Hamburg. Noch ein Geheimtipp bei Wasserverliebten und Radfahrern. Keinen halben Kilometer von den Elbbrücken entfernt – und doch so weit weg.
Entenwerder, das klingt niedlich nach Enten und Erpeln und nach Küken, die gerade schwimmen lernen. Stimmt, die gibt es hier auch. Wie immer sitzen Angler unter den Pappeln am Ufer, auf der Bank daneben knutscht ein Liebespaar und guckt anschließend auf die Billwerder Bucht. Und auf den „goldenen“ Pavillon, der auf dem Ponton vor dem Ufer in der Sonne leuchtet.
Die begehbare Skulptur verleiht dieser Ecke mitten in Hamburgs wildem Osten einen geradezu magischen Reiz. Sie ist zwar 16 Meter hoch und elf Meter lang, sieht aber aus wie ein federleichter, transparenter Schmuckkasten, den ein verspielter Riese in die alte, transformierte Industrielandschaft gesetzt hat. Durch die Außenhaut aus goldfarbenem, gelochtem Messing kann man von drei Ebenen auf das Bille-Sperrwerk sehen, auf die Container und die Kakaofabrik gegenüber, auf den kleinen Leuchtturm an der Spitze der Elbinsel Kaltehofe. Und auf das gemütliche Café auf dem Ponton mit liebevoll bepflanzten Holzkübeln.
Entenwerder, the place to be
Café Entenwerder 1 ist inzwischen ein Geheimtipp bei Wasserverliebten und Radfahrern, die auf dem durchgehenden Radweg von den Deichtorhallen aus unter den Elbbrücken hindurch in den Elbpark Entenwerder kommen. Auf dem Uferweg mit Namen Alexandrastieg, benannt nach der Schlagersängerin mit der rauchig-dunklen Stimme, die mit „Mein Freund, der Baum“ und „Zigeunerjunge“ berühmt wurde und 1969 tödlich verunglückte. Sogar bis Tatenberg könnten die Radfahrer weiterfahren. Viele bleiben allerdings hier kleben, fotografieren, klettern im Pavillon herum und landen dann auf den Gartenstühlen beim Kaffee oder bei einem Glas Wein. Lassen die Augen übers Wasser gleiten oder senden Handyfotos an Freunde: Guckt mal, Entenwerder, the place to be.
2007 war der goldene Pavillon, geschaffen vom jungen Architekten-Duo Jan Kampshoff und Marc Günnewig von modulorbeat, eine Attraktion der Ausstellung „Skulptur Projekte Münster“. Nach 100 Tagen sollte er eigentlich wieder eingeschmolzen werden. Stattdessen haben Thomas und Alexandra Friese ihn nach Rothenburgsort geholt. Der Gründer des Modeunternehmens Thomas i-Punkt und seine Tochter arbeiten seit 2007 an dem Entenwerder Ponton-Ensemble. Am Alexandrastieg, das passt ja.
Neben den beliebten Parks an Alster und Elbe spielte Entenwerder keine Rolle
Dieses Ufer am Entenwerder Park hatte Thomas Friese schon vorher fasziniert, als sich hier nur der ehemalige Zollanleger mit Holzhäuschen befand. In einem richtete er sich einen „kreativen Rückzugsort“ ein. Keinen halben Kilometer entfernt liegen die lauten Elbbrücken. Und doch so weit weg. Das Südende von Rothenburgsort scheint irgendwie von der Geschichte vergessen worden zu sein.
„Werder“ besagt schon, dass dies eine Flussinsel war. Vor 600 Jahren erwarb die Hamburger Kaufmannsfamilie Rodenborg – die Paten von „Rothenburgsort“ quasi – das Stück uneingedeichtes Weideland auf der Insel Billwerder, die von 1410 an zur Landherrenschaft Bill- und Ochsenwerder und erst ab 1894 zu Hamburg gehörte. Diese stadtnahen ländlichen Gebiete wurden nach dem Dreißigjährigen Krieg immer begehrter, weil Hamburg aus allen Nähten platzte; die Oberschicht suchte außerhalb der Stadtmauern Platz für Sommerhäuser und Lustgärten und wurde auch hier auf dem „Billwerder Ausschlag“ fündig. Als man Ende des 19. Jahrhunderts die Flusslandschaft veränderte und die Norderelbe begradigte, wurde aus dem Altarm zwischen Peute und Rothenburgsort die heutige Billwerder Bucht.
