Hamburg. Premier Cameron, Kanzlerin Merkel und Bürgermeister Scholz sprachen sich in Hamburg für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aus.
Es ging auf 23 Uhr zu, als der britische Ehrengast des Matthiae-Mahls, Premierminister David Cameron, endlich das Wort ergriff. „Wir sind schon immer ein Land mit einer ausgestreckten Hand gewesen, und ich will niemals, dass wir die Zugbrücke schließen und uns zurückziehen. Ich möchte Großbritannien in einer reformierten EU halten“, sagte Cameron vor rund 400 Gästen. Es waren klare Sätze des Bekenntnisses zu Europa, auf die die meisten gewartet haben dürften.
Cameron verstand es, die Hamburger von Beginn an für sich einzunehmen. Er lobte den verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt („Man wird sich immer an seine Führungs- und Entscheidungskraft erinnern“), bestätigte die Hamburger Selbsteinschätzung, „die britischste Stadt Deutschland“ zu sein, und gab in Sachen Fußball artig klein bei: „Sie gaben uns Goethe, Händel und Weihnachtsbäume, wir gaben Ihnen Shakespeare, die Beatles und, sagen wir es ehrlich, zu viele Weltmeisterschaften.“
Zum Lachen brachte Cameron die illustre Gästeschar im Großen Festsaal des Rathauses auch, als er mit Blick auf den zweiten Ehrengast, die in Hamburg geborene Bundeskanzlerin Angela Merkel, bemerkte: „Als Angela zu mir sagte, sie wolle mich zum Abendessen einladen in ihrer Geburtsstadt, hatte ich keine Ahnung, dass sie sich solche Mühe geben würde.“
Scholz mit Appell für Verbleib Großbritanniens in der EU
Im Zentrum seiner Rede stand aber die Zukunft Europas. Der gemeinsame Glaube an das Unternehmertum lasse Deutschland und Großbritannien in der EU oft zusammenhalten, um etwa Bürokratie und Handelshemmnisse abzubauen. Das sei auch jetzt nötig, wenn es darum gehe, ein „wettbewerbsfähigeres und dynamischeres Europa“ zu konstruieren. Er sei sicher, dass die Sorgen der Briten in dieser Hinsicht in Europa gehört würden und zu Reformen führen werden – möglicherweise schon beim EU-Gipfel kommende Woche in Brüssel. Wenn ein Durchbruch gelinge, werde er seinen Landsleuten, die er per Referendum befragen will, den Verbleib in der EU empfehlen.
Zuvor hatte Bürgermeister Olaf Scholz mit seiner Rede dem hohen Gast aus London das Herz schon gewärmt: Mit einem eindringlichen Plädoyer für die britischen Werte und einem Appell für Großbritanniens Verbleib in der EU hatte Scholz (SPD) am Freitagabend das Matthiae-Mahl eröffnet. „Europa würde es sehr gut tun, etwas britischer zu werden“, sagte Scholz zu Cameron, der wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als Ehrengast zum ältesten Festmahl der Welt geladen war.
Scholz betonte vor allem die Bedeutung der EU als Friedensprojekt, das ohne die Briten nicht denkbar sei: „Die friedliche Kooperation der Völker Europas ist die wichtigste Perspektive für unseren Kontinent“, sagte der Bürgermeister. Dabei sei die EU abhängig von einer effektiven Außen- und Sicherheitspolitik, und für diese sei Großbritannien „nicht zu ersetzen“. Ähnlich verhalte es sich in ökonomischer Hinsicht, so Scholz: „Europa braucht weltweites Gewicht. Wir wollen und können auf London nicht verzichten.“
„Wir vermissen ihn schmerzlich“
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Zwischengang gegen 21.30 Uhr das Wort ergriff, schlug sie einen Bogen über die letzten Krisen hin zu den aktuellen Fragen des Bündnisses. Und Merkel zeigte sich optimistisch, dass sich wie bei der Staatsschuldenkrise auch beim Thema Flüchtlinge „gemeinsame Lösungen finden“ ließen. Unter Beifall erinnerte die CDU-Politikerin daran, dass es Zeiten in Europa gegeben habe, in denen die Grenzen undurchlässig waren. Die Frage, ob diese Zeiten besser gewesen seien, beantwortete Merkel klar: „Nein.“
Das sind die Gäste beim Matthiae-Mahl
Für Lacher im Großen Festsaal sorgte die Kanzlerin, als sie Olaf Scholz als „Oberbürgermeister“ ansprach, sich aber sofort korrigierte. Es sei eine „besondere Ehre“ für sie, so Merkel, dass sie bereits zum zweiten Mal Ehrengast des Matthiae-Mahls sei. Und die Kanzlerin erinnerte an den 2015 verstorbenen Altbundeskanzler Helmut Schmidt („Wir vermissen ihn schmerzlich“), der viermal Ehrengast war.
