Teil 12: Parkour ist nicht nur die Kunst der effizienten Fortbewegung mit den Fähigkeiten des Körpers, sondern auch Lebenseinstellung.

Es ist der erste Sonntag im Monat, 13 Uhr, Trainingslocation: der Geisterspielplatz im Stadtteil Hoheluft. Zwischen Mauerresten eines alten Güterbahnhofs und einer Sandkiste mit einer Spielburg aus Holzpfählen trudeln die Teilnehmer ein. Nur wenige spazieren den kleinen Weg von der Wrangelstraße zum Treffpunkt, die meisten Kerle mit Caps und weiten Jogginghosen kommen aus allen Richtungen über Mauern geklettert und über Zäune gesprungen. Die Rucksäcke werden vorangeworfen.

Wir sind hier schließlich beim Parkour, der Kunst der effizienten Fortbewegung. Von A nach B nur mit den Fähigkeiten des eigenen Körpers. „Das ist auch eine Lebenseinstellung“, sagt Basko Falkenberg. Der 21-Jährige ist der 1. Vorsitzende des Wedeler Parkour-Vereins Nandu e.V., benannt nach dem flugunfähigen Vogel. Vor Trainingsbeginn hat der Sport- und Pädagogikstudent noch ein paar Minuten Zeit, weil mal wieder einige zu spät kommen.

Er gehe mit einem Blick für Abkürzungen durch die Welt, sagt Falkenberg, egal, ob er gerade in der S-Bahn fahre oder mit Einkaufstüten von Penny komme. „Wir kennen keine Hindernisse.“ Von Städteplanern lassen sich die „Traceure“ nichts sagen. So nennen sich die Parkourläufer. „Le traceur“ ist das französische Wort für „den, der eine Linie zieht“. Frankreich gilt auch als Ursprungsland dieser Sportart.

Keine Mauer ist zu hoch für die „Traceure“, die Parkourläufer
Keine Mauer ist zu hoch für die „Traceure“, die Parkourläufer © Andreas Laible | Andreas Laible

Später mehr zur Theorie und Historie, jetzt beginnt das Training. Mit dem „Family Ritual“. Das gemeinschaftliche Warm-up im Kreis, ehe sich die etwa 30 Teilnehmer dann aufsplitten in einen Basicworkshop für Neueinsteiger sowie das Training für erfahrene Traceure. Es werden Arme, Schultern und Hüften gekreist, Beine gedehnt, Füße ausgeschüttelt und Liegestütze gemacht. Dann die Vorstellungsrunde. Name, Alter, Lieblingszahnpasta. Die meisten Lacher erntet ein Teenie-Junge mit: „Ich putz’ mir gar nicht die Zähne.“

Die Grundtechniken mit der Anfängertruppe

Die Anfängertruppe mit etwa zehn Leuten (sieben sportliche junge Männer, eine Mutter mit ihrem Sohn und die Abendblatt-Reporterin) schließt sich einem Coach an, der sich nur Sergei nennt. Erste Übung: gegen die Wand springen. Wir stehen wie aufgezogen vor einer ganz schön hohen Graffiti-Wand und sollen auf die Mauer kommen. Mit Anlauf auf die Wand zuspringen, dann quasi die Wand hochlaufen mit zwei Schritten, während man mit den Händen nach der Mauerkante greift, sich festkrallt und hochzieht. Bei Sergei sieht das babyleicht aus. Es nieselt, die Mauer ist rutschig, und ich ratsche mir gleich die Hand an der Steinmauer blutig. Ich bin die Untalentierteste, auch die Mutter und ihr kleiner Sohn kommen irgendwie auf die Mauer.

Dann Übung zwei: der Sprung von der Mauer runter (wenn man es denn auf die Mauer geschafft hat). „Man muss so leise wie möglich landen, dann landet man sicher“, sagt Sergei. „Und ihr sollt mit beiden Beinen landen – dabei abfedern wie eine Sprungfeder.“

Die letzte Basic-Technik (an der ich mich noch probiere): Präzisionssprünge. Wir springen in der verwinkelten Sandkiste mit mehreren Ebenen von einem Holzbrett zum anderen. Sergei warnt: „Sand auf den Flächen bedeutet erhöhte Schwierigkeitsstufe!“ Einige Bretter sind echt weit voneinander entfernt. Sergei rät: Mit beiden Füßen hinten schräg an die Kante springen und dann auf den Vorderfuß abfedern. „Wenn man einfach so ‘bomm’ mit dem vollen Gewicht auf dem ganzen Fuß landet, bricht man sich den Mittelfuß. Ich weiß, wovon ich rede“, merkt ein Fortgeschrittener im Vorbeigehen an. Ein älterer Passant geht kopfschüttelnd quer über den Spielplatz. „So ein Schwachsinn“, pöbelt er.

Es geht um Zusammenhalt und Freiheit

Herrje, der Senior muss es ja nicht selbst probieren. Bei denen, die es können, sieht es jedenfalls faszinierend aus. Es geht um Zusammenhalt in einer lässigen Gemeinschaft und das Gefühl von Freiheit, vor charmanten Kulissen wie den Marco-Polo-Terrassen oder der Rückseite der St.-Michaelis-Kirche. Die „Traceure“ entwickeln außerdem ein sehr gutes Körpergefühl und sind herzeigbar, drahtig mit feinen Muskeln überall. Ein Hamburger Crack wird inzwischen als Stuntman für internationale Filmproduktionen gebucht.

