Hamburg . Roubina aus Syrien ist eine von elf Schülern, die aus ihrer Heimat geflohen sind und jetzt hier ihre Hochschulreife ablegen.
Es lässt sich nicht mehr sagen, ob es das gute Ende einer Verzweiflungstat war, ein glücklicher Zufall oder so etwas wie Vorsehung. Roubina Berberian erinnert sich aber noch genau, wie sie weinend mit ihrem Vater im Auto saß, damals im Herbst vor fast vier Jahren. Die syrische Familie war kurz zuvor aus Aleppo nach Hamburg gekommen, und die Berater in der Schulbehörde hatten der 15-Jährigen gerade klargemacht, dass der Besuch eines Gymnasiums für sie nicht infrage komme. „Ich war verzweifelt“, erzählt Roubina. Im Vorbeifahren habe sie die Sankt-Ansgar-Schule gesehen. „Da würde ich gern mein Abitur machen, dachte ich.“
Ihr Vater stoppte das Auto. Sie betraten die Schule. Im Sekretariat wäre das Tochter-Vater-Gespann beinahe gescheitert, fast ohne Deutschkenntnisse und ohne entsprechende Papiere. Doch dann kam der Mittelstufenkoordinator vorbei. Er hörte sich Roubinas Geschichte an und gab ihr eine Chance: Sie durfte den Unterricht an der katholischen Schule an der Bürgerweide besuchen – zur Probe.
Jetzt steht Roubina kurz vor dem Abitur – als eine von elf Schülern mit Flüchtlingshintergrund in Hamburg. Wenn sie in ihrem leuchtend roten Mantel durch die Sankt-Ansgar-Schule geht, wundert man sich, wie viele der Schüler und Lehrer sie kennt. Immer wieder grüßt sie, bleibt für ein kurzes Gespräch stehen. Roubina lebt ihren Traum, das ist offensichtlich. „Ich bin glücklich hier“, sagt sie. Die letzten Abi-Prüfungen stehen ihr zwar noch bevor. Aber anders als viele ihrer deutschen Mitschüler verströmt sie Freude und Stolz, es bis hierher geschafft zu haben. „Ich habe nie aufgegeben. Das war keine Alternative“, sagt sie und wirkt in diesem Moment älter als 19 Jahre.
Mit ihren Eltern und den zwei Geschwistern war sie im Sommer 2012 nach Deutschland gekommen. In ihrer Heimat tobte da schon seit Monaten der Bürgerkrieg. „Wenn wir im Klassenraum saßen, haben wir draußen den Bombenhagel gehört“, erzählt Roubina. Sie sagt das ganz ruhig, aber in ihren Augen blitzt kurz die Angst auf, die damals alles beherrschte.
Anfangs hatte Roubina eine Extrastunde Deutschunterricht nach Schulschluss
Die Berberians sind eine armenische Familie und eine christliche, gehören der armenisch-orthodoxen Kirche an. Als sich damals in Aleppo herumsprach, dass der Flughafen geschlossen werden könnte, stiegen sie in ein Flugzeug. Ihr Ziel: Hamburg, das der Vater durch seine Tätigkeit im Handel mit Autoteilen kannte. Anfangs hätten sie noch gedacht, es sei ein Urlaub, sagt Roubina. Aber dann gab es kein Zurück. Plötzlich waren sie, die bürgerliche Mittelstandfamilie, Flüchtlinge mit befristetem Bleiberecht, Tausende Kilometer entfernt von ihrem Zuhause.
Hamburg sollte die neue Heimat sein. „Ich habe mich fremd gefühlt und sehr einsam“, sagt Roubina. Freunde, Schule, die Großeltern, die großen Familienfeste, ihr ganzes bisheriges Leben waren weit weg, unerreichbar. „Am Anfang hatte ich keine Hoffnung, wie ich es in Deutschland schaffen soll.“
Wenn Roubina sich an das Mädchen von damals erinnert, spürt man ihre Trauer über den Verlust der unbeschwerten Jugend. Aber eben auch den Mut und den Willen, ihr Leben zu meistern. Im Herbst 2012 startete sie im 10. Jahrgang der Sankt-Ansgar-Schule – und verstand erst einmal nichts. „Jeden Tag hatte ich eine Extrastunde Deutschunterricht nach Schulschluss, habe immer zehn neue Wörter gelernt und versucht, Sätze daraus zu machen“, erzählt sie.
