Vor 100 Jahren wurden ganze Stadtteile in Rekordzeit erschlossen, verglichen damit brauchen Großprojekte heute ewig. Ein Vergleich.
Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass es dauert. Jedes Projekt, das in Hamburg auf den Weg gebracht werden soll, hat einen lähmend langen Vorlauf. Von der einfachen Straßenverbreiterung bis zur aufwendigen Infrastrukturmaßnahme wird vor allem eines benötigt: Geduld. Die jetzt begonnene Überdeckelung der A 7 war jahrzehntelang in der Planung. Hafenquerspange, die U-Bahn nach Steilshoop und Osdorf, die Elbvertiefung, eine neue Köhlbrandbrücke – viele Hamburger sind mit diesen Themen schon aufgewachsen.
Der Blick in die Stadtgeschichte vermittelt ein völlig anderes Bild – ein viel dynamischeres. Es ist verblüffend, mit welcher Geschwindigkeit die kompliziertesten Großprojekte einst durchgezogen wurden, und man muss sich fragen, ob die Stadt ohne dieses enorme Tempo überhaupt jemals die wirtschaftliche Kraft entwickelt hätte, von der heute noch alle profitieren.
Einige Beispiele: Nach dem Hamburger Brand im Sommer 1842 verabschiedete die Bürgerschaft einen Plan zum Wiederaufbau der zerstörten Altstadtgebiete. Dabei wurde gleich ein Enteignungsgesetz gebilligt, sodass die Arbeiten zügig beginnen konnten und die Bautrupps quasi freie Bahn hatten. Obwohl die Neugestaltung der Stadt logistisch sehr aufwendig war, weil das eigentliche Zentrum von der Trostbrücke in Richtung Binnenalster verlegt wurde, ließ man sich nicht viel Zeit. Schon 1846 waren die Alsterarkaden, der Rathausmarkt und die Kleine Alster mit der Viertelkreistreppe weitgehend fertiggestellt. Und das, während parallel auch noch mit ungeheurem Aufwand ein neues Wasserversorgungsnetz für die gesamte Stadt gebaut wurde, das wiederum auch schon 1848 in Betrieb genommen werden konnte.
Mehrere Infrastrukturmaßnahmen zu bündeln und so weit wie möglich zeitgleich und damit kostensparend fertigzustellen, war typisch für die damalige Zeit. So dauerte der Bau des Sandtorkais im schlammigen Hafengrund wegen des ungeheuren Aufwands zwar sechs Jahre. Aber als die Kaianlagen 1866 eröffnet wurden, konnte dort auch gleich die brandneue Hafenbahn zwischen Berliner Bahnhof und Sandtorhafen fahren.
Dass in Hamburg eines Tages monatelang wichtige Straßenkreuzungen wegen eines Busbeschleunigungsprogramms lahmgelegt sein würden, hätte sich damals niemand vorstellen können.
1883 begann der Abbruch eines ganzen Viertels auf der Kehrwiederinsel. Mehr als 1000 Speicher und Wohnhäuser fielen der Spitzhacke zum Opfer, rund 20.000 Bewohner mussten umgesiedelt werden. Verblüffend: Schon 1885 startete dort der Bau der 1,5 Kilometer langen Speicherstadt, deren Schlussstein wiederum bereits 1888 gelegt wurde. Unvorstellbar, dass die HafenCity in diesem Tempo hochgezogen worden wäre – alleine die geplante Eröffnung der Elbphilharmonie verschob sich bekanntlich um rund sieben Jahre auf 2017.
1906 erfolgte der erste Spatenstich für Hamburgs neue Ringbahn, aus der unsere U-Bahn hervorging. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es schon vorbereitende Arbeiten gegeben hatte, ist es für heutige Verhältnisse kaum nachvollziehbar: Schon 1912 wurde die Strecke Rathausmarkt–Barmbek eröffnet, drei Jahre später war das gesamte Grundnetz fertig – mit Verbindungen nach Eimsbüttel, Ohlsdorf und Rothenburgsort. Apropos Bahn. Im März 1911 wurde mit dem Bau einer rund zehn Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Bergedorf nach Zollenspieker begonnen, die unter anderem Curslack, Neuengamme und Kirchwerder anlief. Diese Querverbindung sollte die Vierlande vor allem für den Güterverkehr erschließen, war aber auch für Passagiere gedacht. Nach nur knapp einjähriger Bauzeit wurde im April 1912 bereits die Inbetriebnahme der „Vierländerbahn“ gefeiert.
Und heute? Kürzlich wurden die Pläne für Hamburgs neue U-Bahn-Linie (U 5) vorgestellt, die – wie seit Jahrzehnten versprochen – unter anderem die Großsiedlungen in Osdorf und Steilshoop anfahren könnte. Baubeginn, das als wichtigste Information schon mal vorab, wird aber nicht vor 2021 sein.
Warum so viele aufwendige, komplizierte Projekte vor rund 100 Jahren trotz deutlich einfacherer technischer Möglichkeiten derart schnell bewerkstelligt werden konnten, liegt auf der Hand. Auf Baustellen zwölf Stunden und mehr im Akkord zu schuften, galt als Selbstverständlichkeit.
