Hamburg . Hamburger Professorin Gabriele Kaiser: Bezüge zum Alltag und Projektarbeit sind wichtig, um Schüler für Rechenaufgaben zu begeistern.

Mathematik ist das Problemfach Nummer eins der Hamburger Schüler. Auch viele Erwachsene verbinden unschöne Erinnerungen mit Algebra & Co. Dabei begegnet uns Mathematik überall, von der Betriebswirtschaft bis zur Teilchenphysik.

Wie können mehr Schüler Spaß an dem Fach haben, wie lässt sich der Unterricht verbessern? Darüber sprach das Abendblatt mit Gabriele Kaiser. Die Professorin für Mathematikdidaktik von der Universität Hamburg und ihr Team haben den weltweit wichtigsten Kongress für Forscher organisiert, die sich mit dem Lehren und Lernen von Mathematik beschäftigen.

An der Veranstaltung, die alle vier Jahre und nun bis zum 31. Juli in Hamburg stattfindet, nehmen 3500 Wissenschaftler aus 106 Ländern teil. Parallel findet eine Tagung für 240 Mathelehrer statt, darunter etliche aus Hamburg.

Meine Mathelehrerin sagte oft: „Das sieht man doch!“ Ich sah die Lösung und den Weg dort hin leider oft nicht. Was läuft schief bei Schülern, die sich mit Mathe schwertun?

Gabriele Kaiser: Da läuft nichts schief bei den Jugendlichen, sondern im Unterricht. Mathematik ist zwar ein vergleichsweise schweres Fach, weil es so stark von Formeln und Strukturen geprägt ist. Aber wenn ein Schüler etwas nicht versteht, hat nicht er das Defizit – vielmehr war die Erklärung mangelhaft. Dann muss der Lehrer eine andere Erklärung finden, muss überlegen, ob er zwei Schritte verlangt hat, ohne dass der erste Schritt gelungen ist. Man muss Kinder und Jugendliche intellektuell fordern, darf sie aber nicht überfordern.

Aber es heißt doch, Mathematik sei logisch. Es sollte also ganz einfach sein.

Das ist ein Missverständnis. Wenn wir umgangssprachlich sagen, „Das ist doch logisch“, heißt das: Ich sehe es sofort ein. Die Mathematik verwendet zwar logische Strukturen, sie ist aber teilweise hochabstrakt. Einige Schüler mögen das, andere brauchen Anschaulichkeit, um damit zurechtzukommen und Spaß an der Mathematik zu haben. Leider findet Anschauung im Matheunterricht schon in der Mittelstufe vielerorts kaum noch statt. Die Geometrie, die mathematische Zusammenhänge sehr gut veranschaulicht, weil die Schüler mit räumlichen Figuren wie Würfel, Kegel, Pyramide und Zylinder arbeiten, wird immer weniger gelehrt – stattdessen nehmen abstrakte Strukturen aus der Algebra größeren Raum ein. Diese abstrakten Strukturen werden zur Beschreibung von Phänomenen in Alltag und Wissenschaft zunehmend benötigt, sind aber oft nicht leicht zu verstehen.

Kann man denn nicht auch andere Teilbereiche der Mathematik anschaulich vermitteln?

Und ob! Ein Beispiel ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Da kann man die Schüler zum Einstieg würfeln und dann rechnen lassen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Versuch, eine Sechs zu würfeln? Es gibt sechs Möglichkeiten, wie der Würfel zum Liegen kommen könnte. Also rechne ich: Eins geteilt durch Sechs. Das ist eine sehr einfache Rechnung. Man kann aber auch erheblich komplexere Aufgaben anschaulich gestalten.

Zum Beispiel?