Rothenburgsort wurde 1943 nahezu entvölkert
Auf alten Fotos aus den 1920er-Jahren ist zu erkennen, dass Rothenburgsort sich sehr schnell zu einem wichtigen Teil des Hafens entwickelte. Der südliche Bereich, Entenwerder, blieb allerdings Weideland und Überflutungsgebiet. Zwei Stichkanäle nördlich davon, die sogenannten Haken, dienten als Zollhafen, den alle Schiffe passieren mussten, die in den Oberhafen und in die Speicherstadt weiterfahren wollten.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war Rothenburgsort ein dicht besiedeltes Hamburger Industrie- und Arbeiterwohnquartier. 1943 erlebte der Stadtteil buchstäblich sein Armageddon: Bei den Bombenangriffen wurde er nahezu entvölkert. Den nördlichen „Haken“ schüttete man mit Trümmern zu. Noch heute ist der Südteil von Rothenburgsort mehr Gewerbe- als Wohngebiet. 1997 ließ die Stadt den grünen Gürtel von Entenwerder als Park herrichten. Mit Spielplätzen, Grillwiese und einem Teil der erhaltenen Zollhafenmauer.
Aber neben Hamburgs beliebten Erholungs- und Sonnenparks an Alster und Elbe spielte Entenwerder so gut wie keine Rolle. Dennoch fühlte sich Thomas Friese von diesem ruhigen Fleckchen angezogen. Nur einen Kilometer entfernt liegt seine Strickerei und Näherei, in der die hauseigenen Omen-Produkte gefertigt werden. „Obwohl wir seit den 70er-Jahren hier in Rothenburgsort arbeiten, kannten wir diese Ecke zuerst selbst nicht“, sagt Friese. „Aber ich habe gespürt: Dieser Ort strahlt eine enorme urbane Kraft aus.“ Allmählich entwickelte Friese neue Ideen. Vor seinem inneren Auge entstand ein Bild: Etwas Neues in Kombination mit Altem sollte hier entstehen. „Das ganze Projekt ist gedacht als öffentlicher wie auch privater Begegnungsraum. Als eine Art neues Museum, in dem man selbst Teil der Ausstellung ist.“
Für die Ruhe und das Fließen der Gedanken sorgt an dieser Stelle die Elbe
Zur Begegnung gehört erst mal Genuss. Friese wollte nicht bloß einen Kiosk, sondern gutes Essen auf dem Ponton. So holte er eine leidenschaftliche Köchin mit ins Boot, beziehungsweise aufs Wasser: Nina Planzonja (nebenbei D-Jane). „Wir haben alle möglichen Leute in Hamburg eingeladen, von den Parkgärtnern über den Oberbaudirektor bis zur Kultursenatorin, und ihnen beim Essen von unserem Konzept erzählt.“ Die Kultursenatorin hieß damals noch Karin von Welck. Sie erlag dem Charme von Entenwerder ebenso wie später der Bezirkschef, die Behörde für Stadtentwicklung und sogar die zuerst kritische Linke-Chefin Dora Heyenn.
Für die Ruhe und das Fließen der Gedanken sorgt die Elbe – für die Ausgestaltung des Pontons sorgten die Ideen von Thomas und Alexandra Friese. Früher war der schwimmende Anleger nur über einen Steg begehbar. Jetzt erreicht man ihn über ein 100 Jahre altes Hafendenkmal: die schöne historische Stahlbrücke der „Wassertreppe 51“, die früher an einem ehemaligen Binnenschiff-Warteplatz an der Bille lag. Im September 2014 hievte ein Kran die beiden 40 Tonnen schweren Brückenbögen an ihren neuen Platz. Die Stadt Hamburg unterstützte den Plan mit einer Million Euro, die in die Dalben, in Sicherungsmaßnahmen und die Sanierung der Brücke flossen.
