Was darf es sein? Vielleicht der saftige Rinderhack-Chorizo-Burger mit Manchegokäse und Kartoffelecken? Oder knusprige Falafelbällchen mit Salat? Hausgemachter indischer Käse in einer pikanten Curry-Spinatsauce? Oder doch lieber frischer Spargel mit Sauce hollandaise und gegrilltem Lachsfilet? An den Ständen im Erdgeschoss der Rindermarkthalle auf St. Pauli dampft und duftet es, Hunderte Gäste lassen sich ihr Mittagessen schmecken. Zwei Stockwerke über ihnen sitzt Mehmet Yilmaz im Speisezimmer der Mevlana-Moschee im Halbschlaf auf einem Holzstuhl und fastet.

Für den Imam hat dieser Mittwochmorgen um 3.30 Uhr begonnen. Es war noch dunkel, als er den unscheinbaren Eingang zu dem Treppenhaus aufschloss, das hinaufführt zu den Räumen seines Gotteshauses. Zum Frühgebet um 4.12 Uhr kamen vier Besucher. Danach schloss Yilmaz ab, ging nach Hause und schlief noch ein paar Stunden, um dann die Moschee um 10 Uhr erneut zu öffnen, nun durchgehend bis ein Uhr nachts.

Vor der Morgendämmerung durfte der 67-Jährige noch etwas essen und trinken. Es gab Bulgur, eine Getreidegrütze, mit Gurkenstücken und Joghurt, „weil das nicht durstig macht“, dazu Tee. Doch seitdem muss er sich in Verzicht üben – bis zum Sonnenuntergang.

Auf dem langgezogenen, weiß gestrichenen Flur der Moschee ist es still; nur durch die geöffneten Fenster des Speisezimmers dringen Straßengeräusche. Yilmaz schlägt die Augen auf, als wir den Raum betreten. Er ist ein zierlicher Mann mit grünen Augen und säuberlich gestutztem grauen Vollbart.

Ist das Fasten nicht hart? Die Frage amüsiert ihn. „Gott sagt, man muss kämpfen, um ein anständiger Mensch zu sein“, beginnt er. Es gebe nämlich ein Problem: unser Ego. „Das Ego will immer größer werden und zieht uns in eine schlechte Richtung. Da hilft es, zu fasten“, sagt Yilmaz und grinst. „Denn dann wird das Ego schwach.“ Das trage übrigens auch dazu bei, den Blick auf Mitmenschen zu lenken, die Hilfe brauchen: „Wer hungert, der merkt, wie es den Armen geht.“

Moschee-Gründer Yilmaz kam als Monteur nach Hamburg

Es war leicht, ihn zum Gespräch zu bitten, und der Anruf wäre gar nicht nötig gewesen. „Klar, komm vorbei und schau dir alles an“, hatte er am Telefon gesagt. Am Gebet teilnehmen, morgens, mittags oder abends? Alles kein Problem. „In der Mevlana-Moschee ist jeder Tag ein Tag der offenen Tür“, sagt Yilmaz. „Dies wäre kein Gotteshaus, wenn hier nicht jeder willkommen wäre.“

Normalerweise, schätzt der Imam, kommen über den Tag verteilt etwa 75 bis 100 Gläubige, um in dem mit rot-blauen Teppichen ausgelegten Gebetsraum niederzuknien, sich gen Mekka zu verbeugen und Yilmaz’ Gebet zu lauschen oder um im Koran zu lesen – vor allem Türken, aber auch Schwarzafrikaner, Menschen aus der arabischen Welt und einige Deutsche.

Zum Freitagsgebet allerdings, welches das gewöhnliche Mittagsgebet ersetzt, drängen bis zu 400 Männer in den etwa 50 Meter langen Saal hinein. Dann streift sich der Imam einen weißen, mit goldenen Elementen verzierten Umhang über, steigt auf die tannengrüne Gebetskanzel und hält eine Predigt. Die Frauen beten in einem kleineren Saal nebenan; sie hören die Gebete und Predigten über Lautsprecher.

Yilmaz ist als Imam nicht nur der Vorbeter, sondern auch Vorsitzender des Trägervereins der Moschee mit 45 Mitgliedern sowie Hausmeister und Buchhalter. „Ich repariere, ich putze, ich koche selbst“, erzählt er. Zwar unterstützten ihn die Vereinsmitglieder, die alle ehrenamtlich mitarbeiten, und Freunde, doch zuletzt bekam Yilmaz starke Magenschmerzen – vielleicht, weil ihm die Belastung zu viel wurde. Die Ärzte checkten ihn durch, auch ein Tumor schien möglich, doch sie fanden nichts. Yilmaz kam wieder auf die Beine: „Gott hat mich gesund gemacht!“

Seit 1974 lebt er in Deutschland, 1981 kam er als Monteur nach Hamburg. Damals traf er in der Moschee an der Langen Reihe einen Imam namens Ibrahim, der ihn sehr beeindruckte. Dieser bildete ihn aus und kehrte dann in die Türkei zurück. Yilmaz gründete die Hamburger Mevlana-Moschee, die seit 1984 im Obergeschoss des Gebäudes am Neuen Pferdemarkt untergebracht ist. Das Haus gehörte erst der Plaza-Kette, dann Continent, Wal-Mart und Real. Weil ab 2010 zunächst ein Rückbau des Gebäudes geplant war, drohte der Moschee das Aus. Dann aber sanierte der neue Besitzer Edeka ab 2012 die Räume.