Aus der Probeschülerin wurde eine Vorzeigeschülerin. Im folgenden Sommer legte sie ihren mittleren Bildungsabschluss ab und wurde in die Vorstufenklasse zur Oberstufe versetzt – unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen Schüler.
„Am Anfang war sie ziemlich schüchtern und hat kaum geredet“, erinnert sich die 19-jährige Sophie, eine gute Freundin. Gemeinsam sind sie durch die beiden Vorstufenjahre gegangen, pauken fürs Abitur, gehen shoppen und feiern am Wochenende. Mitschülerin Pauline sagt, Roubina sei ein Vorbild, weil sie alles so schnell lerne. „Aber noch mehr, weil sie so viel glücklicher in ihrem Leben ist als viele deutsche Jugendliche – trotz der schrecklichen Dinge, die sie erlebt hat.“ Ärger über Pickel, Streit mit den Eltern – mit so etwas halte Roubina sich nicht auf. „Sie macht etwas daraus, dass sie hier eine Chance bekommen hat.“
Roubina lächelt, wenn sie das hört. „Ich bin angekommen“, sagt sie. Nicht nur in der anderen Sprache, sondern auch in dem anderen Land, einer anderen Kultur. „Alles in Deutschland unterscheidet sich von meinem alten Leben, das Essen, die Schule, auch das Leben auf der Straße.“ Vor allem aber: „In Syrien hatte ich nicht die Freiheit.“ Das hat mit Sicherheit zu tun, aber auch mit gleichen Rechten für Frauen.
Bei Referat über Heimatstadt kamen Roubina fast die Tränen
Auch für die Lehrer ist es eine neue Situation. „Ich war bei der ersten Präsentation total verblüfft, wie ausgezeichnet und sprachlich anspruchsvoll sie das Thema gemeistert hat“, sagt ihr Geschichtslehrer Richard Lutz. Dass die Schülerin inzwischen fünf Sprachen und drei unterschiedliche Schriften beherrscht, erzählt er, nicht sie. Genauso, dass Roubina gute Chancen auf ein Stipendium für ihr Studium hat. „Sie ist unheimlich zielstrebig, aber keine Streberin“, sagt der Pädagoge.
Besonders beeindruckt hat sie ihn mit einer Doppelstunde im Rahmen des Themas „Europa und der Orient“, in der sie ihre Heimatstadt Aleppo ausführlich vorgestellt hat. Dabei zeigte sie auch drastische Bildvergleiche, die das Ausmaß der Zerstörung heute deutlich machen. „Das war nicht leicht, da stand sie kurz vor den Tränen.“
Geschichte ist Roubinas Lieblingsfach, „weil es so viel Neues zu lernen gibt über Deutschland und Europa“. In Syrien sei es immer nur um islamisch-arabische Länder gegangen. Ihr großes Vorbild ist Anne Frank, auch ein Mädchen im Exil. Für die Abiturklausuren hat Roubina wochenlang jeden Tag gebüffelt. Ende Juni ist die mündliche Prüfung in Deutsch. Und am 7. Juli ist es so weit: Dann ist die Abi-Feier.
„Ich habe so viele Chancen bekommen, so viel Unterstützung“, sagt Roubina. Auch ihr jüngerer Bruder Jack besucht inzwischen die Sankt-Ansgar-Schule. Syrien ist schon recht weit weg. Natürlich verfolgt sie die Nachrichten. Aber ihr Leben und ihre Zukunft sind erst einmal in Deutschland.
Auch wenn das für ihre Eltern nicht leicht ist. Sie leben in einer Wohnung in Eilbek. Der Vater hat sich selbstständig gemacht und versucht, eine neue Existenz für seine Familie aufzubauen. Ohne staatliche Hilfe. Die Berberians haben kein Asyl beantragt.
Nach dem Abi möchte Roubina studieren. „Vielleicht etwas mit Sprachen“, sagt sie, aber auch ein Ingenieur-Studium kann sie sich vorstellen. Auf jeden Fall möchte sie auch ins Ausland. „Im Leben gibt es nichts, was unmöglich ist“, sagt Roubina. „Wenn man wirklich will, kann man alles schaffen.“