Hamburg. Hamburgs Prachtboulevard ist in Verruf geraten. Raser und Gewalttäter provozieren viele Einsätze. Der Jungfernstieg als No-go-Area?
Vor der Europa Passage zieht ein Koch genüsslich an seiner Zigarette. Endlich Feierabend. Seine Schürze hat er noch umgebunden. Ein Pärchen läuft vorbei. Eng umschlungen klammern sich beide an einen Regenschirm. Es nieselt. Die Hamburger, die tagsüber in den zahlreichen Geschäften an der Binnenalster einkaufen, sind längst zu Hause oder in die Nacht ausgeschwärmt, und auch die Touristen sind in ihre Hotels zurückgekehrt. Es ist Montagabend, 22 Uhr. Boutiquen, Cafés, Büros – sie alle haben ihre Türen bereits verschlossen. Nur im Alex, dem bei Touristen so beliebten Restaurant im Alsterpavillon, herrscht noch Betrieb.
Und auch auf dem danebenliegenden Areal zeigt sich ein anderes Bild. Dort, wo die Stadt 2006 Sitzgelegenheiten und Treppen von der Straße bis zum Alsteranleger in das helle Pflaster eingelassen hat, stehen Jugendliche in Grüppchen zusammen, trinken und rauchen. Sie sind sehr jung. Die meisten von ihnen sehen nicht älter aus als 15 Jahre. Die größte Gruppe steht in der Mitte des Platzes. Neun Jungs und ein Mädchen diskutieren lautstark. Doch sie sind friedlich. Eine aggressive Stimmung ist nicht zu spüren. Man hört Bierdosen knacken, während aus den mitgebrachten Boxen Balkan-Beats dröhnen. Um sie herum stehen weitere Grüppchen. Manche scheinen sich zu kennen. Es sind hauptsächlich junge Männer. Ein Sprachengewirr dringt herüber. Deutsch redet niemand.
In den vergangenen Wochen sorgten genau diese Ansammlungen immer wieder für Schlagzeilen. Die Polizei musste mehrfach ausrücken. Prügeleien, Lärmbelästigung, Diebstähle – der Jungfernstieg, Hamburgs neuer Brennpunkt? An diesem Abend ist es ruhig. Das mag am Regen liegen und daran, dass das Wochenende noch weit entfernt ist. Um 22.10 Uhr legt ein Alsterschiff an. Die letzte Rundfahrt des Tages ist vorbei. Eine Gruppe von 15 Touristen strömt von Bord. Lachend begeben sie sich in Richtung U-Bahn.
"Als Frau würde ich mich abends nicht hier aufhalten"
Hier habe sich einiges verändert, sagt der Mitarbeiter der Alstertouristik. Am Wochenende sei es besonders schlimm. „Das ist einfach kein sicherer Ort mehr“, pflichtet ihm ein Kollege bei und fügt hinzu: „Als Frau würde ich mich hier abends nicht mehr aufhalten.“ Die 24-jährige Justine Caspar sieht das anders. Sie sitzt auf einer der Bänke und tippt etwas in ihr Handy. Sie habe davon gehört, dass es hier in letzter Zeit häufig zu Auseinandersetzungen gekommen sei. Angst habe sie jedoch keine. „Ich fühle mich hier sicherer als am Hauptbahnhof“, sagt sie.
22.30 Uhr. Fünf Jungen steigen in der Dunkelheit von einem der Alsterschiffe und gesellen sich zu den anderen. Sie tragen Basecaps und Turnbeutel. Ein Mädchen in bauchfreiem Top läuft auf sie zu. Sie schmeißt einen Becher in die Luft und tritt dagegen.
Kioskbesitzer: "Es ist zu wenig Polizei da"
Die Grüppchen verändern sich stetig. Jugendliche kommen hinzu, andere gehen Richtung U-Bahn oder setzen sich vor den gegenüberliegenden Apple Store. Dort gibt es kostenloses W-Lan. Mehmet, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung genannt haben möchte, betreibt seit fünf Jahren einen Kiosk in der U-Bahn-Unterführung. Er sagt, dass sich die Anzahl der Ladendiebstähle drastisch erhöht habe. „Alleine geht’s abends nicht mehr“, meint er und nickt in die Richtung seiner beiden Kollegen, die dabei sind, Regale einzuräumen. Eine Kundin erzählt, dass ihre Freundin früher gerne mit ihren Kindern auf den Alsterbänken gesessen habe. Nach 18 Uhr könne sie das aber nicht mehr machen. Die Kinder hätten Angst. „Es ist einfach zu wenig Polizei da“, sagt der Kioskbesitzer.
