Neustadt. Zum Prozessauftakt versichert der Angeklagte, dass er den Jungen vor dessen Tod „wie einen eigenen Sohn“ geliebt habe.
Man kann und mag sich kaum vorstellen, wie sehr Tayler gelitten hat. Mit Blut vermischter Speichel troff aus seinem Mundwinkel, sein Körper verkrampfte sich, ein Arm hing schlaff herunter. Sieben Tage kämpfte das Kleinkind um sein Leben – es verlor den Kampf am 19. Dezember. An diesem Tag stellten die Ärzte im UKE die Maschinen ab, die das Herz am Schlagen hielten.
Michael Q. wegen Totschlags vor Gericht
Der Fall des 13 Monate alten, mutmaßlich zu Tode geschüttelten Tayler wurde zum (weiteren) Symbol für die nicht enden wollende Serie schwerer Kindesmisshandlungen und Kindstötungen in Hamburg – mithin auch ein Symbol für das erneute Versagen des staatlichen Fürsorgesystems. Am Freitag hat der Prozess gegen den Mann begonnen, der den Jungen totgeschüttelt haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat Michael Q. wegen Totschlags angeklagt.
Vor der Vorsitzenden Richterin am Landgericht, Petra Wende-Spors, sitzt ein breitschultriger Mann, der sehr konzentriert und sehr beherrscht wirkt. Nur das starke Zittern seiner Hände verrät, dass es in ihm doch etwas anders aussieht. „Ich weise den Anklagevorwurf zurück“, sagt Michael Q. Er habe Tayler geliebt wie seinen eigenen Sohn. Er sei über seinen Tod „tief bestürzt“.
Was an jenem Dezembertag geschah
An jenem Tag, dem 12. Dezember, sei Tayler nach dem Mittagsschlaf gegen 15.45 Uhr aufgewacht. Als seine Freundin Jacqueline B. einkaufen ging, habe er es sich mit Tayler auf dem Sofa bequem gemacht und Musik gehört. Er sei dann in die Küche gegangen, um die Spülmaschine einzuräumen. Zehn bis 15 Minuten habe das gedauert, währenddessen habe er immer wieder zu dem Baby herübergeschaut. „Plötzlich hörte ich, dass Tayler Schnappatmung hatte, Speichel mit Blut trat aus seinem Mund aus“, sagt Michael Q.
Er habe dann seine Freundin angerufen, die wenig später in die Wohnung zurückgekehrt sei. Nicht auf ihre, sondern auf seine Initiative hin sei der Rettungsdienst verständigt worden. So die Version von Michael Q.
Seit April sitzt der 27-Jährige in U-Haft. Und das auch nur, weil ihm erst durch eine extrem langwierige feingewebliche Untersuchung von Taylers Leichnam nachgewiesen werden konnte, dass er sich zur Tatzeit allein mit dem Jungen in der Wohnung aufhielt. Weil gegen den Mann bis zu dem Befund kein dringender Tatverdacht vorlag, durfte er sich frei bewegen. Und sogar in den Urlaub nach Spanien fliegen – da lag Tayler gerade im Sterben.
Wie sich die Reise mit seiner angeblich so großen Liebe für den Jungen in Einklang bringen lässt, versucht Q. am Freitag aufzuklären: Sein Onkel, der in Spanien lebe, sei schwer krank gewesen; zudem habe ihm sein Vater geraten, dem öffentlichen Rummel zu entgehen.
"Ich habe nichts mit ihm gemacht", behauptet er
In dem Prozess bleiben eine ganze Reihe von Fragen offen – die alles überragende ist die nach der Ursache für die extremen Symptome des Kindes. „Dafür habe ich keine Erklärung“, sagt der Angeklagte. „Also ist dieser Zustand praktisch aus dem Nichts gekommen“, hakt die Richterin nach. Der Angeklagte: „Ich habe definitiv nichts mit ihm gemacht.“ Bereits im August hatte Tayler einen Schlüsselbeinbruch erlitten. Eine Erklärung hat der Angeklagte auch hierfür nicht. Der Junge sei mit seinen Armen in den Gitterstäben seines Bettchens stecken geblieben.
Was die Obduktion ergab
Bei der Obduktion von Taylers Leichnams wiesen die Rechtsmediziner zahlreiche Verletzungen nach; blaue Flecken auf der linken und der rechten Wange, einer an der Stirn, eine Unterblutung am linken Ohr. Tayler sei manchmal „sehr tollpatschig“ und anfällig für Hämatome gewesen, sagt Q. Er selbst will nur für die Unterblutungen an der rechten Wange verantwortlich sein: Der Junge drohte am Tag vor seinem Kollaps nach dem Baden von einem Stuhl zu kippen; als er versucht habe ihn aufzufangen, sei er mit dem Handballen gegen seine Wange geraten, so die Erklärung von Michael Q.
Der 27-Jährige war der Stiefvater des Kindes und damit – rein statistisch betrachtet – eine Gefahr. Zwar sei das Risiko in absoluten Zahlen gering. Doch „nach Untersuchungen in verschiedenen Ländern stellen Stiefväter im Vergleich zu leiblichen Vätern ein mehrfach erhöhtes statistisches Risiko für eine Verletzung oder gar Tötung eines Kindes dar“, sagt der Wiener Evolutionsforscher Professor Harald Euler. Der Grund dafür liege im unbewussten evolutionären Erbe: Für Stiefväter sei es unzweckmäßig, in die Gene des leiblichen Vaters des Kindes zu investieren. Ein ähnliches Verhalten lasse sich auch im Tierreich beobachten.
Bundesweit werden nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes pro Jahr bis zu 150 Kinder zu Tode misshandelt. Alkohol- und Drogenmissbrauch spielen eine Rolle, eine generelle Überforderung der Eltern auch, mitunter sogar sadistische Züge bei den Tätern, sagt Professor Michael Tsokos, Direktor der Rechtsmedizin an der Berliner Charité. Mindestens 20 Kinder würden pro Jahr in Deutschland zu Tode geschüttelt.
Warum Schütteln so gefährlich ist
Zahlreiche rechtsmedizinische Befunde stützten die These, dass diese Zahl noch um den Faktor fünf oder sechs erhöht sein könnte, so Tsokos. Die Deutsche Kinderhilfe spricht sogar von 200 Fällen. Tsokos: „Ich bin überzeugt, dass ein Großteil der schwerbehinderten Kinder Opfer eines frühkindlichen Schütteltraumas geworden sind.“ Beim Schütteln können, wie bei Tayler, durch Scherkräfte die Brückenvenen und Nervenfasern im Gehirn zerreißen. Blindheit, Taubheit, epileptische Anfälle und Lähmungen können die Folge sein. Oder gar der Tod.
Allein in Hamburg sind im Vorjahr zwei weitere Säuglinge fast zu Tode geschüttelt worden. Der damals drei Monate alte Jamie-Dean ist seit der Tat schwerbehindert und vegetiert auf einer Palliativstation dahin. Deljo, zur Tatzeit neun Monate alt, hatte noch Glück: Er erholte sich von dem Schütteltrauma und lebt derzeit bei einer Pflegefamilie.
Im Fall Tayler sind bisher 18 Verhandlungstage angesetzt, der nächste am kommenden Montag. Viel wird von den Expertisen der zwei rechtsmedizinischen Sachverständigen abhängen.