nicht infrage: „Da können Sie nichts mehr selbst entscheiden, da kann ich mich auch anstellen lassen.“ Was sie machen will, weiß sie noch nicht. „Zur Not gehe ich in die Pflege“, sagt Thiele. Dem Stadtteil will sie treu bleiben. „Billstedt wird schlechter gemacht, als es ist. Das ist ein schöner Stadtteil, immer gewesen.“ Das Zusammenleben klappe gut, Stress gebe es kaum.
Geradezu märchenhaft sind die Straßennamen jenseits des Schiffbeker Wegs – Drosselbartweg, Zwergenstieg, Däumlingstwiete. Ein bürgerliches Wohngebiet, akkurat geschnittene Hecken, Deutschland-Fahnen. Jenseits des Schiffbeker Moores liegt die Horner Geest. Im Wirtschaftswunder wurden Zeilenhäuser und Wohntürme ins Grüne gepflanzt, das obligatorische Einkaufszentrum als Mittelpunkt. Auf den Balkonen wehen Türkeifahnen. Die Europameisterschaft ist hier nie vorbei.
Östlich des Schiffbeker Wegs verliert sich die Stadt langsam ins Umland – doch damit könnte es bald vorbei sein. Die Bewohner jüngerer Einfamilien- und Reihenhäuser bekommen neue Nachbarn. Nördlich des Öjendorfer Sees auf den Feldern nahe Haferblöcken sind 550 Wohneinheiten geplant, in der Gartenstadt Öjendorf südlich des Friedhofs eine neue Gartenstadt mit 700 Einheiten. Viele Flüchtlinge sollen hier eine neue Heimat finden. Doch der Widerstand ist auch groß: „Lasst Billstedt grün!“, fordern Plakate in den Gärten, Anwohner und Naturschützer koalieren.
Das Grün ist der Stolz des Ostens; verschwenderisch ist Billstedt vor allem mit Feld, Wiese und Wald. Der Öjendorfer Park ist ein Traum, auf Trümmern gebaut. Die sanften Erhebungen ruhen auf den Ruinen von Horn – eine Trümmerbahn brachte die Überreste zwischen 1949 und 1954 hierher. Ich schlage noch einmal bei Borchert nach:
Dann zeigte er in alle vier Himmelsrichtungen und fragte: „Alles kaputt?“ Der Alte antwortete. Ganz leise tat er das: „Alles“, nickte er. „Drei Stunden links. Drei Stunden rechts. Dahin und rückwärts auch. Alles.“ Und er sagte: „Barmbek, Eilbek und Wandsbek“ und „Hamm und Horn“, sagte er. Und „Hasselbrook“. Und „St. Georg und Borgfelde“. Er sagte „Rothenburgsort und Billwerder“. Und „Hammerbrook“. Und „Billbrook“. Und er sage „Hamburg“ und sagte „Hafen“ und nochmal „Hamburg“.
Ich stehe in dieser Stadt, die ihre Wunden geheilt hat, auch wenn Narben bleiben. 71 Jahre sind eine Ewigkeit. Und eine Leistung. Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln, Trümmer zu Parks. Wer die Geschichte kennt, wird die Gegenwart gnädiger betrachten.
Heute sind der Öjendorfer See und der Park beliebte Naherholungszonen, der See lockt zum Baden. Überraschend frisch ist das Wasser, ein Traum für Schwimmer. Ich stürze mich ins Nass und schäme mich, zum ersten Mal hier zu sein. „An heißen Tagen kommen Tausende hierher“, sagt Hasan Capaci, der seit 26 Jahren den Kiosk am See betreibt. Allerdings sei früher mehr los gewesen – gerade an Sonnabenden. „Jugendliche sind weniger draußen. Seit die Ladenöffnungszeiten ausgeweitet wurden, sind die Einkaufszentren voller und die Parks leerer.“ Ärger gebe es hier äußerst selten, sagt Capaci. Ein großes Thema seien die geplanten Bauvorhaben. „Die Leute haben Angst um den Wert ihrer Häuser“, sagt Capaci. Ich kann das verstehen. Bis zu 2500 Flüchtlinge sollten unweit des Sees unterkommen – und das in einem Stadtteil, in dem schon 70 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben.
Seit 50 Jahren ist der Öjendorfer Friedhof gewachsen: Alte Eichen wölben ein grünes Dach über die Straße, Eichhörnchen springen von Ast zu Ast, Vögel zwitschern. Friedhöfe berichten vom Leben, Sterben und Morden, und Öjendorf ist ein großer Erzähler. Eine italienische Ehrenstätte erinnert an 5849 Zwangsarbeiter, die fern der Heimat starben. Der Friedhof ist so groß, dass der HVV Bushaltestellen eingerichtet hat. Und auf den Schildern weist ein Pfeil nach Norden und einer nach Mekka. Der Islam ist längst Teil von Deutschland.
Kaum ein Stadtteil soll sich so schnell und nachhaltig wandeln wie Billstedt – kaum ein anderer hat in den vergangenen Jahrzehnten sein Gesicht so verändert. Hier heißt die Dorfschänke Dong Ting, hier stehen Reetdachhäuser und Bauernhöfe neben sozialem Wohnungsbau. Wo bald gestapelte Reihenhäuser, Flüchtlingswohnungen und Eigentumswohnungen in den Himmel wachsen sollen, wachsen noch Blumen zum Selberpflücken. Schon einmal, zwischen den 50er- und 70er-Jahren, ist die Stadt hier unweit der Möllner Landstraße eher gewuchert denn gewachsen.
Seit Jahrzehnten verkauft Waltraud Zuther an der Möllner Landstraße Blumen. Mit der U-Bahn-Haltestelle Merkenstraße wurde 1970 das Blumenstübchen eröffnet. Ein Nahversorger fürs Auge und Gemüt. Blumenläden sagen oft mehr über die Struktur im Stadtteil aus als Berge von Sozialdaten, sie sind ein gutes Zeichen. Zuther kennt ihr Viertel. „Sträuße kaufen alle Nationalitäten, Gärten mit Blumen haben eher Deutsche, Russen und Polen.“ Sie lobt den Stadtteil, sein Grün, das Miteinander. Und bleibt trotz ihrer 65 Lebensjahre dem „Blumenstübchen“ treu – trotz der langen Tage, die früh morgens auf dem Großmarkt beginnen und erst nach Ladenschluss enden.
Ich nehme einen schönen Strauß Blumen mit aus Billstedt – und einen Strauß Eindrücke aus dem Hamburger Osten. Man sollte die Stadt nicht für die schönste der Welt halten. Man darf aber durchaus beeindruckt sein vom Lebenswillen dieser Stadt, vom Wiederaufbau, von ihrer Integrationskraft. Den Osten zu entdecken ist kein Traum überdrehter Politiker oder gieriger Investoren, sondern Heilung eines historischen Bruchs. Veränderung muss keine Angst, sie darf auch Hoffnung machen. Oder um mit Wolfgang Borchert zu enden:
Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine, unaussprechlich viel mehr! […] Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!