Im Juli 2015 eröffnete ein Café in zwei rosa Schiffscontainern
Sogar der Betonblock, der die historische Brücke stützt, wurde zum Hingucker. Auf den ersten Blick könnte man denken, hier hätte sich der berühmte britische Street-Art-Künstler Banksy verewigt, aber die Kinderfiguren im fotorealistischen Stil wurden von seinen Hamburger Kollegen Tona, Marshal Arts, HKDNS und Lieb Sein gestaltet, die sich einiges beim Meister abguckten.
Im Juli 2015 eröffnete die Familie Friese mit Nina Planzonja auf dem Ponton ein Café in zwei rosa Schiffscontainern. Tische und Bänke bestehen aus rustikalen Duckdalben. Der Public Coffee wird nebenan auf dem Zollanleger von Public Coffee Roaster geröstet, die Craft-Beer-Sorten kommen von Hamburger Kreativbrauern (Buddelship und Kehrwieder), der Wein von Wein & Boules in der Schanze, und für die Pferdebratwurst mit Sellerie-Trauben-Salat ist das Pferd wenigstens nicht umsonst gestorben. Im Winter wird auch im goldenen Pavillon gegessen. Für Wärme sorgt ein Bullerjan-Kanonenofen.
Ein Sommercamp bietet Kindern ein kostenloses Ferienprogramm
Von Anfang an wollte Friese – Vater von sieben Kindern – etwas für die Jüngsten in Rothenburgsort tun. Er gründete den Verein „Entenwerder Elbpiraten“, der die Kinder des Stadtteils ans Wasser bringt. „Viele Kinder hier wissen wenig über den Fluss und das Wasser“, sagt Alexandra Friese. Als Elbpiraten können Schulkinder der Fritz-Köhne-Grundschule jetzt mit Segeltrainer Mitja Meyer Segeln auf Opti-Jollen lernen. Ein Sommercamp auf Entenwerder bietet Kindern des Stadtteils ein kostenloses tägliches Ferienprogramm samt Verköstigung; mit der Naturwissenschaftlerin Birgit Mieding erkunden die Kinder, wie Flusswasser sauber wird, welche Tiere darin leben oder wie man Wasserschlösser baut.
Friese hat für Entenwerder „noch mehr Bausteine in der Schublade“: Er möchte eine Wassertreppe vom Park zur Elbe errichten, „damit man das Ufer direkt begehen kann. Und der 100 Jahre alte Kuhwerder Leuchtturm, der am Grevenhofkai der Hafenerweiterung weichen soll – der könnte doch als Aussichtsturm an der Spitze vom Entenwerder Park stehen ... Die Frieses stehen nicht für Leuchtturm- oder Schönwetterprojekte. Sie engagieren sich persönlich, neben dem Geschäft.
In den blauen Stunden lässt sich ein leicht melancholischer Schleier nieder
Inzwischen hängt die Nachmittagssonne tief über den Elbbrücken und zaubert lange rosa Finger über den Himmel. Das Abendrot lässt den Pavillon förmlich glühen. Die Gäste mummeln sich in die bereit liegenden Wolldecken ein. Von den nur einen halben Kilometer entfernten lauten Elbbrücken hört man kaum was. Stattdessen kommt manchmal ein Motorboot vorbei oder ein Lastenkahn, der hinter sich eine weiße Wellenschleppe herzieht.
In den blauen Stunden legt sich ein leicht melancholischer Schleier über das postindustrielle Ambiente der Billwerder Bucht. Die Angler sind fort, das Liebespaar auch. Welche Musik würde jetzt an diesen Ort passen? Vielleicht Billie Holidays „My Solitude“: Memories that never die.
Aber jetzt steigt links über den grünen und roten Positionslichtern des Bille-Sperrwerks ganz allmählich ein riesiger goldener Mond auf, der sich in den Wellen spiegelt wie der sanft beleuchtete Pavillon. Vielleicht also doch besser Neil Young mit seinem coolen, gelassenen „Harvest Moon“.
Café Entenwerder 1, 20539 Hamburg, Tel. 040-70293588; aktuelle Öffnungszeiten: Mo–Do 11–20 Uhr, Fr 11–22, Sa 10–22 Uhr, So 10–19 Uhr; http://www.facebook.com/entenwerder1/