Nehmen wir einen Garten und die Frage, wie viele Sprinkler ich brauche, um die Fläche zu bewässern. Wie viele Geräte brauche ich, wo müssen sie aufgestellt werden, wie verhindere ich Überschneidungen? Ein höherer Schwierigkeitsgrad: Wie muss ich auf einer bestimmten Fläche Mobilfunkmasten anordnen, damit es nicht zu Funk­löchern kommt? Oder: Wie lege ich einen Windpark so an, dass die Rotoren sich nicht den Wind wegnehmen? Dafür müssen die Schüler auch physikalische Gesetze miteinbeziehen. Man kann diese Aufgabe auch für leistungsschwächere Gruppen darauf beschränken, auszurechnen, wie viel Strom eine Windkraftanlage bei den Bedingungen vor Ort produzieren kann und ab wann sich die Kosten für die Anlage amortisieren. In jedem Fall ist die Aufgabe nicht mehr abstrakt, und es geht nicht nur um Formeln.

Sondern um unseren Alltag.

Richtig. Das ist vor allem bedeutsam für Schüler, die sagen: Ich sehe den Sinn nicht – warum muss ich Mathe lernen? Das es wichtig ist, Dreisatz- und Prozentrechnung zu beherrschen, leuchtet schon Kindern ein. Dass Mathematik aber ein ganz wichtiger Schlüssel sein kann, um die Welt zu verstehen und um in vielen Berufen zu arbeiten, sollte man Schülern so früh wie möglich vermitteln, weil sie das motivieren kann. Nehmen wir das Handy: Ohne Programmierung und damit ohne Mathematik gäbe es dieses Gerät nicht. Betriebswirtschaftslehre – angewandte Mathematik. Naturwissenschaftliche Forschung, etwa Teilchenphysik – ganz viel Mathematik.

Bei solchen Themen ist es mit schnellen Berechnungen aber selten getan. Man muss Geduld mitbringen, sich durchbeißen können. Reicht der Alltagsbezug als Motivation?

Es sollten weitere Lehr- und Lernformen hinzukommen. Etwa Projektarbeit. Das kann heißen: Die Schüler machen mal drei Tage lang nichts anderes als Mathematik. Dadurch werden sie nicht immer wieder herausgerissen aus ihren Denkprozessen. Wenn sie eine Frustphase haben, sind sie damit nach zwei Stunden durch – aber nicht am Ende einer Stunde und dann mit der Aussicht, dass es erst übermorgen wieder weitergeht. Das ist lernpsychologisch nachhaltiger. Am besten geschieht dies in Gruppenarbeit.

Warum?

Dadurch sind die Schüler nicht nur auf die Erklärungen des Lehrers angewiesen, der vielleicht nur in eine Richtung denkt oder eine Art der Vermittlung im Kopf hat, die für ihn selbst hilfreich war. Wenn Schüler sich etwas gegenseitig erklären, erhöht das die Kompetenz derjenigen, die es verstanden haben – und die anderen verstehen es besser.

Also sollten Schüler möglichst oft im Team und selten allein lernen?

Beides ist wichtig. An das selbstständige Lernen und ein strukturiertes Vorgehen müssen Schüler aber langsam herangeführt werden. Gelingt dies, ist selbstständiges Lernen sehr wertvoll, weil es die Fähigkeit verbessert, auf der Grundlage von Erlerntem neue Probleme anzugehen und zu lösen – so, wie es später im Beruf oft von uns gefordert wird.

Wie gut werden die genannten Lehr-Lernformen im Matheunterricht an Hamburger Schulen angewandt?

Das kann ich nicht genau sagen. Wir haben vor Kurzem bei einer Gruppe von 100 Hamburger Mathelehrern untersucht, wie es um ihr mathematisches und ihr didaktisches Wissen bestellt ist. Bei einigen haben wir zudem den Unterricht beobachtet. Im Herbst erfahren wir, welche Leistungsfortschritte die von diesen Lehrern unterrichteten Schüler gemacht haben. Es gibt aber noch keine Ergebnisse. Gleichwohl würde ich aus meiner Erfahrung sagen, dass sich didaktisch im Matheunterricht an Hamburger Schulen noch vieles verbessern lässt.

Sind didaktische Mängel ein Grund, warum Hamburgs Abiturienten in Mathe so schlecht abschneiden? An den Gymnasien ist die Durchschnittsnote der schriftlichen Abiklausuren zuletzt von 2,8 auf 3,1 gefallen, an den Stadtteilschulen von 3,7 auf 3,8 .