Wenn Polizisten vor Ort seien, passiere nie etwas, meint er. Das sei jedoch nur selten der Fall. Zwar sei das Personal in der Hochbahnwache aufgestockt worden – an diesem Abend sind sechs Männer im Dienst, doch „die können auch nichts machen, wenn auf dem Jungfernstieg was passiert“, sagt Mehmet und fügt hinzu, „oben sind zu wenig und unten ist keiner zuständig. Ist doch klar, dass die Rechnung nicht aufgeht.“
Minderjährige kiffen und pöbeln
An diesem Abend ist gar keine Polizei zu sehen. Trotzdem bleibt es ruhig. Dass es anders zugehen kann, wissen auch die Mitarbeiter des Alex. „Jeden Tag sitzen da minderjährige Jungs und Mädchen, rauchen Joints und pöbeln“, sagt ein Angestellter. Die Gäste würden sich regelmäßig beschweren. Es komme auch schon einmal vor, dass jemand die Polizei ruft.
Um 23 Uhr nimmt der Regen zu. Der Pulk in der Mitte des Anlegers löst sich langsam auf. Einige suchen Schutz unter den Bäumen, andere rennen zum Apple Store und kauern sich unter den überdachten Vorsprung. Um 23.15 Uhr sind die Treppen am Jungfernstieg menschenleer. Kurz darauf biegt ein Streifenwagen um die Ecke. Die Polizisten können weiterfahren. Zumindest an diesem Abend.
Wenn der DJ kommt, wird die Aggression weggetanzt
Zwei Tage später: 30 Grad, wolkenloser Himmel, ruhiges Wasser. Solange die Sonne noch nicht vollständig untergegangen ist, dominiert die „Tagesschicht“ den Jungfernstieg. Rund 500 Menschen sitzen auf den Bänken an der Alster und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Das Publikum ist gemischt. Touristen, Familien, Jugendliche – sie alle sitzen oder stehen friedlich beieinander. Manche trinken Alkohol, andere essen. Viele rauchen. Die Mülleimer quellen über an diesem Abend. Ein Flaschensammler geht durch die Reihen auf der Suche nach Leergut. Für ihn herrscht heute Hochbetrieb. Es ist Mittwochabend, 20 Uhr.
Als die Dunkelheit 30 Minuten später langsam einbricht, kommen immer mehr Jugendliche und nehmen die langsam frei werdenden Plätze ein. Die Stimmung bleibt friedlich. Auf einmal ertönt laute Musik vom Anleger, die den ganzen Platz einnimmt. Vorbeischlendernde Paare bleiben stehen und lauschen. Inmitten der Menschenmenge steht ein Mädchen von ihrer Bank auf und bewegt sich selbstbewusst im Takt der Musik. In der Hand hält sie eine Flasche Bier. Kurz darauf tun zwei Jungen, die neben ihr gesessen haben, es ihr gleich. Um sie herum lächelnde Gesichter.
„Salem Alaikum, guten Abend“, schallt es über den Platz. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf den DJ, der sich über ein Mikrofon an die Menge wendet. Der junge Mann steht vor einem DJ-Pult – wenn man ein Bügelbrett denn so nennen will. Er kündigt den nächsten Song an und animiert den ersten Freiwilligen, direkt vor seiner Anlage am Ufer zu tanzen. Zögerlich gesellen sich zwei weitere Jungen dazu. Die Musik ist ein Mix aus charttauglichem Pop und orientalischen Klängen. Der Menge gefällt’s.
Immer wieder bleiben Schaulustige stehen. Die Menschen stehen auf und tanzen. Gleich halb elf, 26 Grad, lauer Sommerabend, T-Shirtwetter. Die spontane Fete löst Urlaubsstimmung aus. Aggressionen werden weggetanzt.
