Hamburg. Die Antwort darauf ist überraschend profan, wie Juliane Kmieciak und Michael Rauhe (Fotos) beim Besuch der Centrum-Moschee erfuhren.
Coban Tamer fällt auf die Knie, beugt sich nach vorn und bleibt im Vierfüßlerstand stehen. „So, liebe Schüler, auf welches Körperteil müsst ihr jetzt gucken?“ Kichern, Gackern, Tuscheln. Eine traut sich dann doch: „Auf den Popo.“ Tamer befreit sich aus seiner Lage und sagt: „Genau, auf den Popo. Und deshalb sollen die Frauen bei uns nicht mit den Männern zusammen beten. Das würde die Männer nämlich vom Gebet ablenken, und auch die Frauen wären mit den Gedanken woanders.“
Die vierte Klasse einer Hamburger Grundschule ist an diesem Vormittag in die Centrum-Moschee an der Böckmannstraße in St. Georg gekommen, um mehr über die Religion zu erfahren, von der die Erwachsenen im Moment so oft reden und wegen der es sogar manchmal Streit gibt. Heute dürfen sie mal alles fragen, was sie interessiert: Wieso gibt es diese Türme? Wieso stehen Muslime nachts auf und beten? Warum essen einige Mitschüler jetzt den ganzen Tag über nichts?
Schülern, aber auch Erwachsenen die Moschee und die Religion näherzubringen ist hier für Sozialarbeiter und Gemeindemitglied Coban Tamer Tagesgeschäft. Das gehört zum Selbstverständnis der Moschee. Gerade jetzt, wo der Islam so sehr im Fokus steht wie lange nicht mehr. Jeder darf immer kommen, sich umsehen und Fragen stellen – nur so, sagen die Mitarbeiter, können Ängste abgebaut werden.
Die Centrum-Moschee ist die größte der rund 60 Moscheen in Hamburg. Und im Unterschied zu vielen anderen als eine solche erkennbar – mit Kuppel und Minarett und Halbmond auf dem Dach. Luxus im Vergleich zu den Hinterhof- und Tiefgaragen-Moscheen um die Ecke. Und im Grunde könnten Passanten hier einfach reinschauen und sich umsehen. Doch das kommt nur selten vor. Und so bleibt es meist bei den Bildern im Kopf und was man vom Hörensagen über Moscheen zu wissen glaubt: ein Gebetsraum mit einem Teppich auf dem Boden und einer Art Kanzel, auf der der Imam steht und aus dem Koran vorliest. Die meisten haben auch schon gehört, dass man sich hier die Schuhe ausziehen soll und dass Frauen und Männer getrennt voneinander beten. Und dann war es das auch meistens schon mit den Bildern.
In der Tat ist der Gebetsraum mit Teppich, Säulen und Mosaiken an den Wänden Mittelpunkt und Taktgeber der Moschee. Aber drum herum hat sich über die Jahre eine beeindruckende Infrastruktur entwickelt. Eine Art Rundum-Service-Maschine für Muslime: Innerhalb des Gebäudekomplexes befinden sich ein Supermarkt samt Einrichtungs- und Kleiderabteilung, ein Reisebüro, ein Buchladen, ein Bestattungs-, Wohlfahrts- und Frauenverein, ein Restaurant, ein Friseur, Jugendgruppen, Koranschule, ein Pilgerservice, und so weiter. Fehlt nur noch, dass auch Wohnungen in der Moschee vermietet werden würden, dann gäbe es gar keinen Grund mehr, das Gelände zu verlassen.
Niemand muss Mitglied sein, das Geld kommt aus Spenden
„Das Verständnis einer Moschee ist in Europa viel stärker als im Ausland das eines Kulturzentrums und einer Begegnungsstätte“, sagt Mehmet Karaouglu, Vorsitzender der Centrum-Moschee und des Verbunds der Islamischen Gemeinden Norddeutschlands. Wie viele Menschen genau sein Kulturzentrum nutzen, ist unklar. Niemand muss Mitglied sein oder einen finanziellen Beitrag leisten, um an den Aktivitäten teilzunehmen. Finanziert wird die Moschee ausschließlich über Spenden. Davon werden auch die rund 40 Menschen bezahlt, die hauptamtlich hier tätig sind. Als Kassenwart, Büroleiter, Imam, Referenten und vieles mehr. Aber die Spenden allein würden nicht reichen, um das Programm am Laufen zu halten. „Ohne das Engagement von Hunderten Ehrenamtlichen würde hier nichts gehen“, sagt Karaouglu.
Einer von ihnen ist Sacit Dizman. Der 38-Jährige mit den roten Haaren ist eigentlich Unternehmensberater, kümmert sich aber nebenher um die Öffentlichkeitsarbeit in der Moschee. Dizman kam als Sohn türkischer Eltern schon im Babyalter nach Hamburg. Die Moschee ist sein zweites Wohnzimmer. Schon seine Eltern waren hier aktiv. Dizman kennt die meisten hier seit Kindertagen, viele aus dem Religionsunterricht, der hier am Wochenende angeboten wird.