Zur Neueröffnung der Moschee im September 2015 kam sogar Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). Yilmaz verfügt nun über insgesamt 760 Quadratmeter und hat damit 200 Quadratmeter mehr Platz als vorher. Er ist froh – einerseits. Weil ihm die Besucher am Herzen liegen. Sechs Moscheen in der Umgebung hätten zugemacht, sagt er. „Wir aber können zum Glück weitermachen.“ Und weil es für ihn selbst so wichtig ist. „Die Moschee ist mein Leben“, sagt er. Seine Frau ist vor Jahren gestorben, seine Tochter und die drei Enkel leben in der Türkei. Sie telefonieren regelmäßig miteinander, doch er sieht sie nur selten.

Andererseits plagen den Imam ständig Geldsorgen. 5000 Euro Miete zahle er pro Monat, sagt Yilmaz. Finanzieren muss er das durch Spenden. Alle zwei Wochen legen seine Mitstreiter und er nach dem Freitagsgebet zwei Kartondeckel aus, die sich dann mit Euroscheinen füllen. An diesem Freitag möchte er abends Pizza machen und einen Teil davon verkaufen. „Dabei habe ich doch keine Ahnung von Pizza“, sagt Yilmaz. Aber er will den neuen Pizzaofen nutzen, den ihm ein türkischer Geschäftsmann aus Billstedt geschenkt hat.

„Nach dem Koran dürfen wir nicht mal eine Ameise töten“

Yilmaz muss nun zum Mittagsgebet – diesmal aber nicht als Vorbeter. Sein Lehrer Ibrahim (74) ist aus der Türkei angereist, um ihn während des Ramadan zu unterstützen. Sie teilen sie sich die fünf Gebetseinheiten pro Tag auf. Etwa 30 Gläubige erscheinen. Yilmaz kniet und verbeugt sich mit ihnen und hört mit gesenktem Kopf seinem Lehrer zu, der fast 70 Minuten aus dem Koran liest. Danach sieht Yilmaz sehr müde aus. Immer noch kein Essen und Trinken.

Hellwach wirken Louis und Eddie (beide 18), die nach ihrem Unterricht an der Stadtteilschule St. Pauli zum Mittagsgebet herübergekommen sind. Auch sie haben seit der Morgendämmerung nichts gegessen. „Fasten hilft, zur Besinnung zu kommen“, sagt Louis, der zum Islam konvertiert ist. Er sei schon vorher gläubig gewesen, erzählt er. „Doch erst beim Islam habe ich Antworten auf meine Fragen zum Sinn des Lebens gefunden.“ Es gebe zwar Menschen, die diese Religion falsch auslegten, sagt Louis. „Für mich aber bedeutet der Islam Frieden und Zusammenhalt.“

Diese Haltung hat auch Yilmaz. „Nach dem Koran darf ein Muslim nicht mal eine Ameise töten“, sagt er. Wenn islamistische Attentäter sich auf Gott beriefen, müsse man klarstellen: „Gott will das nicht!“

Zum Abend hin scheint sich der Imam auf wundersame Weise erholt zu haben; die Ringe unter seinen Augen sind verschwunden. In der Küche erwärmt Frau Bütün (65) eine türkische Nudelsuppe; der Duft strömt durch die Moschee. Yilmaz verteilt zwei Schüsseln mit Salat, Peperoni und dazu Brot auf den Tischen.

Jetzt noch die letzte Andacht vor dem Fastenbrechen. Im Gebetsraum hat sich die Wärme des Tages angestaut, das Thermometer zeigt 24 Grad an. Draußen rauscht der Feierabendverkehr vorbei. Etwa 20 Gläubige sind gekommen. Sie stehen in einer Reihe vor der mit blau-roten Fließen ausgekleideten Gebetsnische, sie knien nieder, verbeugen sich, stehen wieder auf – gelobt sei Allah.

Es ist dunkel geworden. Endlich beginnt das Mahl. Yilmaz verteilt mit einer großen Kelle erst die Suppe, dann Bulgur mit Lammfleisch und Kichererbsen, dazu gibt es den Salat und Tee. Sie essen schweigend. Einige schlingen. Es kostet sie keinen Pfennig. Keiner muss sagen, woher er stammt und warum er hier ist.

Kemal Salur (74), gebürtiger Türke und gelernter Schlosser, jetzt Rentner, kommt seit Langem regelmäßig vorbei, weil er hier Freunde trifft, wie er sagt. Semih, neun Jahre alt und damit der Jüngste am Tisch, begleitet heute seinen Vater und mag es, „dass hier so viele nette Leute sind“. Mohammad (25), Flüchtling aus Syrien mit Uni-Abschluss im Fach Englisch, sagt: „Sie behandeln mich hier mit Respekt.“

Yilmaz räumt die Teller ab. Dann zieht er sich zurück. Er ist noch bis ein Uhr nachts zu sprechen – für jedermann.