Ihren eigenen Laden muss Jennifer Hinze heute schließen. Doch ab 1. August übernimmt sie die Leitung des Cafés Entenwerder 1.

Kleinigkeiten nur. Kaum wahrnehmbar. Ein Kissen, das nicht mehr auf der Bank liegt. Ein paar Flaschen Olivenöl, die nicht mehr im Regal stehen. Ein paar Kaffeebecher, die fehlen. Sonst ist alles wie sonst, wie immer. Es gibt keine gepackten Umzugskartons, keine leer geräumten Schränke, keinen Abschiedsbrief im Schaufenster. Nichts, was darauf hindeutet, das heute kein Tag wie sonst ist. Kein Tag wie immer. Sondern der letzte Tag. Der letzte Tag von Grete Schulz, dem veganen Feinkostgeschäft mit angeschlossenem Café am Stellinger Weg. Dem Laden, den Gründerin Jennifer Hinze (35) vor sieben Monaten, am 6. Dezember 2015, eröffnet hat – und den sie heute schließt. Endgültig.

Denn eigentlich ist Grete schon seit Montag geschlossen. Zu. Weil die Mitarbeiter ihren Resturlaub genommen haben. Weil es sich nicht gelohnt hätte, ihnen die Stunden auszuzahlen. „Das hätte mich mehr gekostet, als ich unter der Woche an Umsatz gemacht hätte“, sagt Jennifer und fügt hinzu, dass das ja schon seit langer Zeit so gehe. Dass das Geschäft in der Woche schlecht sei, nur sonnabends und sonntags funktioniere.

Deswegen macht sie heute, am Sonnabend, aber nicht noch mal auf. Nicht wegen des Umsatzes. Wegen des Geschäftes, des Geldes. Sondern wegen der Kunden, ihrer Kunden. Von denen sie sich richtig verabschieden will. Bedanken will. Für sieben tolle Monate. Nicht mit einem Zettel an der Ladentür oder einer Nachricht auf Facebook. Sondern direkt. Persönlich. Und das geht eben am besten an einem Sonnabend. Wenn die meisten Leute Zeit haben, die meisten Kunden kommen. Und fast alle am nächsten Tag ausschlafen können. Denn bei der „Kartoffelsalat & Kuchen-Party“, die Jennifer für den Abschied geplant hat und die ab 17 Uhr steigt, gibt es keinen Ladenschluss. „Ende ist erst, wenn alle gegangen sind“, sagt Jennifer, die das Ende von Grete spaßeshalber „Grexit“ nennt. Wenn schon Ende, dann richtig. Aber bitte ohne Tränen. Das sagt sie in diesen letzten Tagen immer wieder. Nicht zu sich selbst, wie man vermuten könnte, sondern zu den anderen, die manchmal mehr leiden als sie. Sie sagt, dass sie generell nicht weint.

Als sie gerade Kuchen backt, bekommt sie einen Anruf

Wenn es um Grete geht, leidet Jennifer nicht, trauert nicht. Bedauert nicht. Nichts. Wer sie so wahrnehme, der habe ein falsches Bild von ihr. Und dann sagt sie etwas, das man zuerst einmal nicht versteht. Dass Grete nicht zu Ende geht. Sondern zu Ente. Sie betont das „t“. Sie hat lange über diesen Satz nachgedacht. Weiß, dass man ihn erst mal nicht versteht. Dass sie ihn erklären muss, um ihn zu verstehen. Ihn. Und sie.

Die Geschichte hinter der Geschichte, hinter dem Satz, beginnt vor nicht einmal zwei Wochen. Es ist ein Dienstag. Der Dienstag, nachdem Jennifer Hinze zwei Tage zuvor im Abendblatt das Ende von Grete Schulz verkündet hat. Weil das Geschäft montags geschlossen war, geht sie erst Dienstag wieder in den Laden. Irgendwann, als sie gerade Kuchen backt und Kunden bedient, bekommt sie einen Anruf. Sie hat keine Zeit, richtig zuzuhören. Zu verstehen, was die Frau am Telefon will. Sie spricht davon, mit Jennifer zusammenarbeiten zu wollen.