Dizman macht die Öffentlichkeitsarbeit aus Überzeugung. Sein Ziel: „Ich möchte der Gemeinde und der Stadt, die mich hier aufgenommen haben, etwas zurückgeben.“ Er will vermitteln, dass die Moschee nichts Fremdes ist, sondern ein Teil der Gesellschaft. Und zwar ein wichtiger, gerade auch, wenn es um die Themen Radikalisierung und Islamismus geht. „Gute Koranschulen sind wichtig, um die jungen Leute gegen jede Form von Radikalisierung immun zu machen. Die Islamisten kommen deshalb nicht aus den Moscheen, sondern haben ihr Pseudo-Wissen von Scheingelehrten im Internet“, sagt Dizman.
Für ihn wird die Tätigkeit in der Moschee an manchen Tagen zum Hauptjob. Um Gästen eine Führung zu geben, nimmt er sich auch mal einen ganzen Tag Zeit. Auch wenn er heute etwas müde ist. Derzeit ist der Fastenmonat Ramadan, und dann sind die Nächte kurz. Gestern Fastenbrechen um 22 Uhr, dann noch etwas beisammensitzen und um halb vier schon wieder raus zum Morgengebet. Und seitdem kein Essen und Trinken. Aber es ist ja nicht das erste Mal, und auch dieses Mal wird er durchhalten. Händeschüttelnd und grüßend führt er durch seine Moschee.
Supermarkt, Reisebüro und Friseur: alles unter einem Dach
Zuerst ein Abstecher in den Lindenbazar, der sich in dem angeschlossenen Nebengebäude befindet. Der vordere Bereich ist eine Art Gemischtwarenladen für Islambedarf aller Art. Von der Fladenbrot-Backmaschine über Mokkakannen, Wandteller mit arabischen Schriftzeichen bis zur neuesten Kopftuchmode für die moderne Muslima und vieles mehr. Weiter hinten geht es zum Supermarkt; „der größte multi-ethnische Supermarkt“, wie Geschäftsführer Mustafa Öktem erklärt. Dort ist gerade jetzt im Ramadan viel los. Einkaufen für das Festmahl am Abend. Der unangefochtene Kassenschlager: Datteln. „Die liefern viel Energie und eröffnen in der Regel das tägliche Fastenbrechen nach Sonnenuntergang“, sagt Öktem. Rund 5000 Produkte stehen hier in den Regalen, die meisten sind türkisch, arabisch oder südländisch: frisches Halal-Fleisch, Halal-Haribo, Konserven, Gemüse und Obst – zu Preisen, bei denen die Konkurrenz eigentlich längst pleite sein müsste. Und so haben auch viele Nicht-Muslime den Supermarkt für sich entdeckt.
Der Lindenbazar ist genau wie die anderen Geschäfte Untermieter der Moschee und damit eine wichtige Einnahmequelle. Ein anderer Untermieter ist Mehmet Karakas mit seinem Herren-Friseursalon. Und der hat wenig gemein mit den Friseursalons à la cut and go. Das, was der kleine Mann mit dem grauen Bart hier seit 2004 anbietet, ist traditionelle Handwerkskunst. Der 50-Jährige arbeitet mir Rasiermessern, Pinseln, Feuer – und mit Fäden.
Gerade fixiert er einen Baumwollfaden mit dem Mund und wickelt ihn dann mehrere Male um die Finger, bis sich daraus ein Kreuz bildet. Damit fährt er nun in schnellen Bewegungen über den Bart des Kunden und entfernt so entlang einer geraden Linie die Härchen. Dem Gesichtsausdruck des Mannes nach zu urteilen eine recht schmerzhafte Angelegenheit. „Hält aber länger“, versichert Karakas.
Zwei Etagen drüber klopft es bei Erkan Yüksekkaya an der Tür. Eine Frau tritt ein und fragt nach Mekka-Wasser „für das weinende Kind“. „Leider alle, kann ich nur bestellen“, sagt Yüksekkaya. Aber Mekka-Wasser ist auch nicht sein Kerngeschäft. Sein Kerngeschäft sind Pilgerfahrten nach Mekka. Und zwar einmal die große Pilgerfahrt „Haddsch“ und die kleine Pilgerfahrt „Umra“. Die Haddsch ist für jeden Muslim, der es sich leisten kann, einmal im Leben Pflicht. Wie viele Hadsch-Reisen er verkaufen kann, wird in Saudi-Arabien geregelt. „Die Saudis bestimmen über die Kontingente der einzelnen Moscheen“, sagt er. In der Centrum-Moschee sind es 200 im Jahr. Die Reise dauert vier Wochen und kostet 4250 Euro. „Da ist dann aber auch alles inklusive“, sagt er, „Verpflegung, Reisebegleitung, Unterkunft, Ärzteversorgung.“
Als er gerade weiter ausholen will, fällt sein Blick auf die Uhr. Gleich ist es 13.30 Uhr. Jetzt kann kommen, was will: Es ist Zeit für das Mittagsgebet. Die Fenster im Gebetssaal sind weit geöffnet, der Sommerwind dämpft den Geruch nach Fuß und Schuhen und Socken. Männer liegen auf dem Boden, sitzen angelehnt an Säulen oder lesen an kniehohen Plastiktischchen im Koran. Dann kommt Bewegung in die Sache. Der Muezzin ruft von einer kleinen Erhöhung im hinteren Bereich zum Gebet, oder besser: singt zum Gebet. In muslimischen Ländern geschieht das vom Minarett aus, hier sieht man davon ab. Der Muezzin ruft nur hausintern die Gläubigen heran. Die Funktion ist dieselbe wie das Glockenläuten der Kirche.
