Hamburg. In 493 Fällen fordern sie eine andere Einrichtung für ihre Kinder. Die Zahl der Widersprüche steigt.

Dragana Kostic hatte es sich für ihre Tochter so schön und einfach vorgestellt. Im Anschluss an die Grundschule sollte die Zehnjährige auf das Gymnasium Klosterschule gehen. Diese Ganztagsschule unweit des Berliner Tors liegt zwar gut 20 Reiseminuten entfernt vom Wohnort der Familie in der Neustadt, aber etliche Freundinnen ihrer Tochter aus der Grundschule wollten auch diese weiterführende Schule besuchen.

Ein weiterer wichtiger Punkt aus Sicht von Kostic: Die Klosterschule ist eine sogenannte Kulturschule, die besonderen Wert auf kulturelle Bildung legt. Dazu gehören etwa ein Musiktheater und die Zusammenarbeit mit Künstlern und Museen. Ein sehr interessantes Konzept, das gut zu ihrer Tochter passen würde, fand die alleinerziehende Mutter – und gab auf dem Antragsformular als Erstwunsch die Klosterschule an.

Als der Bescheid von der Schulbehörde kam, war Kostic schockiert, wie sie sagt. Denn ihre Tochter soll nun auf das Gymnasium Hamm gehen. „Die Kleine hatte sich so auf die Klosterschule gefreut. Nun ist sie verwirrt und traurig, weil es nicht klappen könnte“, erzählt Kostic. Darüber hinaus sei der längere Schulweg, den ihre Tochter nun alleine zurücklegen müsste, nicht zumutbar.

Deshalb hat Kostic dem Bescheid widersprochen und einen Anwalt eingeschaltet. Mit diesem Protest steht sie nicht alleine: 493 Widersprüche gingen für das Schuljahr 2016/17 bei der Schulbehörde ein, wie diese auf Anfrage mitteilt. 267 Widersprüche betreffen Bescheide für die fünften Klassen. Zum Vergleich: 2015 gab es 494 Widersprüche, 2014 waren es 453, im Jahr 2013 gab es 369 Widersprüche. Die Zahl der Widersprüche ist also seit 2013 um rund 34 Prozent gestiegen.

Von den Widerspruchsverfahren sind der Behörde zufolge bei den ersten Klassen noch 13 Fälle offen. Davon sind sieben Fälle vor Gericht, die übrigen sechs sind in Bearbeitung. Bei den fünften Klassen, deren Widersprüche im Anschluss an die ersten Klassen bearbeitet werden, sind noch 125 Fälle offen, davon sind 15 vor Gericht.

Die Auseinandersetzungen haben mit einer Freizügigkeit des Hamburger Schulsystems zu tun: Grundsätzlich hat jeder Hamburger Schüler ein Anrecht auf den Zugang zu jeder Hamburger Schule. Da einige Schulen allerdings beliebter sind als andere, kommt es immer wieder zu Engpässen. Die Auswahlkriterien sind dann, ob schon ein Geschwisterkind auf die gewünschte Schule geht und wie lang der Schulweg ist.

Der Behörde zufolge muss die zugewiesene Schule in einer zumutbaren Entfernung vom Wohnort liegen, wobei zu berücksichtigen ist, ob die Länge des Schulwegs altersangemessen ist. Es gibt allerdings keine Höchstgrenze für die Länge des Schulwegs, sagt Claudia Pittelkow, Sprecherin der Schulbehörde. Vielmehr werde in jedem Einzelfall geprüft, welche Verkehrsmittel ein Kind nutzen könne und ob dies zumutbar sei – „möglichst einvernehmlich mit den Eltern“.

Für Gastschüler aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen gelten dieselben Kriterien, allerdings haben Hamburger Kinder immer Vorrang bei der Schulplatzvergabe, erst dann würden die Kinder aus anderen Bundesländern berücksichtigt, so die Behörde.

Eltern können einen Zweit- und einen Drittwunsch angeben, müssen dies aber nicht tun. Dragana Kostic sagt, sie habe zunächst auf Anraten eines Lehrers einen Zweit- und einen Drittwunsch angeben, dabei aber kein gutes Gefühl gehabt und die Angaben deshalb zurückgezogen. Dass ihrer Tochter dann nicht wenigstens eine Schule in der Nähe zugewiesen worden sei, habe sie überrascht. „Ich werde nun vor Gericht gehen“, sagt Kostic.

Der Schulbehörde zufolge müssen zunächst die Erst-, Zweit- und Drittwünsche abgearbeitet werden. Erst danach würden erneut Fälle bearbeitet, in denen nur ein Erstwunsch angegeben worden sei, dem nicht entsprochen werden konnte. Unter anderem in Anschreiben an die Eltern werde darauf hingewiesen, dass die Angabe eines Zweit- und Drittwunsches sinnvoll sei, sagt Claudia Pittelkow.

Anette Kaiser hätte ihre zehnjährige Tochter am liebsten auf das Gymnasium Eppendorf geschickt, nahe der Wohnung der Familie im selben Stadtteil. Doch weil eine Lehrerin dieser Schule ihr mit Nachdruck empfohlen habe, es nicht bei einem Erstwunsch zu belassen, so Kaiser, habe sie als Zweit- und Drittwunsch die zwei nächstgelegenen Gymnasien in Alsterdorf und Harvestehude angegeben. Berücksichtigt worden sei dann jedoch keiner ihrer drei Wünsche. Stattdessen sollte ihre Tochter das erheblich weiter entfernte Gymnasium Alstertal in Fuhlsbüttel besuchen.

Auch die Kaisers störte, dass ihre Tochter aus ihrem bisherigen Kreis von Schulfreunden herausgerissen werden und ihren neuen und längeren Schulweg alleine bewältigen sollte. Die Eltern legten Widerspruch ein und beauftragten einen Anwalt. Erst in den Sommerferien und „nach permanentem Nachfragen der Kanzlei“, so Kaiser, habe die Schulbehörde geantwortet: Die Tochter darf nun das Wilhelm-Gymnasium in Harvestehude besuchen – das war der Zweitwunsch gewesen.

Warum aber zunächst Fuhlsbüttel? Wenn weder Erst- noch Zweit- und Drittwunsch erfüllt werden könnten, werde die nächstgelegene Schule ausgewählt, an der ein Platz frei werde, heißt es von der Schulbehörde.

Alexander Münch vertritt die Kaisers und Dragana Kostic. Zudem bearbeite seine Kanzlei derzeit mehr als 20 weitere Widerspruchsfälle, sagt der Rechtsanwalt. Er überprüfe anhand anonymisierter Anmeldelisten, die er von der Schulbehörde erhalte, ob das Vergabeverfahren rechtlich korrekt abgelaufen sei.

Ebendieses Verfahren folge keiner Willkür, sondern sei gesetzlich vorgeschrieben, sagt Pittelkow. Zudem wolle die Schulbehörde möglichst kleine Klassen ermöglichen. In den vergangenen drei Jahren seien im Schnitt 96 Prozent der Erstwünsche für erste Klassen und 95 Prozent der Erstwünsche für fünfte Klassen erfüllt worden. „Natürlich ist das kein Trost für die Hamburger Kinder und Eltern, deren Erstwunsch nicht erfüllt werden konnte“, sagt Pittelkow. Gleichwohl zeigten die hohen Werte, „wie sehr sich die Schulbehörde um die Erfüllung der Anmeldewünsche bemüht“.