Auch Merkel betonte, dass die Briten in der EU bleiben müssen. „Ich wünsche mir, dass das Vereinigte Königreich auch in Zukunft ein aktives Mitglied in einer erfolgreichen Europäischen Union ist und bleibt“, sagte sie. „Wir haben uns noch immer geeinigt“, betonte die Kanzlerin und fügte hinzu, sie sei optimistisch, dass es auch in diesem Fall gelingen werde. Scholz hatte das Zusammentreffen von Merkel und Cameron beim Matthiae-Mahl – das traditionell erst Ende Februar stattfindet – bewusst so arrangiert und terminiert. Denn in einer Woche treffen sich in Brüssel die EU-Regierungschefs und beraten darüber, mit welchen Zugeständnissen die Briten zum Verbleib in der Gemeinschaft bewegt werden können. Ohne Entgegenkommen, so wird befürchtet, könnten die Bürger auf der Insel in einem Referendum für den Austritt („Brexit“) aus der EU stimmen.
Hamburg, das Tor zur Welt
Und Merkel spendierte ein kräftiges Lob für Olaf Scholz – wenngleich indirekt. „Dass wir über die Zukunft Europas in einer Stadt reden, die das Tor zur Welt ist, ist ein gutes Omen für die kommende Woche“, sagte Merkel.
In seiner Rede am Freitagabend zeigte Scholz Verständnis für die britische Haltung, Forderungen für den Verbleib in der EU an Europa zu richten. „Europa muss demokratischer werden, flexibler, und zugleich auch mal Kompetenzen an die Regionen zurückgeben. Für diese Reformen und ein starkes Europa brauchen wir das Vereinigte Königreich.“
Seinen eigenen Vorschlag für ein Entgegenkommen an die Briten eröffnete der Bürgermeister mit einer Erinnerung an die Beatles: „Im August 1960 kamen vier junge Briten aus Liverpool nach Hamburg“, erinnerte Scholz. „Insgesamt 503 Stunden standen sie hier auf der Bühne. Nach drei Monaten wurden George Harrison und Paul McCartney ausgewiesen – wegen formaler Kleinigkeiten.“ Das, so seine Botschaft, sei heute nicht mehr denkbar: „Kein Brite wird heute mehr aus Hamburg ausgewiesen, auch kein anderer EU-Bürger, der hier arbeitet.“ Der Hinweis auf die Beatles sorgte für Heiterkeit unter den 400 Gästen.
Auszug aus der Gästeliste des Matthiae-Mahls
Zwar würden in ganz Europa die Unternehmen sowie 200 Millionen Arbeitnehmer von der Freizügigkeit profitieren. Aber, so der Bürgermeister: „Man muss offen ansprechen, dass dabei nicht nur die begehrten Facharbeiter kommen, sondern auch Arbeitslose und Familien, die Unterstützung benötigen. An vielen Stellen hat das Probleme geschaffen.“ Das habe David Cameron sehr deutlich formuliert.
Scholz vergleicht EU-Referendum mit Wembley
Während David Camerons Forderung an die EU lautet, dass Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten grundsätzlich erst nach einer vierjährigen Wartefrist Anspruch auf Sozialleistungen haben sollen, schlägt Scholz – wie berichtet – vor, den Anspruch auf Sozialleistungen an geleistete Arbeit zu koppeln. Demnach sollen EU-Bürger außerhalb ihres Heimatlandes erst dann Anspruch auf Unterstützung haben, wenn sie ein Jahr lang voll gearbeitet und dabei den Mindestlohn erhalten haben.
Ob sich die europamüden Briten von diesem oder einem anderen Vorschlag überzeugen lassen, hänge nun von deren Pragmatismus, Kompromissfähigkeit und Mut ab, so Scholz: „Um es mit einer wichtigen Begegnung zwischen Deutschland und England zu sagen, im Jahre 1966, in Wembley: Das Spiel läuft, der Ball fliegt in Richtung Tor. Diesmal werden ganz allein die Briten entscheiden, wie es ausgeht: Ob der Ball drin ist oder nicht. Und dieses Mal hoffen wir alle, dass die Entscheidung lautet: In! “ Das kam gut an – nicht zuletzt beim Ehrenbürger Uwe Seeler, der selbst beim WM-Finale in Wembley 1966 dabei war.
Vertrautes Gespräch zwischen Merkel und Cameron
Cameron war erst um 18 Uhr mit einer britischen Regierungsmaschine aus London in Hamburg gelandet. Kurz zuvor war auch Angela Merkel aus Berlin kommend in Fuhlsbüttel angekommen. Anschließend ging es für beide Regierungschefs jeweils im Auto-Konvoi mit Blaulicht und Motorradeskorte zum Rathaus. Nach der Eintragung ins Goldene Buch der Stadt kam der Moment, der möglicherweise der wichtigste des ganzen Abends war. Eine knappe Stunde Zeit hatten die deutsche Kanzlerin und der britische Premier, um sich im vertraulichen Gespräch für den EU-Gipfel abzustimmen. Dabei können Kompromisslinien ausgelotet und Gesprächslinien festgelegt werden. Es wird voraussichtlich die letzte Möglichkeit des direkten Austauschs vor dem Brüsseler Gipfel gewesen sein.
Für Merkel und Cameron war es nur eine Stippvisite in Hamburg. Für 23.45 Uhr war der Start der britischen Regierungsmaschine zurück nach London geplant. Kurz darauf sollte auch Merkel zurückfliegen. In wenigen Tagen wird sich zeigen, was das Zusammentreffen der beiden Regierungschefs im Hamburger Rathaus gebracht hat.