Doch was sie damit meint, das versteht Jennifer zu diesem Zeitpunkt nicht. Noch nicht. Sie denkt an ein Cateringunternehmen, irgendwas, was eh nicht für sie infrage kommt, und bittet die Anruferin, ihr eine E-Mail zu schreiben. Es dauert nur ein paar Minuten, bis sie diese bekommt. Doch Stunden, bis sie diese lesen kann. Und bis nichts mehr so ist wie vorher. Bis sie sich so fühlt wie damals, als alles begonnen hat. Damals, im Juli vergangenen Jahres, als sie das leer stehende Ladenlokal am Stellinger Weg besichtigte und die U-Bahn hörte, das Vibrieren unter den Füßen spürte. Als ihr klar wurde, welches Potenzial in dem Geschäft steckt. Und als sie beschloss, zu springen. Sich selbstständig zu machen.

Ein Jahr ist seit jenem heißen Sommertag vergangen, doch an dieses Gefühl, die Aufregung, Begeisterung, kann Jennifer sich noch genau erinnern. Weil sie genau das Gleiche jetzt wieder gefühlt hat. Als sie die E-Mail gelesen, als man ihr einen Job angeboten hat.

Es ist nicht das erste Angebot, das sie bekommen hat. Nicht das erste Vorstellungsgespräch, das sie in den vergangenen Wochen geführt hat. Aber es ist das erste, das dieses Gefühl in ihr auslöst. Dieses Gefühl, das sie hatte, als es um den Aufbau des Ladens ging. Ihres Ladens. Ihres Lebens. Ihrer Existenz.

„Ich bin kein Egomane, der nur sein eigenes Ding machen will“

Jetzt geht es um einen anderen Laden. Ein anderes Café. Das Café eines anderen. Trotzdem ist die Aufregung so groß wie damals. „Ich bin ja kein Egomane, der nur sein eigenes Ding machen will“, sagt Jennifer. Ihr gehe es um die Sache. Um die Umsetzung eines guten Projektes. Egal, wer dahinterstecke. „Es spielt keine Rolle, wem der Laden gehört. Sondern für was der Laden steht“, sagt Jennifer. Immer wieder wird sie von anderen gefragt, ob es sie gar nicht stört, nicht mehr Chef zu sein. Meistens schüttelt sie dann den Kopf. Nicht, um die Frage zu verneinen. Sondern aus Unverständnis, dass die Leute so etwas von ihr denken. „Mir ging es nie darum, das Sagen zu haben. Sondern mit einem guten Team ein gutes Projekt umzusetzen.“

So hat es angefangen: Jennifer Hinze im Oktober auf der Baustelle des
Ladens. Zwei Monate später, am 6. Dezember, wurde Grete Schulz eröffnet
So hat es angefangen: Jennifer Hinze im Oktober auf der Baustelle des Ladens. Zwei Monate später, am 6. Dezember, wurde Grete Schulz eröffnet © HA | Michael Rauhe

Ihr neues Team hat Jennifer Hinze schon kennengelernt. Zweimal war sie in dieser Woche schon da, ist mit der Bahn nach Rothenburgsort gefahren und von dort den Rest zu Fuß gegangen, rund 15 Minuten, fast immer geradeaus, den Billhorner Deich runter, bis man ans Wasser kommt. Hier liegt Entenwerder 1. Ein Ponton mit Café, Segelschule und einem ausrangierten goldenen Kunst-Pavillon. Initiator des Projekts ist Thomas Friese (72), Gründer des Hamburger Mode-Unternehmens Thomas-i-Punkt.

Als er vor zwei Wochen im Abendblatt von dem Aus für Grete Schulz liest, schreibt er sofort eine SMS. „Ich habe das Gefühl, das ist die Richtige“, heißt es in der Nachricht an seine Tochter Alexandra Friese (49), die daraufhin Kontakt zu Jennifer aufnimmt – und am Telefon erst mal abgewimmelt wird, weil Jennifer gerade wenig Zeit hat. Sie bleibt dran, schreibt eine E-Mail, telefoniert noch mal mit ihr. „Wir hatten einfach das Gefühl, dass Jennifer zu uns passt“, sagt Alexandra Friese, die die Pläne für Entenwerder 1 gemeinsam mit ihrem Vater vorangetrieben und umgesetzt hat.