„Die noch junge Gewerkschaftsbewegung kämpfte um bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne, konnte sich jedoch oft nicht durchsetzen“, erläutert Dr. Dirk Brietzke von der Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte. „Die wenigen Arbeitsschutzmaßnahmen waren vollkommen unzureichend, sodass es oft zu schweren Arbeitsunfällen kam.“ Brietzkes Fazit: „Der Preis für das enorme Tempo war hoch, zahlen mussten ihn die Arbeiter.“ Feierabend um 16 Uhr, Schlechtwettergeld, sonnabends frei – davon konnten Arbeiter um 1900 nur träumen. Der Bau des Alten Elbtunnels, der noch heute als technisches Meisterwerk gilt, wurde vom Sommer 1907 an in nur vier Jahren durchgezogen. Dabei fuhr man täglich drei Schichten, und die Arbeiter hatten nur an jedem sechsten Sonntag frei.
Für die schnellen Planungs-, Erschließungs- und Bauzeiten gibt es aber noch andere Gründe. So wurden die von den städtischen Gremien beschlossenen Maßnahmen in der Regel ad hoc umgesetzt, ohne dass es längere Diskussionen geschweige denn Widerstand gab. Zwar sind Proteste gegen Enteignungen und Rechtsstreitigkeiten auch für die Zeit vor rund 100 Jahren in Hamburg durchaus nachweisbar. Aber in der Regel reichten mickrige Entschädigungen und wenige Zugeständnisse aus, um den ohnehin zaghaften Bürgerprotest zum Verstummen zu bringen. „Man darf nicht vergessen, dass es bis 1919 in Hamburg keine demokratisch gewählte Bürgerschaft gab“, so Dirk Brietzke, „und auch der Senat besaß keine demokratische Legitimation.“
Investoren träumen von solchen Freibriefen
Nicht wenige Hamburger sahen es sogar als ihre patriotische Pflicht an, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Bau von Bahnstrecken, eigenes Land abzugeben, weil sie dem Aufschwung ihrer „Vaterstadt“ nicht im Weg stehen wollten. Einsprüche in der Bürgerschaft oder auf Bezirksebene, Bürgerbegehren, Klagen von Interessenverbänden – all das gab es damals so gut wie gar nicht.
Bei der Erschließung zahlreicher heutiger Stadtteile, darunter Wellingsbüttel, Othmarschen, Uhlenhorst und Volksdorf, ließ die Stadt privaten Investoren und Bauherren weitgehend freie Hand, die ganze Straßenzüge im Handumdrehen entwickeln ließen – und auch gleich noch für diverse Bahnanschlüsse sorgten. Namen wie August Henneberg, Heinrich von Ohlendorff oder Ferdinand Ancker stehen stellvertretend dafür.
Naturrechtliche Bedenken wurden damals kaum geäußert, geschweige denn ernst genommen, und so verschwanden im Alstertal und den Elbvororten ungezählte Quadratmeter an Grünflächen. Heute können Investoren von solchen „Freibriefen“ nur noch träumen.
Zwar existierte in Hamburg auch schon um 1900 eine umfangreiche Bürokratie, und in mancherlei Hinsicht war sie sogar noch deutlich schwerfälliger und ineffizienter als die heutige. „Doch in den vergangenem Jahrzehnten sind sehr viele zusätzliche Vorschriften entwickelt worden, von denen man vor 100 Jahren keinerlei Vorstellung haben konnte, und die viele Projekte in fast allen Phasen automatisch verlangsamen“, sagt der Hamburger Historiker Dr. Klaus Schlottau, Spezialist für industrielle Arbeitswelt. „Heute werden viele Grundstücke durch den Kampfmittelräumdienst geprüft, die Bauherren müssen unter anderem Fluchtwege und Parkplätze nachweisen können und zum Teil hohe Auflagen für Umwelt- und Denkmalschutz erfüllen“, so Schlottau, der an der Uni Hamburg auch Experte für Umweltgeschichte ist.
Doch ein Projekt dauerte auch damals wirklich lange
Doch gelegentlich gab es durchaus auch schon in früheren Zeiten Projekte, die lange auf sich warten ließen.
Dass während der Cholera-Epidemie im Jahr 1892 mehr als 8600 Menschen starben, liegt daran, dass sich Senat und Bürgerschaft jahrzehntelang nicht auf den Bau einer Filteranlage einigen konnten. Das Hamburger Trinkwasser wurde damals noch ungereinigt der Elbe entnommen – und sorgte so für eine rasche Verbreitung der Seuche. Dabei hatte der Senat schon 1876/77 eine Kommission nach Paris und London entsandt, um Informationen über das damals hoch moderne Verfahren der Sandfiltration einzuholen. Eingeführt wurde das neue Verfahren, das Hamburgs Stadtvätern wegen des aufwendigen Hafenausbaus als zu teuer erschien, erst 1893 – ein Jahr nach der Cholera-Epidemie.
Die hohen Kosten, aber auch politische Wirren sorgten dafür, dass sich die Planungsphase für Hamburgs Rathaus immer weiter verlängerte. Vom ersten Architekturwettbewerb bis zur Fertigstellung vergingen fast 44 Jahre.
Das dürfte sogar heute deutlich schneller gehen.