Hamburg. Mehr als 400 Opfer allein in Hamburg, doch die Taten bleiben wohl ungesühnt. BKA-Chef sieht Zusammenhang mit Zuwanderung.

Ein halbes Jahr nach den Übergriffen in der Silvesternacht auf St. Pauli und am Jungfernstieg wurden inzwischen alle bislang gefassten Tatverdächtige aus der U-Haft entlassen. Das berichten NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung (SZ) am Sonntag. Demnach erschien den Hamburger Gerichten das Beweismaterial nicht ausreichend. Sie sahen somit offenbar keinen dringenden Tatverdacht gegen die fünf Männer mehr.

In einem Verfahren gegen drei Beschuldigte hätten die Richter zudem Defizite bei den Vernehmungen bemängelt, diese seien wohl „einem gewissen Erwartungsdruck“ geschuldet gewesen, heißt es weiter. Die Staatsanwaltschaft habe die Kritik zurückgewiesen und bei vier Beschuldigten Beschwerde gegen die Aufhebung der Haftbefehle eingelegt.

Bundesweit 900 Sexualdelikte mit rund 1200 Opfern

Insgesamt fällt die strafrechtliche Bilanz ein halbes Jahr nach den Vorfällen in Köln, Hamburg und weiteren deutschen Städten ernüchternd aus. Demnach kam es bundesweit zu knapp 900 Sexualdelikten mit mehr als 1200 Opfern, heißt es in einer Bilanz des Bundeskriminalamtes, aus der die „Süddeutsche Zeitung“ und die Sender NDR und WDR zitieren. Die Beamten schätzen, dass mehr als 2.000 Männer an den Taten beteiligt waren. Ermittelt wird jedoch lediglich gegen 120 Verdächtige.

„Wir müssen davon ausgehen, dass viele dieser Taten auch im Nachgang nicht mehr ausermittelt werden“, sagte BKA-Präsident Holger Münch gegenüber den Medien. Deutschlandweit, so das Ergebnis der BKA-Erhebung, habe es 642 reine Sexualdelikte gegeben, 47 Tatverdächtige wurden ermittelt. Bei sogenannten „Kombinationsdelikten“ - wenn Sexualdelikte etwa mit Diebstahl einhergingen - zählte das Bundeskriminalamt 239 Straftaten, ermittelt wurden 73 Tatverdächtige. Die meisten Verdächtigen sollen aus Nordafrika stammen, heißt es.

Die meisten Taten ereigneten sich in Hamburg auf der Großen Freiheit

Da bei einigen der Straftaten gleich mehrere Frauen betroffen waren, zählt das BKA in seiner Bilanz insgesamt 1200 Opfer sexueller Übergriffe, davon mehr als 400 in Hamburg. Die meisten Taten in der Hansestadt ereigneten sich in der Silvesternacht vor allem auf der Großen Freiheit auf St. Pauli. Auch rund um die Reeperbahn und am Jungfernstieg wurden Übergriffe gemeldet. Frauen hatten berichtet, wie sie von mehreren Männern in dem dichten Gedränge belästigt und begrapscht wurden.

Fünf Tage nach Silvester hatte die Hamburger Polizei noch von „zehn Fällen“ gesprochen, die damals als Anzeige vorlagen. Erst nach und nach meldeten sich immer mehr Opfer, die in der Silvesternacht attackiert worden waren. Viele der Opfer kamen offenbar nicht aus Hamburg und stellten die Anzeige in anderen Bundesländern. Es dauerte einige Tage, bis der Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten erkannt wurde.

BKA-Chef fordert mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung

Allein in Hamburg wurden insgesamt 243 Fälle angezeigt. Die Hamburger Polizei setzte daraufhin die Sonderkommission „Silvester“ ein, die Ende März wieder aufgelöst wurde. In Hamburg wurde bislang nur ein Verdächtiger vor Gericht gestellt. Der Mann wurde im Mai freigesprochen, weil die zwei Opfer ihn nicht wiedererkannt hatten.

Als Gründe für die ernüchternde strafrechtliche Bilanz verweist das BKA laut den Medienberichten auf fehlendes Bildmaterial und die schlechten Beschreibungen der Täter. Bei den 120 identifizierten Verdächtigen ist der Tatverdacht zum Teil offenbar nur vage.

Laut der BKA-Bilanz soll rund die Hälfte der Tatverdächtigen erst seit weniger als ein Jahr in Deutschland leben. „Insofern gibt es schon einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Phänomens und der starken Zuwanderung gerade in 2015“, wird BKA-Chef Münch zitiert. Als Konsequenz aus den Übergriffen fordert er demnach mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung bei öffentlichen Großveranstaltungen.