Bereits 2006 war Thomas Friese auf einen 200 Meter langen ehemaligen Zollanleger unweit der Elbbrücken aufmerksam geworden, hatte eins der darauf stehenden kleinen Gebäude als kreativen Rückzugsort gemietet – und Pläne für das Areal am Entenwerder Park geschmiedet.

Zehn Jahre später ist aus der Vision Wirklichkeit geworden. Es gibt die Segelschule „Entenwerder Elbpiraten“, in der Kinder und Jugendliche aus dem Stadtteil kostenlos Segeln lernen können – und das Entenwerder Elbcafé, dessen Leitung Jennifer Hinze übernehmen wird. In knapp vier Wochen schon, am 1. August. Wenn sie Grete Schulz abgewickelt hat. Dass Jennifers eigener Laden nicht lief, stört die Eigentümer von Entenwerder 1 nicht. „Das sehen wir vollkommen wertfrei, dass sie mit ihrem eigenen Kram gescheitert ist. Viel wichtiger ist doch, dass sie nach vorne schaut, lösungsorientiert arbeitet und menschlich angenehm ist“, sagt Alexandra Friese und formuliert es dann noch deutlicher: „Wir brauchen keine Gastro-Geschäftsfrau. Sondern jemanden, mit dem wir uns austauschen können. Der hinter unserer Vision steht und unsere Ideen umsetzt. Das war Schicksal! So jemanden hätten wir nie über eine Stellenanzeige finden können.“

Jennifer soll Leiterin des Cafés werden

Dass ausgerechnet sie das werden soll, kann Jennifer manchmal selbst kaum glauben. „Der Job ist so abgefahren cool, das gibt es einfach nicht“, sagt Jennifer und lacht. Dann wird sie ernst. Sagt, dass dieses Angebot ganz deutlich zeige, dass es im Leben nicht darum geht, ob man „scheitert“. Ob man etwas nicht schafft. Sondern wie man damit umgeht. „Wenn ich mein Geschäft nicht gegründet hätte und der Laden nicht pleitegegangen wäre, würde ich heute noch in der Bank arbeiten. Dann hätte ich nicht nur die geniale Zeit mit Grete verpasst – sondern niemals so eine Chance wie jetzt bekommen.“

Jennifer soll Leiterin des Cafés werden. Auch wenn sie sich selbst nicht so nennen würde, eher als gute Seele vor Ort bezeichnet. Trotzdem, oder gerade deswegen, hofft sie auf eine Portion Mitbestimmungsrecht. Sie würde gerne ein paar vegane Kuchen mit ins Sortiment aufnehmen. „Ein veganes Gericht steht jetzt schon mit auf der Speisekarte, warum also nicht auch ein Kuchen?“ Es ist eigentlich keine Frage, sondern ein Statement. Ein Vorsatz.

Es gibt noch einen Vorsatz, einen von Vater und Tochter Friese. Mit Entenwerder 1 will die Familie kein Geld verdienen, sondern dem Stadtteil etwas Gutes tun, etwas zurückgeben. „Wir sind ein Non-Profit-Betrieb!“, betont Alexandra Friese. Wenn Überschuss gemacht werde, fließe der in gemeinnützige Projekte – wie beispielsweise die Segelschule. „Natürlich muss sich der Betrieb decken. Aber da die Einnahmen und Ausgaben jetzt schon nach einem Jahr ausgeglichen sind, wird das hoffentlich auch in Zukunft so sein“, so Alexandra Friese, die angekündigt hat, eine „stehende Telefonleitung“ zu Jennifer in Entenwerder aufzubauen. Sie selbst ist Geschäftsführerin bei Thomas-i-Punkt, verbringt sechs Tage pro Woche in der Zentrale an der Mönckebergstraße und ist selten in Rothenburgsort.