Der DJ wird nur geduldet – ohne Genehmigung
„Musik verbindet die Nationen“, sagt Murat Tözel, der, na klar, unter dem Namen DJ Bügelbrett auflegt. Dass er seinen Job beherrscht, wird nach wenigen Minuten klar. Offizielle Genehmigung? Fehlanzeige. Ärger mit der Polizei? Gibt es nicht. „Die sind froh, wenn ich hier auflege, dann ist es ruhig“, sagt er. Zumindest was die Auseinandersetzungen angeht. „Hier treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander. Wenn Alkohol ins Spiel kommt, knallt es“, sagt der Hamburger. Für ihn ist es völlig klar, warum es hier Probleme gibt: Viele beschäftigungslose Jugendliche, ohne Eltern aus unterschiedlichen Ländern – „dann gibt’s auch mal auf die Fresse“, wie Murat sagt.
Er glaubt an sein Konzept dagegen: Musik. Damit auch wirklich nichts passiert, macht er zwischen den Songs klare Ansagen: „Keine Schlägereien. Sonst breche ich sofort ab.“ Offenbar will das niemand riskieren. Immer mehr junge Männer drängen sich um das DJ-Pult, manche umarmen den 27-Jährigen. Er hat schon öfter hier aufgelegt. Hauptberuflich arbeitet Murat als „Happiness Manager“, und ist dafür verantwortlich, dass sich die Mitarbeiter in seinem Unternehmen wohlfühlen. Ein Gute-Laune-Profi.
Personenkontrollen und kleine Schlägereien
Dem 22-jährigen Sajjad, der lächelnd neben ihm tanzt, hat er ein Praktikum in seiner Firma vermittelt. Eventuell kann dieser eine Ausbildung anschließen. „Ich möchte die Jungs von der Straße holen“, sagt Murat. Ein Mädchen stellt sich hinter das Mischpult. Sie versucht einen Blick auf das Display des Laptops zu erhaschen, will wissen, wie der Song heißt, der gerade läuft. Das Partyvolk wird zutraulicher. Mehr und mehr Menschen verlassen ihre Plätze und begeben sich in die Nähe der Musikboxen.
„Das ist super, wenn er auflegt, dann mache ich mehr Umsatz, weil auch mehr Leute kommen“, sagt Mehmet, der Kioskbesitzer. Dass wirklich immer alles friedlich ist, wenn oben am Jungfernstieg getanzt wird, verneint er allerdings. „Manchmal ist es dann schon ruhiger. Aber nicht immer. Das ist Quatsch“, meint er. Auch an diesem Abend musste die Polizei bereits ausrücken. Allerdings nur im U-Bahn-Bereich. „Hier sind total viele Polizisten rumgelaufen“, sagt Mehmet. Eskaliert sei die Situation jedoch nicht.
Ein Polizeisprecher bestätigt, dass es sich bei dem Einsatz lediglich um eine Personenkontrolle gehandelt habe, da Randalierer gemeldet wurden. Am Tag zuvor musste die Polizei jedoch direkt am Jungfernstieg eingreifen. Ein Zeuge hatte eine Schlägerei beobachtet. Zwei junge Männer waren aufeinander losgegangen und hatten sich gegenseitig verletzt.
Doch am Mittwoch bleibt es ruhig. Im U-Bahn-Tunnel riecht es nach Marihuana. Um 23 Uhr sind nur noch drei Angestellte der Hochbahnwache an ihrem Platz. Eine Tabakverkäuferin schließt ihren Laden ab. Die Bahnsteige sind voll. Ein ganz normaler Mittwochabend am Jungfernstieg? „Heute ist es entspannt, aber am Wochenende wird es definitiv wieder anders“, meint der Kioskbesitzer. Ob DJ Bügelbrett dann auch wieder seine Plattenteller am Fuße der Alstertreppen aufbauen wird, weiß Murat Tözel noch nicht. „Das hängt auch immer vom Wetter ab“, sagt er. Glaubt man der Vorhersage, stehen die Chancen nicht allzu schlecht. Und für ein friedliches Wochenende auch nicht. Hoffentlich.