Didaktische Mängel mögen eine Rolle spielen, grundsätzlich ist die Lage aber komplexer. Ein wichtiger Punkt: In Bayern und Baden-Württemberg machen etwa 35 Prozent der Schüler eines Jahrgangs Abitur – in Hamburg sind es fast 60 Prozent. Die Auswahl in Süddeutschland ist also härter, dafür sind die Noten besser. Will man Schüler auf breiter Ebene qualifizieren und möglichst lange ausbilden, geht das einher mit schlechteren Durchschnittsnoten.

Können die Ergebnisse auch mit einer schlechten Vorbereitung zu tun haben?

Sagen wir es so: In Bayern und Baden-Württemberg wird sicher stärker auf Prüfungen hingearbeitet als in Hamburg. Für das weitere Leben bringt das aber wenig. Wichtiger finde ich im Matheunterricht die Fachlichkeit. Vor allem an Stadtteilschulen gilt in der fünften und sechsten Klasse – manchmal sogar noch in der achten Klasse – das Klassenlehrerprinzip, weil es für besonders wichtig erachtet wird, dass die Klasse gemeinsam Fortschritte macht. Das kann bedeuten, dass ein Lehrer, der etwa Geschichte und Chemie studiert hat, auch Mathe unterrichtet. Was soll dieser Lehrer machen? Er richtet sich vor allem nach dem Schulbuch, lässt eher auswendig lernen. Er hat sehr wahrscheinlich weniger Erklärungskompetenz als ein studierter Mathe­lehrer. Ich begrüße deshalb den Vorstoß von Senator Ties Rabe, dass es an den weiterführenden Schulen von der fünften bis zur zehnten Klasse vier Stunden Mathe pro Woche geben muss, durchgeführt von studierten Mathelehrern.

Gibt es weitere Gründe für die schlechten Mathenoten?

Eine Rolle mag auch spielen, dass jeder zweite Hamburger Schüler einen Migrationshintergrund hat, wobei der Migrationshintergrund über mehrere Generationen hinweg reichen kann. Bei einigen dieser Schüler ist das Verständnis der deutschen Sprache nicht so gut entwickelt wie bei Schülern, die nur mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind. Wer Mathematik verstehen will, braucht aber ein sehr gutes Sprachverständnis. So spielen zum Beispiel Adverbien der Lage – über, unter, links, rechts, vor, dahinter – und Adverbien der Zeit eine wichtige Rolle. Wir haben Schülern einmal eine Aufgabe gestellt, in der es um ein Salzbergwerk ging. Das Salz befand sich demnach 200 Meter unter Meereshöhe, der Korb 300 Meter über Meereshöhe. Wie viele Meter muss der Korb zurücklegen? Einigen Schülern war nicht klar, was mit Meereshöhe gemeint ist. Sie stellten sich die Höhe des Meeres vor, einige dachten an Berge im Meer. Das fehlende sprachliche Verständnis mathematischer Probleme muss man möglichst früh angehen.

Muss sich nicht auch das Mathematikstudium verändern?

Allerdings! Wir haben in Hamburg bisher Lehrer in Studiengängen ausgebildet, die entweder auf die Grund- und Mittelstufe oder auf die Mittel- und Oberstufe vorbereiten. Das heißt, für die Grundschule war die Ausbildung nicht spezifisch genug. Es studierten bisher zu viele für die Grund- und Mittelstufe, die zu wenig Mathe konnten und dann als Lehrer in einer Grundschule Mathe nicht gut vermitteln konnten. Gerade in der Grundschule kann man aber schon einiges kaputt machen, also dafür sorgen, dass die Schüler auch langfristig keine Lust mehr auf Mathematik haben. Spätestens 2019 wird es ein reines Grundschullehramtsstudium geben. Dann ist für die Studierenden absolut klar: Wer Grundschullehrer werden will, muss vor allem drei Fächer können: Deutsch, Englisch und Mathematik.

Wann werden wir Erfolge sehen?

Es wird mindestens fünf bis zehn Jahre dauern, bis Maßnahmen wie die vierte Mathestunde, ein reformiertes Studium und mehr Lehrerfortbildungen Früchte tragen werden. Wer Schulunterricht nachhaltig verändern will, braucht einen langen Atem.