Wie beim Erlernen anderer Sportarten braucht man halt Geduld. „Ich war vorher Unsportler“, sagt Björn Eberhardt, 26, von Beruf Softwareentwickler. „Dann dachte ich mir, ich mache mal kurz Parkour, lade ein YouTube-Video hoch, ernte Fame und suche mir was Neues. Aber ich bin bei diesem Sport hängengeblieben. Es gibt kein Fertig.“ Der Nerd der Gruppe springt inzwischen als Coach der Fortgeschrittenen auf den alten Güterbahnhofmauern in schwindelerregenden Höhen herum.

Mats Dammann, 11, auf dem Spielplatz Wrangelstraße. Er gilt als Hamburgs Vorzeigetalent
Mats Dammann, 11, auf dem Spielplatz Wrangelstraße. Er gilt als Hamburgs Vorzeigetalent © Andreas Laible | Andreas Laible

Ein anderer, bei dem es irre aussieht, ist Mats Dammann, 11, Hamburgs Vorzeigetalent. In Wedel in der Sporthalle Bekstraße hilft er sogar schon als Coach des Nandu e.V. mit. Mats war früher Trampolinspringer, das hilft ihm jetzt. Der Junge mit der Wollmütze setzt aus dem Stand zu einem „Backflip“ (ein Rückwärtssalto) an und läuft in eine Mauerecke, um von dort einen „Sideflip“ (Seitwärtssalto) zu machen. Er führt auch mal kurz den „Katzensprung“ („Saut de chat“) vor, der einem Hocksprung beim Turnen ähnelt: Mats läuft auf eine Mauer zu, seine Arme schwingen auf das Hindernis zu, beide Beine werden gleichzeitig zur Brust gezogen und durch die Arme über das Hindernis geschwungen.

Mats sieht aus wie ein Tiger auf der Jagd. Eine weitere Technik mit einem Tiernamen ist der „Kranich“, ein Präzisionssprung mit einbeiniger Landung. Man sagt, dass Tiere und Urvölker schon immer Parkour betrieben hätten. Und Soldaten. Als Stammvater des in den späten 1980er Jahren aufgekommenen Sports gilt der in Vietnam geborene französische Soldat Raymond Belle (1939-99). Ursprünglich hatte er sich Fluchttechniken im Überlebenskampf überlegt. Sein Sohn David entwickelte Parkour für den urbanen Raum weiter.

Ist Parkour eine Männersportart?

Gibt es eigentlich auch Wettbewerbe? Kaum. Das sogenannte Parkouring – also schneller als andere von A nach B zu gelangen – ist nicht weit verbreitet. Darüber hinaus gibt es Events im „Free Running“, typischerweise gesponsert von Red Bull. „Free Running“ ist eine Abspaltung von Parkour. Dabei geht es mehr um Showelemente und Akrobatik und nicht um Effizienz. Einige reine Traceure lehnen „Free Running“ als Kommerz ab, andere machen beides.

Ist Parkour denn vor allem eine Männersportart? Die Frauenbeteiligung sei nicht in allen Städten so niedrig wie in Hamburg, sagen die Hamburger Organisatoren. In diesem Training sind nur die Mutter mit Sohn und ich dabei. Auch in Wedel im Verein hätten sie nur fünf Prozent Mädchen, schätzt der elfjährige Mats.

„Mädchen zieren sich wegen der Hände“, glaubt er: „Meine Hände sind komplett aus Hornhaut.“ Ob man nicht einfach Handschuhe anziehen könne? „Das ist nicht so gut. Man braucht das Gefühl in den Händen.“ Braucht man auch diese XXL-Schlabber-Jogginghosen, die hier jeder anhat? „Es geht schon auch um den Style“, gibt Mats zu, „aber damit haben unsere Bewegungen auch einen besseren Flow“. Aha.

Erste Parkour- und Free-Running-Halle

Die Hamburger Parkour-Community ist eine entspannte und offene. Man denkt über Vereinsgrenzen hinweg. Mit den Nandu-Fortgeschrittenen auf dem Geisterspielplatz fachsimpelt Felix Bornemann vom Parkour Creation e.V.. Der 25-Jährige hat sein Sportstudium abgeschlossen und will im Sommer zusammen mit Freunden Norddeutschlands erste Parkour- und Free-Running-Halle eröffnen. Schon am 11. und 12. März (im Lokstedter Steindamm 52) lädt der Parkour Creation e.V. zu „Gravity Sucks – Hamburg Parkour Jam“

Im Kreativquartier im Oberhafen sind sie eines von zwölf Projekten. Zum Pre-Opening kamen in vergangenen Jahr ungefähr 350 Leute. „Vor allem Kinder stehen total auf Parkour“, erzählt Bornemann. Mehrere Hamburger Schulen bieten inzwischen Parkour-AGs an. „Es ist eigentlich wie draußen zu toben. Das, was wir früher als Kinder noch gemacht haben“, meint er. „Und es ist reizvoller als das klassische Turnen mit Stecksprung. Es gibt keine Haltungsnoten, es ist viel freier.“

Nach drei Stunden ist das Training vorbei. Pardon, das „Public Meeting“. Was bleibt, ist der Muskelkater.

Informationen zu Trainingszeiten:

Team Nandu e. V.: www.teamnandu.com

Parkour-Halle im Oberhafen: www.diehalle.hamburg/