Ente gut, alles gut

Das übernimmt Jennifer für die Frieses. 45 Stunden in der Woche soll sie vor Ort sein, aber sie ist sich jetzt schon sicher, dass sie mehr arbeiten wird. „Das Projekt ist einfach so toll, dass ich mich abends bestimmt nicht losreißen kann“, sagt sie und fügt noch ein Wortspiel hinzu, das sie sich in den letzten Tagen ausgedacht hat. Grete geht baden.

Klingt nach Ente gut, alles gut. Um mal bei den Anspielungen auf Jennifers neuen Arbeitsplatz in Entenwerder zu bleiben. Doch auch wenn sich jetzt viel um Jennifers Neuanfang dreht – die Geschichte von Grete Schulz ist noch nicht zu Ende. Nicht, so lange Jennifer noch keinen Nachfolger für den Laden gefunden hat. Nicht, so lange ihr Mietvertrag läuft, sie jeden Monat 1475 Miete zahlen muss. Nicht, so lange die Rückzahlung des Kredits noch ungeklärt ist. 80.000 Euro hatte Jennifer für Renovierung, Umbau und Einrichtung des Laden aufgenommen. Ob und wie sie das Geld nach der Schließung von Grete Schulz zurückzahlen muss, wird derzeit geklärt. Solange die Gespräche mit der Bank noch laufen, soll sie lieber dazu nichts sagen. Hat man ihr geraten.

Es ist ungewohnt für sie, nicht offen sprechen zu können. Schließlich ging es ihr von Anfang an genau darum. Offen zu sein, ehrlich. Ungeschönt zu sagen, wie das Geschäft läuft. Und jetzt das! Sie versucht, etwas zu sagen, ohne zu viel zu sagen: „Wir verhandeln derzeit mit der Bank, welche Optionen es gibt. Welche Möglichkeiten es gibt, wenn ich den Kredit nicht voll zurückzahlen kann. Wenn es eine Differenz zwischen dem Betrag gibt, den ich aufgenommen habe – und dem, den ich durch den Verkauf des Ladens reinbekomme und tilgen kann“, sagt Jennifer Hinze.

Möglich wäre, dass die Bank einen Teil der Rückzahlung erlässt. Oder man sich auf eine Rückzahlung in Raten einigt. So die Theorie. Den Gründerkredit Startgeld hat Jennifer über ihre Hausbank bekommen. Das Besondere: Die Hausbank leitet den Kredit durch und wird von der Kreditanstalt für Wiederaufbau in erheblichem Umfang von den Risiken entlastet. Diese Risikoübernahme erleichtert Existenzgründern den Zugang zu einem Gründerkredit, der von vielen anderen Banken aufgrund des schwer zu kalkulierenden Risikos sonst nicht genehmigt werden würde.

Konkret heißt das: „Die KfW nimmt der Hausbank 80 Prozent des Kreditrisikos ab“, sagt Wolfram Schweickhardt, Sprecher der KfW. Wenn es zu einer Kreditschuld kommt, die nicht gedeckt werden kann, übernimmt die KfW 80 Prozent davon und die Hausbank 20 Prozent. Die Verhandlungen führt der Kreditnehmer ausschließlich mit seiner Hausbank. „Unserer Erfahrung nach hat eine Bank vor allem ein Interesse daran, ihre Forderungen zurückzuerhalten, und nicht, einen gescheiterten Gründer in den Ruin zu treiben. Sie sucht daher in der Regel nach einer für alle Seiten verträglichen Lösung“, so Schweickhardt. Er weiß nicht, wer Jennifer Hinze ist. Aber er weiß, wie wichtig Gründer für die Volkswirtschaft sind, für die Gesellschaft. Und das man sie unterstützen muss. Auch wenn einige scheitern.

Grete ist bald Geschichte. Jennifers aber geht weiter, auch ohne den Laden. Ein bisschen von Grete bleibt trotzdem. Sie hat ein paar Kaffeebecher aus Bambus mit aus dem Laden genommen, ein Milchaufschaumkännchen, ein Kissen. Und sie hat das Logo auf ihren Arm tätowiert. Zwei sich kreuzende Blätter. Grete geht zu Ente. Jetzt versteht man, was Jennifer damit meint. Sie hat übrigens noch ein Tattoo, auf dem Rücken, seit acht Jahren schon. Es sind zwei Enten.