Hamburg. Mitten im Wohngebiet treffen sich Hunderte, um gemeinsam zu chillen. Anwohner sind genervt und werfen mit Eiern und Wasserbomben.

Eigentlich sei es am Anfang ja eine witzige Idee gewesen, sagt Christiane Hollander. Es sei doch schön, sich auch mal draußen einfach auf der Straße zu treffen und dort sein Bier mit Freunden zu trinken, dachte die Rechtsanwältin von "Mieter helfen Mietern". Doch irgendwann sei die Sache aus dem Ruder gelaufen. An manchen Tagen habe sie schon 300 Leute gezählt. „Das Maß des Erträglichen ist überschritten.“

Die Rede ist vom sogenannten „Corner“. So nennen überwiegend junge Leute die Straßenecke mitten in einem Wohngebiet auf St. Pauli, wo Neuer Pferdemarkt, Wohlwillstraße, Thadenstraße und Beim Grünen Jäger zusammenlaufen. Die Ecke ist zum „Szenespot“ geworden, zum beliebten Treffpunkt. Täglich treffen sich hier in den Abendstunden junge Menschen, um gemeinsam ihr Feierabendbier zu trinken, sich auszutauschen oder auch mal Musik zu hören. Inzwischen hat sich sogar ein eigenes Verb für diese Art der Freizeitbeschäftigung etabliert: „cornern gehen.“

Neu ist das Phänomen nicht

Ein Begriff, der in diesem Kontext bereits in einer soziologischen Fallstudie aus dem Jahr 1943 auftaucht. In seinem Werk „Die Street Corner Society“ beschreibt William Foote Whyte beispielsweise das Leben italienischer Immigrantengruppen, das sich meist an bestimmten Straßenecken abspielte. Auch die amerikanische Hip-Hop-Kultur nahm den Begriff auf, wenn sich rivalisierende Breakdance-Crews aus der New Yorker Bronx am „Corner“ trafen, um sich zu messen.

Neu ist das Phänomen „Corner“ auch auf St. Pauli nicht. Die Kreuzung an der Straße Beim Grünen Jäger ist bereits seit Jahren ein beliebter Treffpunkt. Doch so viele Menschen wie in den vergangenen Wochen wurden dort noch nie gezählt. Was vor ein paar Jahren mit ein paar wenigen begann, ist inzwischen ein Massenphänomen geworden. Je besser das Wetter, desto mehr kommen. „Die Getränke sind günstiger als in Bars“, sagt der 27-jährige Ansgar. Vor allem im Sommer sei es draußen schöner als in den dunklen Kiezkneipen. „Man kann hier super Freunde und Bekannte treffen“, findet die 23 Jahre alte Sabrina.

Vor allem an den Wochenenden herrscht am „Corner“ Festival-Stimmung. Nicht hingegen bei den Anwohnern und Gastronomen. Sie sind genervt, fühlen sich von Polizei und Behörden im Stich gelassen. Mehrfach hätten sich Nachbarn bei ihr beschwert, sagt Christiane Hollander von „Mieter helfen Mietern“. Dabei handle es sich um alteingesessene St. Paulianer, die sonst sehr tolerant seien und sich noch nie über irgendetwas beschwert hätten. Aber auch für sie sei der Corner mittlerweile eine „unglaubliche Belästigung“. „An manchen Tagen kommt man weder zu Fuß, noch mit dem Fahrrad durch“, so Hollander. Am nächsten Tag seien Straße und Gehweg häufig mit Glasscherben übersäht.

Eier und Wasserbomben fliegen

Manche Anwohner greifen offenbar zu drastischen Maßnahmen. Zeugen berichten von einer älteren Dame, die mit einem Wasserschlauch versucht haben soll, die Menge vor ihrem Haus zu vertreiben. Auch Eier und Wasserbomben seien schon geflogen, heißt es. Gebracht hat es nichts.

„Es werden von Monat zu Monat mehr Menschen“, sagt ein Gastronom aus der Umgebung. Zuletzt habe er 400 Leute gezählt. Er ist überzeugt: „Würden dort jeden Abend 300 Punks trinken, wäre die Polizei schon mit dem Wasserwerfer angerückt.“ Er kann nicht verstehen, warum weder Polizei noch Bezirk sich des Problems annehmen.

Dabei ist beiden die Problematik des "Cornerns" bekannt. Sowohl Bezirk, wie auch Polizei bestätigten auf Abendblatt-Anfrage, es gebe eine „Beschwerdelage“. „Wir beobachten die Situation“, sagte Polizeisprecher Andreas Schöpflin. Sobald die Lageerhebung abgeschlossen sei, wolle man entscheiden, wie man auf diese Situation reagieren werde.

Sind die Kioske Schuld an der Misere?

Die Schuld an der Misere sehen Gastronomen vor allem bei den ansässigen Kiosken, die viele der Feiernden mit günstigem Alkohol versorgen und sie aus den Bars auf die Straße locken würden. „Als Gastronomiebetrieb müssen wir hohe Auflagen erfüllen. Ein Kiosk braucht nicht einmal Toiletten“, empört sich ein Betreiber. Die Leidtragenden seien die Anwohner. Oft würde sogar der Kinderspielplatz als Toilette missbraucht.

Das Bezirksamt Hamburg-Mitte kündigt auf Nachfrage an, die Kioske erneut überprüfen zu wollen. Bei entsprechenden Feststellungen, wie nicht genehmigter Außengastronomie oder aufgestellten Lautsprecher, werde man gewerbe- und ordnungsrechtliche Maßnahmen ergreifen. „Beim Verhalten der sogenannten Cornergemeinde handelt es sich jedoch um eine gesellschaftliche Entwicklung“, so Bezirkssprecher Norman Cordes. Dem Bezirksamt stünden keine rechtlichen Möglichkeiten für Maßnahmen gegen diese Entwicklung zur Verfügung. Heißt übersetzt: Das Trinken auf der Straße ist nicht verboten. „Wenn es zu verkehrs- oder strafrechtlichen Verstößen kommen würde, wäre dies in erster Linie eine polizeiliche Angelegenheit.“ Aber die will ja erst einmal beobachten.