Hamburg. Hamburger Polizei löst die Soko „Silvester“ auf. 21 Verdächtige sollen nach Übergriffen angeklagt werden.
Es waren Taten, die ganz Deutschland aufwühlten. In der Silvesternacht belästigten, beraubten und missbrauchten junge Männer, darunter auch Flüchtlinge, massenhaft Frauen auf St. Pauli, am Jungfernstieg und auch am Kölner Hauptbahnhof. Vereinzelt kam es sogar zu Vergewaltigungen. Allein in Hamburg wurden 243 Fälle angezeigt, bei denen es 403 Opfer gab. Die Hamburger Polizei setzte daraufhin die Sonderkommission „Silvester“ ein. Jetzt – nach drei Monaten – sind die meisten Spuren abgearbeitet. 21 Verdächtige sind ermittelt, fünf sitzen in Haft. Die Soko „Silvester“ wurde wieder aufgelöst.
Der Hintergrund: Es gibt keine Erfolg versprechenden Hinweise mehr. Geschlossen sind die Akten damit jedoch nicht. Ermittler der Fachdienststelle für Sexualdelikte im Landeskriminalamt bearbeiten die Fälle weiter
Gegen alle 21 mutmaßlichen Täter, die ermittelt wurden, soll Anklage erhoben werden. „Für uns waren die Ermittlungen erfolgreich“, sagt Polizeisprecher Jörg Schröder. Fünf Tage nach Silvester hatte die Hamburger Polizei noch von „zehn Fällen“ gesprochen, die damals als Anzeige vorlagen. Erst nach und nach meldeten sich immer mehr Opfer, die auf der Großen Freiheit und am Jungfernstieg attackiert worden waren. Viele sind keine Hamburgerinnen und stellten die Anzeige in anderen Bundesländern. Es dauerte einige Tage, bis der Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten erkannt wurde. Fälle, die unmittelbar nach der Tat angezeigt wurden, gab es nur wenige. „Damit war es beispielsweise nicht mehr möglich, Fasern von der Kleidung der Täter, die beim Kontakt an den Kleidungen der Frauen hängen geblieben sind, sicherzustellen“, sagt ein Beamter. „Im Grunde gab es nur Fotos, Handyvideos und Zeugenaussagen, auf die sich die Ermittlungen stützten“, sagt Schröder.
Profi-Aufnahmen der Übergriffe halfen der Polizei
Was folgte, war eine „Sisyphusarbeit“, wie es ein Beamter sagt. Die 403 Opfer wurden, teilweise mehrmals, vernommen. „Da die überwiegende Zahl der betroffenen Frauen nicht in Hamburg wohnt, mussten Ermittler zu Vernehmungen an deren Wohnorte fahren. Doch die Beamten hatten auch einige Trümpfe in der Tasche. Es waren Aufnahmen eines professionellen Fotografen, der in der Silvesternacht an der Großen Freiheit Bilder aus dem zweiten Stockwerk gemacht hatte. Sie waren, so ein Beamter, „von bestechender Qualität“. Zudem sind es nicht nur Einzelfotos, sondern ganze Sequenzen, auf denen zu sehen ist, wie die Frauen erst umringt werden und dann flüchten.
In vielen Fällen erkannten die Opfer die Männer, von denen sie belästigt oder beraubt wurden. Damit waren die Täter aber noch nicht identifiziert. Oft hatten die Gesuchten nur Arbeitsnamen wie „schwarze Mütze“ oder „blaue Jacke“. Mehrmals hatte es deshalb Öffentlichkeitsfahndungen mit den Fotos gegeben. Mit Erfolg. Erst Anfang März konnte ein 25 Jahre alter Iraner festgenommen werden, nachdem dessen Foto in der TV-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ ausgestrahlt wurde.
Kommentar: Sokos leisten gute Arbeit
In anderen Fällen konnten Ermittler Handys orten, die Frauen bei den Übergriffen gestohlen oder geraubt wurden. Bei Durchsuchungen stellte die Polizei mehr als zehn Geräte in unterschiedlichen Wohnunterkünften und in einem Fall in einer Wohnung sicher. „Das Problem war, dass die Beschuldigten in der Regel keine Geständnisse ablegten“, sagt ein Polizist. Auch hier konnte die Soko in mehreren Fällen mithilfe der Fotos nachweisen, dass sich die Männer in der Silvesternacht auf der Großen Freiheit aufgehalten hatten. „Wir haben bei ihnen die Kleidung gefunden, die sie getragen hatten, als sie auf dem Kiez fotografiert wurden“, sagt der Polizist.
Bei den 21 Verdächtigen handelt es sich um sieben Afghanen, vier Algerier, drei Syrer, drei Iraner, zwei Marokkaner, einen Chilenen und einen Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien. „Nur in einem Fall gab es einen Zusammenhang bei den Tatverdächtigen“, sagt Schröder. „Es sind Verwandte.“ Spekulationen, dass die Taten der Silvesternacht geplant, abgesprochen oder sonst wie koordiniert gewesen seien, hätten sich laut Schröder durch die Ermittlungen „überhaupt nicht bestätigt“.
Nach den Übergriffen hatte die Polizei vor allem auf dem Kiez verstärkt Präsenz gezeigt. Teilweise waren zwei Hundertschaften rund um die Reeperbahn im Einsatz. Mittlerweile hat sich laut Schröder die Situation auf dem Kiez wieder normalisiert. Die Zahl der Taten sei wieder so niedrig wie vor Silvester, sagt Schröder. „Normalisiert“, das heißt aber auch, dass der Kiez weiter ein Brennpunkt für Kriminalität in Hamburg ist. Fast 24.000 Straftaten gab es voriges Jahr allein in diesem Stadtteil. Am Wochenende sind häufig mehr als 100 Polizisten gleichzeitig im Einsatz, die über ein eigenes Lagezentrum gesteuert werden.
Im Gespräch war auch die Rückkehr der Videoüberwachung, die schon 2006 auf dem Kiez gestartet und im Juli 2011 eingestellt worden war, weil durch Gerichtsurteile die Einsatzmöglichkeiten für die zwölf Kameras eingeschränkt wurden. Zuletzt waren durch deren Aufnahmen nur noch 5,3 Einsätze pro Monat ausgelöst worden. Zu Beginn der Überwachung waren es mehr als 300. Die Silvester-Übergriffe haben zu einem Umdenken geführt: „Anlassbezogen“ wird Videoüberwachung wieder eingesetzt. Dabei setzt die Polizei vor allem mobile Kameras ein.