„Handys ausschalten oder lautlos stellen, bitte“, ruft jetzt der Imam mit langem Gewand und einer Mütze in Form eines Kegelstumpfes, Fes genannt. Vor ihm stehen Hunderte Männer eng an eng in mehreren Reihen. Fest und starr wie eine Wand. Und dann folgt das immer gleiche Ritual aus Niederknien und Niederwerfen. Morgens vor Sonnenaufgang, am Mittag, am Nachmittag, am Abend nach Sonnenuntergang und in der Nacht. Die Gebete unterteilen sich jeweils in verschiedene Abschnitte, von denen einige freiwillig (sunna) und andere verpflichtend (farz) sind. Eine Gebetseinheit umfasst jeweils eine Niederknieung, eine Niederwerfung und das Rezitieren einer Sure.
Viele Flüchtlinge kommen zum Nachtgebet und Fastenbrechen
Durch die minutenlangen Wiederholungen hat das Gebet etwas Meditatives und erinnert etwas an den Sonnengruß beim Yoga. Die Frauen beten zeitgleich nebenan, lauschen der Stimme des Imam über einen Lautsprecher.
Neben einem eigenen Gebetsraum haben die Frauen in der Gemeinde auch eine Anlaufstelle für Sorgen und Nöte. Dort arbeitet Narin Yalçin als ehrenamtliche Beraterin für Kinder-, Erziehungs, Integrations- und Religionsfragen. Was für Fragen können das sein? „Zum Beispiel geht es immer wieder um den Schwimmunterricht an den Schulen. Wir können dann zum Beispiel Tipps geben, wo es Badebekleidung gibt, mit denen auch muslimische Mädchen schwimmen gehen können“, sagt Yalçin. Auch geht es darum, wie man in den Schulen das Fasten kommunizieren kann. „Bei den meisten Fragen sind Kompromisse möglich. Und wir versuchen, diese aufzuzeigen.“
Zwischen den fünf Gebeten am Tag ist es ruhig in der Moschee. Das Restaurant im Erdgeschoss hat jetzt während des Ramadan vier Wochen lang geschlossen. Die Frisierstühle im Erdgeschoss sind leer, die meisten Türen sind verschlossen. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte es auch irgendein verwinkeltes Verwaltungsgebäude mit Kantine sein. Erst Stunden später ändert sich das. Dann aber abrupt.
Als es gegen 21.45 Uhr anfängt zu dämmern, füllt sich die Moschee. Es ist Zeit für das Nachtgebet, das anschließende Fastenbrechen und das spezielle Ramadangebet (Tarawih) als Abschluss. In diesem Jahr nehmen auch sehr viele Flüchtlinge daran teil. So viele, dass die Gemeindemitglieder gebeten wurden, lieber zu Hause zu speisen, damit genug für die Geflüchteten übrig bleibt. Wieder ist der Gebetsraum proppenvoll. Die Luft ist zum Schneiden. Allahu akbar (Gott ist groß), niederknien, niederwerfen, Allahu akbar, niederknien, niederwerfen. Und immer so weiter.
Nach dem Pflichtteil leert sich der Saal binnen Sekunden. Der Hunger treibt in den Speisesaal. Dort stehen Tischreihen, eingedeckt mit Besteck, Plastiktellern und Wasserflaschen. Aus einem großen Topf schaufelt jemand Lammfleisch und Reis auf Plastikteller. Und dann geht alles ganz schnell. Teller voll, Teller leer und raus. Die Nacht ist kurz. Wer all die Leute sind, die hier das Fasten gebrochen haben, weiß Dizman nicht im Einzelnen. Viele kommen aus den Flüchtlingsunterkünften her. Das passt zum Wesen des Ramadan. „Es geht im Fastenmonat nicht nur um eine körperliche, sondern auch um eine seelische Reinigung und darum, Schwächeren zu helfen und Gutes zu tun.“
Und dann schließt die Moschee für ein paar Stunden. Bis die Sonne in ein paar Stunden wieder aufgeht. Dizman macht sich schnell auf den Weg nach Hause. Ein paar Stunden schlafen. Morgen wird er wiederkommen. Und wenn wieder jemand fragt, dann wird er die Moschee gern wieder zeigen und Fragen beantworten und erklären und hoffen, dass aus Misstrauen Vertrauen wird. „Ich wünsche mir, dass es irgendwann genauso normal ist, in eine Moschee zu gehen wie in jedes andere Gebäude.“